Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2263. Wien, Mittwoch, den 14. December 1870
[1]Zum Beethoven-Jubiläum.
(Fest- und Gelegenheitsschriften. Neue Editionen. Richard Wagner’s „Beethoven“.)
0003Ed. H. Die Kriegsereignisse dieses Sommers, welche die
0004Vorbereitungen zur Beethoven-Feier theils gesprengt, theils
0005zurückgedrängt hatten, schienen auch die erwarteten literarischen
0006und musikalischen Festgaben vereiteln zu wollen. Da taucht
0007jetzt, gerade noch zu rechter Stunde, mit Einem Schlag eine
0008Anzahl solcher Jubiläumsspenden auf, welche die Aufmerksam-
0009keit des Publicums verdienen. Wir wollen nicht von der
0010großen vollständigen Beethoven-Ausgabe von Breitkopf und
0011Härtel sprechen, einem monumentalen Unternehmen, dessen
0012anerkannter Ruhm keiner journalistischen Nachhilfe bedarf.
0013Noch mehr ins Volk gedrungen ist die äußerst billige, dabei
0014bequeme und correcte Ausgabe, welche C. F. Peters in
0015Leipzig veranstaltet hat. Für ein wahres Spottgeld erhält
0016man in dieser netten, handlichen Edition Beethoven’s sämmt-
0017liche Ouvertüren, Sonaten, Symphonien, den „Fidelio“, die
0018„Egmont“-Musik u. s. w. zwei- und vierhändig; unter diesem
0019Peters’schen „grünen Umschlag“ wird Beethoven bis ins letzte
0020Haus dringen. Die Clavier-Sonaten Beethoven’s hat Ferdi-
0021nand Hiller neu redigirt, und zwar aus einem besonderen
0022praktischen Gesichtspunkt: dem der Clavier-Pädagogik. Er
0023reiht nämlich diese 32 Sonaten nach der Schwierigkeit ihrer
0024Ausführung für den Spieler, und da dieser stufenweise Fort-
0025gang vom leichtesten Handstück bis zur höchsten Virtuosen-
0026Aufgabe dem Herausgeber vorzüglich gelungen ist, so wird
0027seine Sonaten-Ausgabe für den Zweck systematischen Clavier-
0028Unterrichts sich ohne Zweifel einbürgern. Hiller hat ein län-
0029geres Vorwort in der ihm eigenthümlichen klaren und an-
0030muthigen Weise dazu geschrieben.
0031Die Reihe der literarischen Festgaben hat, allerdings mit
0032einem kleinen Beitrag, C. F. Pohl in Wien eröffnet, indem
0033er den kürzlich erschienenen Jahresbericht des Conservatoriums
0034mit lobenswerthem Tact durch einen Aufsatz über Beetho-
0035ven einleitet. Hauptinhalt desselben sind die Aufschreibungen
0036Karl Czerny’s über seinen persönlichen Verkehr mit Beetho-
0037ven, welcher bekanntlich unsern Czerny als Künstler und Men-
0038schen hochschätzte. Durch ihren Inhalt, wie durch ihren be-
0039scheidenen, schmucklosen Vortrag wirken diese Mittheilungen an-
0040ziehend. Auffallend, ja unerklärlich sind darin nur einige
0041chronologische Widersprüche.*)
Hier wie anderwärts scheint
0051Czerny’s Gedächtniß, auf welches er nach Jahren sich noch
0052vollständig verließ, ihm doch einen kleinen Streich gespielt zu
0053haben. Diese Widersprüche wird wol am besten der zweite
0054Band von Alexander Thayer’s, „Beethoven-Biographie“ lösen,
0055dessen Erscheinen wir mit Ungeduld erwarten. Außerdem steht
0056noch eine werthvolle Studiensammlung von Nottebohm
0057(„Beethoveniana“) zu erwarten.
0058Eine vollkommene, den historischen und den ästhetischen
0059Inhalt gleichmäßig in großem Styl behandelnde Beethoven-
0060Biographie fehlt noch immer — eine Lücke, welche uns den frü-
0061hen Tod Otto Jahn’s doppelt schmerzlich empfinden läßt.
