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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2271. Wien, Donnerstag, den 22. December 1870

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Die Beethoven-Feier in Wien.


0002Ed. H. Ein alter Musikschriftsteller (Nägeli) verlangt,
0003es solle nie Jemand über Sebastian Bach sprechen, ohne
0004vorauszuschicken, daß Alles, was er sagen werde, nicht der
0005tausendste Theil von dem ist, was eigentlich zu sagen wäre.
0006Wie viel mehr gilt dies noch von Beethoven, welcher ein
0007so viel größeres Reich von Stimmungen und Gedanken be-
0008herrscht und als ein Kind unserer Zeit mit allen Fäden
0009unseres Gefühlslebens aufs innigste zusammenhängt! Es
0010ist wenig über vierzig Jahre her, seit Beethoven die Augen
0011schloß; noch leben viele Männer in unserer Mitte, die sich
0012des seltsamen Spaziergängers erinnern, der, nicht rechts, nicht
0013links blickend, durch die Straßen Wiens stürmte und dem das
0014Volk doch ehrerbietig Platz machte, weil es mit seinem Namen
0015unbewußt die Vorstellung von etwas Großem und Hohem ver-
0016band. Und schon füllt, was über Beethoven geschrieben wurde,
0017eine eigene kleine Bibliothek, eine kleine Bibliothek, die im
0018Laufe der letzten Monate erstaunlich angewachsen ist. In
0019Büchern und Broschüren wird uns neuerdings das Leben und
0020Schaffen des großen Tondichters vergegenwärtigt; die Zahl
0021der Journal-Artikel, welche, vom aufgewärmten Anekdoten-
0022Kohl bis hinauf zur philosophischen Untersuchung, Beethoven 
0023feiern, geht in die Hunderte. Diese Zahl noch zu vermehren,
0024den mit Beethoven-Artikeln vollauf gesättigten Leser zu neuer
0025Zubereitung desselben Stoffes zu nöthigen, dazu findet nicht
0026Jedermann den Muth. Mitten drin im Festgewühle einer
0027großartigen Beethoven-Feier gewinnt man überdies am schwer-
0028sten die ruhige Sammlung und Stetigkeit für ein sauber aus-
0029geführtes Beethoven-Bild, an dem nicht der breite Heiligen-
0030schein die Hauptsache wäre. Ja derlei Monstrefeste sind nicht
0031einmal der unbefangenen Aufnahme des einzelnen Kunstwerkes
0032recht günstig; der festliche Apparat erhöht unsere Stimmung,
0033aber er zerstreut unsere Aufmerksamkeit. Zunächst die 
0034Aeußerlichkeiten: die ungewohnte Beleuchtung, das geputzte
0035Publicum, die Festflaggen und lorbeerbekränzten Büsten,
0036die Prologe und Festspiele. Sodann auch die unleugbare
0037innere Pression, die wir empfinden, indem unsere Gedanken
0038fortwährend nachdrücklich von dem Kunstwerke auf dessen
0039großen Autor abgelenkt werden. Nicht wie sonst, um eine
0040Tondichtung zu genießen, sondern um ihren Schöpfer zu
0041feiern, sehen wir Tausende versammelt und sammeln uns zu
0042ihnen. Wie die neue colossale Büste im Musikvereinssaale hoch
0043das ganze Orchester überragt, alle Blicke zu sich emporzwin-
0044gend, so durchkreuzt der übermächtig gewordene Gedanke an
0045den mit Wien so eng verwachsenen theuren Meister die leise,
0046innige Zwiesprache mit seinen Werken. Es ist die erhabenste
0047Zerstreuung, wenn wir bei Beethoven’s Musik immer wieder
0048an seine Person denken müssen, aber doch eine Zerstreuung.
