Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8464. Wien, Sonntag, den 18. März 1888
[1]Hofoperntheater.
(„Othello“ von Verdi.)
0003Ed. H. Laube bekennt in seiner Geschichte des Burg-
0004theaters, daß er lange gezaudert habe, Shakespeare’s Othello
0005neu in Scene zu setzen. Er war überzeugt, Othello’s „greller
0006Inhalt“ würde schwer bestehen vor dem empfindlichen Ge-
0007schmack der Wiener. Das Publicum füge sich zwar der ge-
0008waltigen künstlerischen Macht, aber es verleugne nicht, daß es
0009ihm eine Pein ist. Dieses Ausspruches mußte ich gedenken,
0010so oft ich Shakespeare’s Tragödie und jetzt auch Verdi’s Oper
0011gesehen. Laube’s Frage, ob die anatomische Ausbeutung einer
0012widerwärtigen Leidenschaft, wie die Eifersucht ist, nicht doch eine
0013unglückliche Aufgabe sei für die Kunst, regt sich auch gegen-
0014über der Oper „Othello“. Mildert die Musik das Gräßliche
0015eines Tragödienstoffes oder verstärkt sie es? Sie vermag
0016sowol das Eine als das Andere. Die Musik kann ein und
0017dieselbe Zeichnung schwärzer oder lichter färben. Rossini
0018that das Letztere in seinem Othello, er färbte sogar
0019ins Rosige. Verdi nimmt die entgegengesetzte Richtung
0020und bietet die durchbohrendsten Accente auf, um hinter der
0021tragischen Erschütterung Shakespeare’s nicht zurückzubleiben.
0022Wo aber die Musik sich dieses Ziel setzt und erreicht, da
0023schneidet sie uns noch tiefer ins Herz, als das gesprochene
0024Wort. Ein „Othello“, wie der einst vergötterte von Rossini,
0025ist heute schlechterdings unmöglich; eine Welt liegt zwischen
0026ihm und Verdi’s Oper. Und doch ist’s nur ein Zeitraum
0027von 72 Jahren. Wie ungenirt springt Rossini’s Librettist
0028mit dem Shakespeare’schen Drama um! In den ersten Acten
0029bringt er vollständig Anderes; erst der letzte stimmt mit der
0030Tragödie überein. Boito, der Textdichter Verdi’s, bewahrt
0031hingegen dem Original die größtmögliche Treue. Weggelassen
0032hat er nur die in Venedig spielende Vorhandlung und die
0033zwei kleinen Rollen Brabantio und Bianca, selbständig
0034hinzugefügt blos zwei Scenen: Jago’s pessimistisches „Credo“
0035und das Liebesduett zwischen Othello und Desdemona. Jener
0036Credo-Monolog scheint mir nicht sowol zur Erklärung von
0037Jago’s Charakter geschrieben, der sich hinlänglich selbst erklärt,
0038als vielmehr aus praktischer Rücksicht für den Darsteller,
0039dem man doch wenigstens Eine kurze Soloscene vergönnte.
0040Das Liebesduett zwischen Othello und Desdemona halte ich
0041hingegen für eine sehr glückliche Zuthat, und das nicht blos
0042aus musikalischem Gesichtspunkt. Es ist eine treffende Be-
0043merkung Sonnenthal’s, daß ihm in Shakespeare’s
0044Trauerspiel stets etwas dergleichen abgegangen sei, ein zärt-
0045liches Zwiegespräch zwischen Othello und Desdemona, welches
0046zu den folgenden Eifersuchtsqualen zugleich einen freundlichen
0047Contrast und eine tiefere Motivirung schaffe. Bei Shakespeare
0048äußert Othello seine Liebe zu Desdemona nur in einzelnen
0049Worten; mit ihr allein sehen wir ihn nur als ihren Peiniger
0050und ihren Mörder. In der Oper bildet das Liebesduett
0051einen schönen und wohlmotivirten Ausklang des ersten Actes;
0052seine so innige Schlußphrase wird durch ihre Wiederholung
0053an Desdemona’s Sterbebett doppelt ergreifend und bedeu-
0054tungsvoll. Im Uebrigen folgt Boito, wie gesagt, genau den
0055Scenen, sehr häufig auch den Worten Shakespeare’s. Das
0056kommt der Oper ungemein zu statten. Wir schauen auf
0057lauter wohlbekannte, von Haus aus fest umrissene Charaktere,
0058auf eine uns vertraute, durchaus verständliche Handlung.