0062Thayer’s Werk, das an urkundlicher Genauigkeit und Voll-
0063ständigkeit gewiß jeden Concurrenten schlagen wird, steht noch
0064fern von seinem Abschluß, dürfte auch durch seine Ausführ-
0065lichkeit sich kaum für einen großen Leserkreis eignen. Umso-
0066mehr mußte sich gerade jetzt das Bedürfniß nach einer ge-
0067drängten Beethoven-Biographie geltend machen, welche das
0068große Publicum orientirt und anregt. Zwei solche biogra-
0069phische Skizzen liegen uns vor: die erste von La Mara
0070(Leipzig bei Weißbach), die bereits Thayer’s Forschungen
0071vollständig benützt, die andere von C. F. Jahn (Elbing bei
0072Hartmann), welche außer der Biographie Beethoven’s und
0073dem Verzeichniß seiner Werke noch dessen Porträt, Geburts-
0074haus, Grab und Monument in sauberen Abbildungen enthält.
0075Joseph Schlüter hatte die gute Idee, Beethoven auch mit
0076seinen eigenen Worten zu uns sprechen und gleichsam sein
0077Leben selbst erzählen zu lassen. Es geschicht dies in einer
0078Auswahl „Aus Beethoven’s Briefen“ (Leipzig bei
0079Engelmann), welche von J. Schlüter sehr einsichtsvoll gewählt,
0080geordnet und durch fortlaufende biographische Erklärung ver-
0081bunden sind.
0082Die eigenthümlichste und geistreichste der bis jetzt erschie-
0083nenen Festschriften ist unleugbar „Beethoven“ von Richard
0084Wagner. (Leipzig bei Fritsch.) Mit Spannung erwartete
0085man diese Publication Wagner’s über den einzigen Componi-
0086sten, dem er mit unbedingter, enthusiastischer Verehrung erge-
0087ben ist. Ob die Leser ihre Erwartungen auch erfüllt sehen
0088werden, darf man schon aus dem Grunde bezweifeln, weil nur
0089die kleinere Hälfte des Buches von Beethoven handelt, wäh-
0090rend die andere sich mit der philosophischen Untersuchung des
0091Wesens der Musik abgibt. In dieser Untersuchung offenbart
0092Wagner ein wahrhaft erstaunliches Talent, sich schwülstig,
0093dunkel und confus auszudrücken. Er klammert sich krampfhaft
0094an Schopenhauer’s Unterscheidung zwischen Ding an sich
0095(Wille) und Erscheinung (die durch Raum und Zeit bedingte
0096Vielheit der sichtbaren Dinge), um daraus für die Musik
0097metaphysisches Kapital zu schlagen. Der unmittelbare Ausdruck
0098des Willens ist ihm der Schrei (ein schöner Mutterschoß
0099der Musik!). Der Wille ist das uns selbst und allen Dingen
0100außer uns gemeinsam zu Grunde liegende Ding an sich, folglich
0101ist der Schrei, d. i. Klang, Ton, Musik, die erste und unmit-
0102telbarste Offenbarung des innersten Kernes der Welt! Wagner
0103schildert uns die venetianischen Gondolieri und die Schweizer
0104Sennhirten, in ihren Rufen „schreit“ das An-sich der
0105Welt sich selber zu! Die Welt des Klanges steht dadurch
0106so außerordentlich hoch über der Welt des Lichtes und
0107so nahe an dem „Wesen der Welt“ selbst, weil sie von
0108der Erscheinungsform der sichtbaren Welt, der Form der
0109Räumlichkeit und Körperlichkeit frei ist. Würde sie es über-
0110dies auch von der Form der Zeitlichkeit sein, so wäre sie so
0111recht die tiefste Offenbarung des Willens, d. i. des außer Raum
0112und Zeit seienden An-sich der Welt! Daher sieht Wagner die
0113wahre Musik auch viel mehr in der Harmonie als in der
0114Melodie, denn letztere als Tonfolge bedarf der Zeitform
0115und drückt daher nicht das zeitlose An-sich der Welt so
0116vollkommen aus, wie die Harmonie, die im zeitlosen Zusam-
0117menklingen der Töne liegt. Melodie und Rhythmik sind
0118für Wagner der Sündenfall der Musik aus ihrer harmoni[2]-
0119schen „Unschuld“, denn damit kommt die Zeitform in dieselbe
0120und nähert sie der Architektonik und „Plasticität“, also For-
0121men der sichtbaren Welt, der Welt der Erscheinung und
0122des bloßen Intellectes. Die wahre Musik wäre also nach R.