0049Am stärksten empfanden wir das bei der Festvorstellung des
0050Fidelio“ am 16. December, Abends. So glänzend sie durch-
0051geführt und ausgestattet war, sie brachte uns nicht jenen gan-
0052zen, vollen Eindruck, und wir brachten ihr nicht jene unbe-
0053fangene Hingebung wie sonst, wenn „Fidelio“ zu kleinen Prei-
0054sen und großem Vergnügen einer Hörerschaft gegeben wird,
0055welche kaum die Hälfte des Hauses füllt, aber selber ganz er-
0056füllt ist von dem dargestellten Werke. Allegorische Festspiele
0057mit einer kranzaufsetzenden Muse als Mittelpunkt sind meistens
0058schon im Keim abgedroschene Gewächse. Je größer unsere
0059Abneigung dagegen, desto größer muß auch die Anerkennung
0060sein für die ungemeine Gewandtheit, welche Mosenthal 
0061hier, wie so oft schon, als Gelegenheitsdichter bewährt hat.
0062Die Sänger schienen sämmtlich an diesem Festabende ihre
0063Leistungsfähigkeit aufs Höchste anzuspannen: am auffallendsten
0064Frau Dustmann, die hinreißende Darstellerin des Fidelio,
0065welche von der Bedeutung des Tages sichtlich ergriffen und
0066aufgeregt war. Ihr ebenbürtig stand nur Herr Beck als
0067Pizarro; jede andere Stimme zerbröckelt in dieser Arie unter
0068dem Tumulte des Orchesters. Mit sichtlicher Anstrengung sang
0069Herr Walter den Florestan; er hat trotz eines quälenden
0070Unwohlseins die Beethoven-Feier an drei Festtagen mit auf-
0071opferndem Eifer rühmlich tragen geholfen. Unser verdienter
0072Veteran Draxler war überraschend gut bei Stimme und
0073wie immer ein musterhafter Rocco. Fräulein Tellheim 
0074hat die Marcelline leider mehr tremolirt als gesungen —
0075sollen wir es auch der Festaufregung zuschreiben? Den stür-
0076mischesten Applaus gewann an dem Abende das von Herrn
0077Dessoff dirigirte Orchester nach der unvergleichlichen Aus-
0078führung der großen „Leonore“-Ouvertüre in C-dur. Daß man
0079den „Fidelio“ genau so gab wie bisher, kann natürlich keinen
0080Einwurf erfahren; allein von hohem Interesse wäre es doch
0081gewesen, hätte man die Festvorstellung mit einigen jener Num-
0082mern geschmückt, welche Beethoven für die erste Aufführung
0083(1805) schrieb und die später gestrichen, nie wieder in Wien 
0084gehört worden sind.*)


0089Vor „Fidelio“ hat keine Oper die tiefsten Herzenstöne
0090so wahr und gewaltig angeschlagen; vor „Fidelio“ trug auch
0091keine Oper großen Styles entschieden und unvermischt deut-
0092schen Charakter. Nur wer die Partituren von Gluck’s Vor-
0093gängern in Paris nicht kennt, kann die überwiegend franzö-
0094sische Haltung und Ausdrucksweise in seinen größten Opern
0095leugnen. In Mozart’s Opern halten sich italienische und
0096deutsche Elemente die Wage. Nur die „Zauberflöte“ (die
0097übrigens das in idealere Sphäre gehobene „romantisch-komische
0098Zauberspiel“ jener Zeit ist) trägt, abgesehen von den Arien
0099der Königin der Nacht, ausgesprochen deutsches Gepräge. In
0100seinen übrigen Opern spricht Mozart das schönste Italienisch,
0101das je ein Tondichter gesprochen; er ist, auf den Charakter
0102seiner Opernmusik angesehen, der letzte, größte Italiener in
0103dem Sinne, in welchem uns Palestrina der letzte, größte
0104der Niederländer ist. Das bezeichnet keinen Abstand
0105des Ranges, sondern nur eine Verschiedenheit des Typus.
0106Specifisch deutscher Charakter erscheint in der Oper vollstän-
0107dig erst in Beethoven’s „Fidelio“. Die fortzeugende Kraft [2]
0108dieses Werkes war außerordentlich, wenn sie sich auch nicht
0109gleich zeigte. „Fidelio“ blieb lange gänzlich isolirt; er ist zwi-
0110schen Mozart’s „Zauberflöte“ (1791) und Weber’s „Frei-
0111schütz“ (1821), also in einer Periode von dreißig Jahren,
0112das einzige geniale Werk von bleibender Bedeutung, welches
0113die deutsche Oper hervorgebracht hat. Das bis zur Schroff-
0114heit kräftige Deutsch, welches Beethoven im „Fidelio“ spricht,
0115hat Weber in seinem „Freischütz“ zu holdem Liebreiz gemil-
0116dert und mit neuen, romantischen Zauberklängen bereichert.