0059Shakespeare selbst steht unsichtbar im Hintergrund der Scene,
0060ungefähr wie hinter Gounod’s Faust-Oper der Schatten
0061Goethe’s steht, schützend, erklärend, weiterhelfend.
0062Nach dem Lobe des Textbuches schickt sich gleich die
0063Anerkennung seiner vortrefflichen Uebersetzung durch Max
0064Kalbeck. Sie schmiegt sich nicht blos treu an das italie-
0065nische Original und die oft recht häkeligen Wendungen der
0066Musik, sondern macht auch, abgesehen von dieser, den Ein-
0067druck einer Original-Dichtung. Will man sie nach ihrem
0068ganzen Werthe schätzen, so vergleiche man damit die banalen,
0069theils gesangwidrigen, theils deutschfeindlichen Uebersetzungen
0070der Traviata oder Aïda, welche in die abenteuerlichsten Ver-
0071renkungen gerathen, sobald sie aus dem Schaukelstuhl:
0072Herz — Schmerz, Liebe — Triebe herausfallen. In Kalbeck
0073(von dem auch die sorgfältige Uebertragung des „Cid“ von
0074Massenet herrührt) hätten wir jetzt einen musterhaften Ueber-
0075setzer neuer französischer und italienischer Opern — es fehlen
0076uns nur leider die Opern.
0077Woher die ganz ungewöhnliche Spannung, mit welcher
0078man auch in Wien dem Verdi’schen „Othello“ entgegensah?
0079Haben wir doch zwanzig Opern von ihm hier gehört, von
0080denen reichlich die Hälfte durchgefallen ist. Die respectvolle
0081Aufmerksamkeit auf den vielgescholtenen Verdi begann, als
0082er nach seinen größten Erfolgen (Rigoletto, Trovatore und
0083Traviata) immer sorgfältiger, immer dramatischer, in immer
0084längeren Pausen producirte, um schließlich in seiner „Aïda“
0085eine künstlerische Höhe zu erklimmen, die man ihm nicht zu-
0086getraut hätte. Volle fünfzehn Jahre waren nach der „Aïda“
0087verflossen, da trat der 73jährige Verdi noch einmal uner-
0088wartet mit einer neuen Oper „Othello“ hervor. Ist es an
0089sich schon ein seltenes Ereigniß, daß ein Tondichter in einem
0090Alter, wo man höchstens noch schlechte Kirchenmusik schreibt,
0091eine neue Oper producirt, so mußte deren außerordent-
0092licher Erfolg in Italien und das allgemeine Urtheil,
0093Verdi habe darin abermals einen Fortschritt vollzo-
0094gen, die Neugier aufs höchste spannen. Ist „Othello“
0095wirklich ein Fortschritt Verdi’s gegen die Traviata, den
0096Maskenball, Aïda? Ein Fortschritt in der musikalischen
0097Technik und der streng dramatischen Concentration gewiß.