0123Wagner ein einziger ununterbrochen forttönender Accord, ohne
0124rhythmische Periodisirung, ein musikalisches Om-Om-sagen nach
0125Art der Brahmanen, denn so käme sie dem unveränderlichen
0126Ding an sich, dem „Willen“ als dessen Offenbarung am
0127nächsten! Palestrina’s Musik, bei welcher „der Rhythmus
0128nur erst noch durch den Wechsel der harmonischen Accord-
0129folgen wahrnehmbar ist“ (Seite 21), gilt ihm daher für das
0130„Traumbild der Welt in ahnungsvollster Weise“, weil sie der
0131Zeitform am fernsten bleibt. Leider müssen wir entgegnen,
0132daß aber auch der bloße „Wechsel von Accordfolgen“ nicht
0133ohne Zeitform stattfinden kann, und mit der zeitlosen Offen-
0134barung ist es daher wieder nichts! Musik beginnt erst mit
0135der Reihe von Tönen, einzelne Klänge sind noch keine Musik,
0136so wie einzelne Linien und Farben noch keine Malerei. Mit
0137dieser Stellung der Musik in die nächste Nähe des Wesens
0138der Welt hängt auch die Rolle des Traumes zusammen,
0139den R. Wagner für die Musik an die Stelle des wachen Be-
0140wußtseins eintreten läßt. Das Gehirn (der Intellect) kann
0141nach Schopenhauer sowol von Außen, d. i. durch
0142die sichtbare Welt der Erscheinung, als von In-
0143nen, d. i. durch den Willen, die Welt an sich,
0144angeregt werden: im ersten Falle kommt es bei
0145ihm zur Erfahrung im Lichte des Bewußtseins, im
0146zweiten Falle zum bewußtlosen Traum. Der Traum ist
0147nach Schopenhauer eine unmittelbarere Offenbarung des Wesens
0148der Welt, als die dem Bewußtsein zugängliche Erscheinung.
0149Darum ist er „prophetisch“, das Wesen der Welt allegorisch
0150versinnlichend, der Träumer eine Art Hellseher. Man
0151weiß, wie tief Schopenhauer sich in diese Lieblings-Idee vom
0152Traum, vom Hellsehen und Geistersehen vernistet hat, so daß
0153man manchmal eine philosophische Lotterieschwester zu hören
0154meint. R. Wagner beutet den Traum noch weiter für die
0155Musik aus: wenn die Musik die dem Wesen der Welt nächst-
0156stehende Offenbarung derselben, so ist der Musiker der eigent-
0157liche Hellseher, die musikalische Conception dem allegorisirenden
0158Traume verwandt. Dies wäre aber vielmehr ein Beweis,
0159daß jene verpönte Melodie und Rhythmik, mit Einem Wort
0160die Zeitform zum Wesen der Musik nothwendig gehört, denn
0161der „träumende“ Intellect kann gar nicht anders als in der
0162Zeitform träumen. Bei einzelnen logischen Ungeheuer-
0163lichkeiten, wie die (S. 20) einer „cerebralen Befähigung,
0164vermöge welcher der Musiker das aller Erkenntniß
0165verschlossene innere An-sich wahrnimmt“ (also doch
0166erkennt!), wollen wir uns gar nicht aufhalten. Im Ganzen
0167dürfte Wagner wenig Dank für die Anstrengung ernten, aus
0168der Musik, die eine sehr schöne Kunst ist, eine grundschlechte
0169Metaphysik machen zu wollen.
0170Und was hat gerade Beethoven mit dieser Theorie
0171zu schaffen, die ihn nur als großen Träumer behandelt, nicht
0172als großen Künstler erklärt? Richard Wagner antwortet uns
0173mit folgendem Satze: „Durch diese Formen“ (die musikali-
0174schen) „zu dem innersten Wesen der Musik in der Weise
0175durchgedrungen zu sein, daß er von dieser Seite her das
0176innere Licht des Hellsehenden wieder nach Außen zu werfen
0177vermochte, um auch diese Formen nur nach ihrer inneren Be-
0178deutung uns wieder zu zeigen, dies war das Werk unseres
0179großen Beethoven, den wir daher als der wahren In-
0180begriff des Musikers uns vorzuführen haben.“ Man sieht
0181schon hier, daß Wagner in Beethoven nicht blos den größten,
0182sondern den einzig großen und wahren Musiker erblickt. Wenn
0183er von Beethoven sagt, er „spreche die höchste Weisheit aus
0184in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht“, so möchte
0185man allerdings fragen: Woher wissen wir denn, daß es „Weis-
0186heit“ ist, wenn es in einer Sprache gesagt wird, welche „die
0187Vernunft“ nicht versteht? Wagner erklärt sich näher, indem
0188er die Behauptung aufstellt, „durch Beethoven habe der
0189deutsche Geist den Menschengeist von tiefer Schmach erlöst“.