0117Weber war durchaus originell; spürt man aber nach der letz-
0118ten, ihm selbst verborgen gebliebenen Wurzel seines Opern-
0119styles, so ist sie doch nur „Fidelio“, ähnlich wie die „Zauber-
0120flöte“ die versteckte Wurzel der in ihrer Art gleichfalls origi-
0121nellen Spohr’schen Opern ist. Aus der „Zauberflöte“ und
0122Fidelio“ erwuchs unser eigentlicher nationaler Opernstyl,
0123die „deutsche Oper“ im strengeren Sinne. Der Einfluß des
0124Fidelio“ auf das spätere Opernwesen ist kaum noch vollstän-
0125dig gewürdigt und aufgezeigt worden; wahrscheinlich weil er
0126spät zu Tage kam und sofort weit überragt wurde durch den
0127Einfluß der Instrumental-Musik Beethoven’s auf die
0128gesammte deutsche Tonkunst. Wir feiern Beethoven als den
0129größten Instrumental-Componisten, wir feiern in ihm eigent-
0130lich den großen Instrumental-Componisten auch in seinen Vocal-
0131schöpfungen, wie „Fidelio“, die Festmesse, die Neunte Symphonie.
0132Wie viel fremder, gleichgiltiger ihm der Gesang war, kün-
0133digt sich schon im „Fidelio“ an, in der aufreibenden Arie
0134Pizarro’s, in dem gesungenen Nach-Luft-schnappen des Flore-
0135stan, in dem zweiten Finale. Die Rücksichtslosigkeit gegen die
0136menschliche Stimme schritt in seinen späteren Werken zur
0137vollständigen Mißhandlung derselben weiter. Der Vocalsatz
0138in den genannten Werken ist nicht etwa blos „schwer zu sin-
0139gen“, er ist geradezu instrumental gedacht, gesangswidrig.
0140Für diese Atrocitäten kann die Genialität des Gedankens ent-
0141schädigen und entschuldigen, niemals sollte sie zur Rechtferti-
0142gung oder gar Verherrlichung derselben benützt werden. In
0143diesem Punkte auf Mozart zurückzugehen, heißt fortschreiten. 
0144Mozart, die weniger titanische, innerlich weniger aufgewühlte
0145und aufwühlende Natur, der einer älteren Bildungsepoche an-
0146gehörende Künstler, steht unserem Herzen ferner als Beetho-
0147ven. Aber selbst der Festrausch dieser Tage entschuldigt nicht
0148die kindische Unterschätzung, mit welcher Mozart von vielen
0149Rednern und Schriftstellern behandelt wird. Wir haben es
0150stets als Erkennungszeichen eines guten Musikers erprobt,
0151jene Eigenschaften Mozart’s zu erkennen und zu empfinden,
0152die ihm einen Platz neben Beethoven sichern.