0098Eine Steigerung seiner Erfindungskraft, seines melodischen
0099Reichthums keineswegs; im Gegentheil. Diejenigen, die nur
0100in der einseitig dramatisirenden Tendenz, in dem Zurück-
0101drängen der selbstständig schönen Musik hinter die bloße
0102Stimmungsmalerei und den Wortausdruck das Heil der
0103Oper erblicken, müssen „Othello“ ohneweiters als den Cul-
0104minationspunkt von Verdi’s Talent preisen. Andersgesinnte,
0105wozu auch der Schreiber dieser Zeilen gehört, werden dies
0106nur mit großen Einschränkungen zugeben. Verdi’s Othello
0107ist ein geistreiches, durchaus nobles Werk, ein Monument für
0108die künstlerische Klärung und zusammenfassende Kraft eines [2]
0109im Ende seiner Ruhmeslaufbahn angelangten Volkslieblings.
0110Dramatisch einheitlicher, energischer, in der Orchesterpartie
0111bedeutender und kunstvoller als Verdi’s frühere Opern,
0112athmet doch „Othello“ nicht mehr deren natürliche Frische
0113und Unmittelbarkeit. Der Meister hat sich ein edles Ziel ge-
0114steckt, aber auf dem Wege dahin ging manches Wertvolle
0115verloren: die Naivetät, die Jugend. Und die Jugend in der
0116Musik, das ist die Melodie. Aus diesem Gesichtspunkte ist
0117„Othello“ dürftiger als Aïda, Traviata, der Maskenball.
0118Wie viel unmittelbarer strömt da die musikalische Erfindung,
0119wie können diese schmerzlich süßen Melodien uns verfolgen,
0120auch wenn wir gar nicht an ihren Zusammenhang mit der
0121Oper denken! Aus der Othello-Musik, welche der charakteri-
0122sirenden Schärfe und der dramatischen Consequenz alles
0123Andere opfert, können wir keine solchen Melodienblüthen als
0124lang nachduftenden Besitz loslösen; da bleibt Alles zurück im
0125Theater. Uns bleibt nur der stimmungsvolle, ja ergreifende
0126Total-Eindruck eines in Musik aufgelösten Dramas. Wie im
0127Schauspiel fließen die Scenen ohne scharf trennenden Ab-
0128schluß ineinander. Die Duette und Terzette sind, abweichend
0129von der alten, hauptsächlich auf Zusammensingen berechneten
0130Form, mehr Dialoge und lassen die Stimmen erst ganz am
0131Schlusse sich vereinigen. Eine Ausnahme bildet das große
0132Finale des dritten Actes, das nach der älteren italienischen
0133Manier sich breit aufbaut und effectvoll steigert. Der Gesang
0134bleibt überall das Bestimmende, Herrschende, allein er folgt
0135anschmiegsam dem wechselnden Gedanken- und Empfindungs-
0136gang, den einzelnen Redewendungen und Worten. Dem ent-
0137sprechend kommt selbstständige, symmetrisch gegliederte Melodie
0138viel seltener vor, als das in der modernen Oper jetzt vor-
0139waltende Mittelding zwischen tactmäßigem Recitativ und
0140Ariosa. Nicht der kleinste Tribut an Verzierungen oder
0141Passagenschmuck ist der Gesangs-Virtuosität dargebracht. Alle
0142effectvoll auf hohen Brusttönen schließenden Abgänge sind von
0143der Situation so gefordert. Eine außerordentliche, fast peinliche
0144Arbeit steckt im Orchester; neben geistreichen und charakteristi-
0145schen Instrumental-Effecten hören wir auch manche sehr ba-
0146rocke und unschöne. Desgleichen wechseln in der Modulation
0147glückliche Einfälle mit sehr harten und grellen Fortschreitun-
0148gen. Verdi’s Vorliebe für chromatische Gänge und Accord-
0149folgen, für den unvermittelten Wechsel von Dur und Moll
0150in derselben Tonart und Aehnliches erscheint gegen früher
0151noch gesteigert. Wer das Alles mit dem allgemeinen land-
0152läufigen Ausdrucke „Wagnerisch“ bezeichnen will, der mag es
0153thun. Verdi trifft im Othello vielfach mit Wagner’schen
0154Grundsätzen zusammen. Daß er diesen Styl erst durch
0155Wagner erfaßt, etwa gar von Wagner angenommen habe,
0156das kann nur glauben, wer seinen „Don Carlos“ nicht kennt,
0157der zwanzig Jahre vor Othello erschienen ist, zu einer Zeit,
0158da Verdi von Wagner nichts als die Tannhäuser-Ouvertüre
0159gehört hatte. Von Wagner’s letzten, den eigentlichen „Wagner-
0160styl“ begründenden Werken kennt Verdi heute noch nichts.