0190„Denn,“ fährt er fort, „indem Beethoven die zur bloßen ge-
0191fälligen Kunst herabgesetzte Musik aus ihrem eigensten Wesen
0192zu der Höhe ihres erhabenen Berufes erhob, hat er uns das
0193Verständniß derjenigen Kunst erschlossen, aus welcher die
0194Welt jedem Bewußtsein so bestimmt sich erklärt, als die
0195tiefste Philosophie sie nur dem begriffskundigen Denker
0196erklären könnte.“ Indem Wagner an die Musik einen meta-
0197physischen Maßstab legt, ist es nicht zu verwundern, daß
0198Haydn und Mozart bei ihm ziemlich übel davonkommen. Er
0199erblickt in den Werken von Beethoven’s Vorgängern „ein ge-
0200maltes Transparentbild bei Tagesschein, ein einer durchaus
0201niedrigeren Kunstart angehöriges Pseudo-Kunstwerk, zur Aus-
0202schmückung von Festen, bei fürstlichen Tafeln u. dgl. ausge-
0203stellt“. Erst durch Beethoven sei „die Melodie, von dem Ein-
0204flusse der Mode und des wechselnden Geschmackes emancipirt,
0205zum ewig giltigen, rein menschlichen Typus erhoben worden“.
0206Wie hier Anerkennung mit Ungerechtigkeit gemischt sei, bedarf
0207kaum des Nachweises. Haydn und Mozart, unter ganz an-
0208deren künstlerischen und gesellschaftlichen Zuständen lebend als
0209Beethoven, haben allerdings sehr viel für die „Mode“ ge-
0210schrieben, was mit der Mode vergangen ist; auch Beethoven
0211hat einige solche Compositionen, wenngleich nur wenige, ge-
0212schrieben, welche vergessen sind. Allein jene großen, echten
0213Werke Haydn’s und Mozart’s, welche heute noch in unver-
0214minderter Frische lebendig wirken, jene Werke, durch welche
0215ihre Schöpfer uns eben „Haydn“ und „Mozart“ sind, zum
0216Unterschiede von ihren zahlreichen, einst nicht minder gefeierten
0217galanten Zeitgenossen, jene Kunstwerke mit ihren aus der
0218Tiefe des Gemüthes geschöpften Melodien für bloße „Mode-
0219musik“ zu erklären, das ist ein Frevel, der selbst „zur größe-
0220ren Ehre Beethoven’s“ nicht hätte verübt werden sollen.
0221Wagner’s Bemerkungen über den persönlichen Charakter und
0222den Styl Beethoven’s enthalten manch treffenden, geistreichen
0223Zug, daneben wieder Irriges und Willkürliches. So kann
0224man es einen glänzenden Einfall nennen, wenn Wagner die
0225Taubheit Beethoven’s als ein seinen erhabenen Beruf för-
0226derndes Ereigniß ansieht: „Denn die äußere Welt erlosch
0227ihm nun ganz, nicht etwa weil Erblindung ihn ihres Anblickes
0228beraubte, sondern weil Taubheit sie endlich seinem Ohre
0229ferne hielt. Das Gehör war das einzige Organ, durch wel-
0230ches die äußere Welt noch störend zu ihm drang: für sein
0231Auge war sie längst erstorben.“ Beethoven, der gehörlose
0232Musiker, ist für Wagner ein „erblindeter Seher“, „eine
0233unter Menschen wandelnde Welt, das An-sich der Welt als
0234wandelnder Mensch“! Es stimmt aber nicht mit der Wahr-
0235heit, daß erst nach eingetretener Taubheit „das Wesen der [3]
0236Dinge wieder in dem ruhigen Lichte der Schönheit zu ihm
0237sprach und wunderbare Heiterkeit all sein Sehen und Gestal-
0238ten durchdringt“, so daß keine Kunst „etwas so Heiteres
0239geschaffen hat, wie die Tonwerke Beethoven’s aus dieser göttlichen
0240Zeit seiner völligen Taubheit“. Die von Wagner für diese
0241Ansicht angeführten Symphonien in A-dur und F-dur kön-
0242nen für sich unmöglich gegen den Charakter der überwiegenden
0243Mehrzahl von Beethoven’s Compositionen beweisen. Gerade
0244in der ersten Periode Beethoven’s, also vor eingetretener
0245Taubheit, athmen seine Compositionen durchwegs Heiterkeit,
0246Unschuld und Frohsinn, so die ersten Sonaten, die sechs
0247Quartette op. 18, das Septett, die beiden ersten Sympho-
0248nien. Zur Zeit seiner „völligen Taubheit“, also in der drit-
0249ten Periode, werden Beethoven’s Werke immer großartiger,