0153Das Programm des Beethoven-Festes führte als leitende
0154Idee die Vertretung des Meisters in jeder musikalischen Kunst-
0155gattung mit glücklicher Wahl durch. Als dramatischer 
0156Componist trat uns Beethoven in seiner einzigen Oper
0157Fidelio“ und in der nicht minder dramatischen, nicht weni-
0158ger wundervollen Begleitungsmusik zu Goethe’s „Egmont“
0159entgegen. Aus seiner geistlichen Musik war die große
0160D-Messe, aus seinen Symphonien die Neunte gewählt; von
0161den selbstständigen Ouvertüren hörten wir die beiden in
0162C-dur: op. 115, componirt zum Namenstage des Kaisers
0163Franz (im Jahre 1814), und op. 124 zur feierlichen Er-
0164öffnung des Josephstädter Theaters in Wien (1822). Für
0165die Wahl beider Stücke sprach ihr ausgeprägter Festcharakter,
0166an die „Coriolan“-Ouvertüre reichen sie nicht entfernt. Von
0167den Clavier-Concerten war das in Es-dur (op. 73) dem Fest-
0168programme einverleibt; in dem unmittelbar vorhergegangenen
0169Philharmonischen und Gesellschafts-Concerte hatte man das
0170G-dur- und das C-moll-Concert gespielt. So waren von
0171Beethoven’s fünf Clavier-Concerten nach einander die drei
0172schönsten durch drei vortreffliche Pianisten (Epstein,
0173Labor und Door) zur Aufführung gebracht. Aus Beetho-
0174ven’s Kammermusiken hörten wir das B-dur-Trio und das
0175Cis-moll-Quartett; aus seinen Liedern: „Bußlied“, „Mai-
0176lied“, „Neue Liebe“ und den Cyklus: „An die entfernte Ge-
0177liebte“. Gegen diese Auswahl ist nichts einzuwenden, als die
0178Abwesenheit der „Adelaide“, ohne welche Beethoven als Lie-
0179der-Componist unseres Erachtens nicht zu repräsentiren ist. 
0180Unvertreten blieb nur die Sonate. Die das gesammte Fest-
0181programm bildenden Compositionen gehörten fast zu gleichen
0182Theilen der zweiten und der dritten Stylperiode Beet-
0183hoven’s an; die erste blieb gänzlich unberücksichtigt, was im
0184Interesse charakterisirender Vollständigkeit zu bedauern, jedoch
0185mit der allgemeinen Verbreitung dieser Werke zu entschul-
0186digen ist.


0187Wirft man einen Rückblick auf die drei Festconcerte, so
0188wird man gewiß den von Joseph Weilen gedichteten, von
0189Lewinsky gesprochenen Prolog nicht übersehen, der am Ein-
0190gang derselben poetische Wacht hielt. Ein Gedicht von würdiger
0191Haltung und klangvollem Vers, schön abschließend mit der
0192Deutung der „Freudenhymne“ und damit hinüberleitend zur
0193Aufführung der Neunten Symphonie selbst. Diese Aufführung
0194war bewunderungswürdig; niemals ist uns das polyphone
0195Gewebe des ersten Satzes klarer, die funkensprühende Rhythmik
0196des Scherzo glänzender, die Wucht des Schlußchors mächtiger
0197erschienen. Das Vocalquartett (Wilt, Bettelheim,
0198Labatt und Schmid) verdient des Lobes die Fülle, wenn-
0199gleich man das Baß-Recitativ schwungvoller, energischer wünschen
0200mochte, als Herr Schmid es vortrug. Capellmeister Dessoff,
0201dem wir die Glanzpunkte des Beethoven-Festes verdanken, hat
0202am 16. und 17. wahre Ehrentage gefeiert.


0203Das Finale der Neunten Symphonie rief uns eine charak-
0204teristische Stelle aus Wagner’s neuer Beethoven-Broschüre ins
0205Gedächtniß. Richard Wagner bewundert nämlich ganz be-
0206sonders, daß Beethoven in der Composition des (anfangs un-
0207veränderten) Schiller’schen Verses: „Was die Mode streng
0208getheilt“ plötzlich das Wort „streng“ für seinen zürnenden
0209Ausdruck nicht genügend fand und statt dessen aus eigener
0210Machtvollkommenheit „frech“ hinsetzte. Wirklich steht in der
0211bei Schott gestochenen Original-Partitur im 36. Tact vom
0212Allegro, ma non tanto „frech“ statt „streng“. „Kann etwas
0213sprechender sein,“ ruft Wagner aus, „als dieser merkwürdige,
0214bis zur Leidenschaftlichkeit heftige, künstlerische Vor-
0215gang
? Wir glauben Luther in seinem Zorne gegen den Papst [3]
0216vor uns zu sehen!“ Und nun regnet es Scheltworte gegen den
0217die Härtel’sche Beethoven-Ausgabe redigirenden „Mäßigkeits-
0218verein“, welcher diesen so sprechenden Zug getilgt und
0219für Beethoven’s „frech“ das „wohlanständige, sittig-
0220mäßige „streng“ eigenmächtig hingestellt hat“.
0221Wagner nennt das „eine Fälschung, die wohl geeignet ist,
0222uns mit schauerlichen Ahnungen über das Schicksal der
0223Werke unseres großen Beethoven zu erfüllen“. Diese schauer-
0224lichen Ahnungen und den ganzen heiligen Zorn würde sich
0225Wagner erspart haben, hätte er seine längeren Besuche in
0226Wien dazu benützt, sich einmal das Autograph dieses
0227Beethoven’schen Freudenhymnus anzusehen, dessen Einsicht der
0228Eigenthümer Herr Artaria mit rühmlicher Gefälligkeit ge-
0229stattet. Ein Blick in dieses Autograph belehrt uns, daß
0230Beethoven in jenem 36. Tact thatsächlich „streng“ (wie in
0231den früheren Strophen) und keineswegs „frech“ geschrieben
0232hat. Der von Wagner so sehr bewunderte „künstlerische Vor-
0233gang“ ist somit nichts weiter als der Irrthum eines schlechten
0234Copisten. Wer die wüste Handschrift Beethoven’s kennt, weiß,
0235wie leicht seine g am Ende eines Wortes die Form von ch
0236annehmen; wer Beethoven’s Charakter kennt und seine Pietät
0237für Schiller, der mußte von vornherein den größten Zweifel
0238gegen dieses vereinzelte „frech“ hegen und eher zehn Schreib-
0239fehler als eine von Beethoven willkürlich vorgenommene „Ver-
0240besserung“ Schiller’s vermuthen. Hat man doch überdies
0241längst die Erfahrung, daß Beethoven im Niederschreiben der
0242Textworte oft flüchtig und ungenau verfuhr. Eines der
0243drolligsten Beispiele enthält der Schlußchor aus der Cantate:
0244Der glorreiche Augenblick“, dessen Anfangsworte in Beetho-
0245ven’s Handschrift regelmäßig lauten: „Vindobona, dir und
0246Glück, dir und Glück“ anstatt „Heil und Glück“. Eine andere
0247Curiosität ist die Aufschrift „Scherzando“ über dem 23. Tact
0248von Beethoven’s so tief andächtigem „Vitam venturi“ in der
0249großen Festmesse, während es offenbar „Sforzando“ heißen
0250muß. Wollte man die Richtigstellung dieser zwei Schreibfehler
0251mit Wagner auch als „eigenmächtige Fälschung“ brandmarken, 
0252so wäre das wol eher frech als streng. Der Leser wolle
0253uns diese kleine Excursion zugute halten; sie ist nicht un-
0254wichtig, noch unzeitgemäß, liefert sie uns doch aus Beethoven’s
0255eigener Handschrift den Beweis, daß der Meister keines-
0256wegs die Sucht Wagner’s getheilt hat, in Kleinigkeiten groß
0257zu sein.


0258Die Aufführung der Missa solemnis im zweiten Fest-
0259concerte war eine durchaus würdige, wenngleich sie an geist-
0260voller Ausarbeitung der Details, an Sicherheit und Klarheit
0261im Vortrag der Chöre keineswegs die letzte Herbeck’sche
0262Aufführung erreichte. Um so glänzender hob sich das Solo-
0263quartett ab; es werden sich selten vier so klangvolle, geschulte
0264Stimmen, vier so musikalisch feste Sänger zusammenfinden,
0265wie Frau Wilt, Frau Gomperz-Bettelheim, Herr
0266Walter und Herr Rokitansky. Obwol Keiner hinter
0267dem Anderen zurückstand an künstlerischem Eifer, verdient doch
0268Frau Wilt ob ihrer außerordentlichen Leistung in der
0269Neunten Symphonie und der Festmesse noch ganz eigens bedankt
0270und gepriesen zu werden. Keine zweite Sängerin dürfte es da
0271mit der Wilt aufnehmen, an Kraft und Ausdauer der
0272Stimme, sicherer Bewältigung der höchsten Schwierigkeiten
0273und stylvoller Würde des Vortrages. Die Festmesse, diese
0274nicht sowol kirchliche als im höchsten Sinne heilige Ton-
0275dichtung, machte einen tiefen Eindruck. Den tiefsten wol im
0276Schlußsatz, wo dem Ruf der Kriegstrompete das immer
0277dringendere, immer heißere Flehen antwortet: „Gib uns
0278Frieden!“ In diesen blutgetränkten Tagen drang Beethoven’s
0279Gebet um Frieden tiefer als sonst in die Herzen, sein Wider-
0280hall trat wie eigenes stilles Gebet auf die ernsten Züge der
0281Versammelten.