0250übersinnlicher, aber im selben Maße auch düsterer, räthselhaf-
0251ter, schmerzlicher. Um zu erklären, wie Beethoven der große
0252Tondichter geworden inmitten der „wirklichen Frivolität“,
0253welche den Geist der Wiener Bevölkerung ausmachte und
0254auch „die einzige in Oesterreich gepflegte Kunst, die Musik,
0255erniedrigender Tendenz zugeführt hatte“, behauptet
0256Wagner, in Beethoven habe „der ganze Geist des deut-
0257schen Protestantismus“ gelebt. Der unbefangene
0258Biograph wird diese Behauptung schwerlich unterschreiben
0259können, noch weniger aber die sich anschließende, daß
0260Sebastian Bach „die Bibel seines Glaubens“,
0261„das allerheiligste Buch“ Beethoven’s gewesen, wo-
0262durch er „selbst ein Heiliger ward“. Wunder-
0263liche Ideen bringt Richard Wagner über die „Neunte
0264Symphonie“ zu Markte, welche „uns die Grundtendenzen der
0265Natur unseres Heiligen klarzumachen“ hat. „Derselbe Trieb,“
0266sagt Wagner, „der Beethoven’s Vernunft-Erkenntniß leitete,
0267den guten Menschen sich zu construiren, führte ihn in
0268der Herstellung der Melodie dieses guten Men-
0269schen!“ Wenn Haydn, in einer niederen Sphäre bleibend,
0270zu der Volksweise „der ihm zunächst liegenden ungari-
0271schen (?) Bauerntänze“ griff, so spielt Beethoven „mit einem
0272ungarischen Bauerntanze (Finale der A-dur-Symphonie) der
0273ganzen Natur auf“. Wo in Beethoven’s Neunter Sym-
0274phonie eigentlich der springende Punkt sei, aus welchem Wag-
0275ner seine Reform des Musikdramas herleitet, ist uns bis zur
0276Stunde unklar geblieben. Der so nachdrücklich daran gerühmte
0277„Uebersprung aus der Instrumental- in die Vocalmusik“
0278braucht in der Oper nicht erst eingeführt zu werden, welche
0279ja mit Vocalmusik beginnt und schließt. Auch liegt in jenem
0280Symphonie-Finale nach Wagner’s Ausspruch „nichts formell
0281Unerhörtes für uns vor; es ist eine Cantate mit Textworten,
0282zu denen die Musik in kein anderes Verhältniß tritt, als
0283zu jedem anderen Gesangstexte“. Aber was wir bei
0284jenem „Uebersprunge“ empfinden, ist „durchaus ver-
0285gleichbar dem Drange nach Erwachen aus einem tief
0286beängstigenden Traum, und das Bedeutsame für den Kunst-
0287genius der Menschheit ist, daß dieser Drang hier eine künst-
0288lerische That hervorrief, durch welche diesem Genius ein neues
0289Vermögen, die Befähigung zur Erzeugung des
0290höchsten Kunstwerkes zugeführt ist“. Dieses Kunstwerk
0291kann nichts Anderes sein, als „das vollendetste Drama,
0292somit ein weit über das Werk der eigentlichen Dichtkunst
0293hinaus liegendes“. Wagner versteigt sich nun in seinen
0294philosophischen Hallucinationen bis zu der Behauptung, „die
0295Musik schließe das Drama ganz von selbst in sich, da das
0296Drama wiederum selbst die einzige der Musik adäquate Idee
0297der Welt ausdrückt. Das Drama überragt ganz in der
0298Weise die Schranken der Dichtkunst, wie die Musik die
0299jeder anderen Kunst!“ Immer stärkeren und bewußteren
0300Schrittes nähert sich jetzt Wagner seinem Kunstwerk der Zu-
0301kunft. Shakspeare’s Dramen als Producte eines über-
0302menschlichen Genies finden nur in Beethoven’s Musik etwas
0303Analoges. Freilich blieb Shakspeare nur der große Dichter,
0304Beethoven nur der große Musiker. Was weiter noch zu folgen
0305habe aus der „Identität des Shakspeare’schen und des
0306Beethoven’schen Dramas“, kann offenbar nur das Werk eines
0307Dichter-Musikers sein, welcher Shakspeare und Beethoven zu-
0308gleich ist. Ob wir einen solchen Mann besitzen und wie er heißt,
0309wird nicht ausdrücklich gesagt, wol aber, daß seine Schöpfung
0310sich zur „Oper“ verhalten müsse wie ein Shakspeare’sches
0311Stück zu einem Literatur-Drama und eine Beethoven’sche
0312Symphonie zu einer Opernmusik.