0282Das dritte Festconcert gehörte ausschließlich der Kammer-
0283musik und dem Liede. Nur ein wahrer Liebling, ein unverges-
0284sener unvergeßlicher, kann so empfangen werden, wie Caro-
0285line Bettelheim
(derzeit Frau Gomperz) von dem Publi-
0286cum empfangen wurde. Mit unverändert jugendfrischer
0287Stimme und Empfindung sang sie die früher genannten Lie-
0288der, zu welchen Herr Walter mit dem „Liederkreis an die
0289Geliebte“ ein schönes Seitenstück gab. Das B-dur-Trio fand
0290in den Herren Epstein, Grün, Popper, das Cis-moll-
0291Quartett in den beiden Hellmesberger, Popper und
0292Bachrich bewährte Spieler. Nachdem unsere wackeren ein-
0293heimischen Musiker in der Festwoche ohnehin vollauf beschäf-
0294tigt waren, konnte man mit Recht bedauern, daß zur Aus-
0295führung des Cis-moll-Quartettes nicht der weit überlegene
0296„Florentiner“ Quartett-Verein von Jean Becker aufgefordert
0297worden war. Trotz guter Auswahl und Ausführung ist es
0298begreiflich, daß der dritte Concerttag gegen die beiden früheren
0299abfiel. Ein „Festconcert“ in so großem Saale — ohne Or-
0300chester! Mindestens zwei kurze Orchesterstücke (am besten die
0301Ouvertüren zu „Coriolan“ und „Prometheus“) hätten dieses
0302Concert eröffnen und schließen sollen, welches in jedem Falle
0303den Platz zwischen den beiden großen Festconcerten ein-
0304zunehmen hatte. Dann wäre zwischen den überwältigenden Ein-
0305drücken der Neunten Symphonie und der Großen Messe allenfalls
0306als willkommener Ruhepunkt erschienen, was jetzt als schwa-
0307cher und schwach besuchter Festschluß abfiel. Als theatralischer
0308Epilog der Beethoven-Feier folgte noch am 19. d. M. die
0309Aufführung von Goethes „Egmont“, mit Beethoven’s
0310Musik, welche unter Herbeck’s Leitung bewunderungswürdig
0311gespielt wurde. Die Eröffnung der Beethoven-Feier mit „Fi-
0312delio
“, ihr Abschluß mit „Egmont“ zeugt von sehr richtiger
0313Einsicht; alle Welt war durch die vorhergehenden Concerte
0314musikalisch so vollauf gesättigt, daß man das gesprochene
0315Drama, die goldenen Worte unseres größten Dichters, als
0316eine Wohlthat empfand, und in diesem Zusammenhang auch
0317wieder die rechte Empfänglichkeit gewann für Beethoven’s
0318herrliche, von der Dichtung nicht mehr loszutrennende Musik.
0319Wien darf befriedigt und gehoben, nicht ohne gerechten Stolz
0320auf das großartige Fest zurückblicken, welches, durch keine
0321Störung getrübt, das Andenken Beethoven’s in ebenso
0322glänzender als würdiger Weise feierte.

Fußnoten
  • *)Terzett (Marcelline, Jacquino, Rocco): „Ein Mann ist
    bald genommen“; Duett (Marcelline, Leonore) mit Violin-Solo und
    obligatem Violoncell: „Um in der Ehe froh zu leben“; Arie des
    Pizarro: „Auf euch nur will ich bauen“.