0161Eine Oper, in welcher, wie im „Othello“, weder Leitmotive
0162noch die unendliche Orchester-Melodie regieren, sondern die
0163Singstimmen, denen, als oberstem Willen, das Orchester auch
0164in seinen bedeutsamsten Momenten untergeordnet ist, hat mit
0165dem Tristan- und Siegfriedstyl nichts gemein. „Othello“ ist
0166anders als Aïda und die Traviata, aber er ist doch unver-
0167kennbar Verdisch; nicht Eine Scene steht darin, deren Musik
0168Wagner nachgebildet wäre. In einem Bericht über die
0169Mailänder Othello-Aufführung habe ich vor Jahr und Tag
0170diesen Punkt ausführlicher erörtert.
0171Bei der streng dramatischen Haltung des „Othello“ fällt
0172es schwer, einzelne Nummern hervorzuheben. Der Anfang der
0173Oper — mehr eine Explosion als eine Exposition — ver-
0174setzt uns mitten in den Seesturm. Das in wilden Dissonanzen
0175tosende Orchester, die angstvollen Rufe der erschreckten Be-
0176völkerung, deren Dankgebet nach erfolgter Rettung des Schiffes
0177— das Alles ist äußerst geschickt gemacht und gibt ein mäch-
0178tiges Bild. Othello’s erstes Auftreten kann nicht effectvoller
0179vorbereitet sein. Nach einem Dialog mit Rodrigo stimmt
0180Jago sein Trinklied an. Es erinnert stark an Bertram und
0181Mephisto und ist mit seinen Piccolopfiffen und chromatischem
0182Geheul zu raffinirt unschön selbst für den böswilligsten
0183Trinker. In dem Chor der um das Freudenfeuer lagernden
0184Cyprioten reizen uns zumeist die Instrumental-Effecte; dem
0185Gesang selbst fehlt die Natürlichkeit und der fröhliche Geist.
0186Diese beiden Stücke, dazu der Huldigungschor mit Mando-
0187linen-Begleitung im zweiten Acte, bieten eigentlich die einzi-
0188gen heiteren Ruhepunkte in dem tragischen Gewitter dieses
0189Dramas. Es sind Musikstücke von geschlossener Form, von
0190denen das dramatische Gesetz keinerlei Zersplitterung der
0191Theile verlangt; hier wenigstens durften wir gesunde, unge-
0192künstelte Melodien und Verdi’sches Temperament erwarten.
0193Es scheint jedoch, als wollte der Componist dem Allen ab-
0194sichtlich aus dem Wege gehen. Das Liebesduett Othello’s mit
0195Desdemona verläuft in stimmungsvoller Recitation, die erst
0196am Schluß sich zu der früher erwähnten schönen, aus-
0197drucksvollen Phrase „Küsse mich!“ erhebt. Ja, das
0198ist wieder die wohlbekannte warme, tief vibrirende Stimme
0199Verdi’s. Aber sie hatte in früheren Liebesscenen
0200mehr Sangesfreudigkeit und einen längeren Athem.
0201Im zweiten Act erfreut uns der Huldigungschor der
0202Landleute, welcher wie ein heiterer Sonnenstrahl die
0203Wolken der Eifersuchts-Tragödie für ein Weilchen zerreißt.
0204Die Melodie ist nicht bedeutend, aber von nationalem Reiz
0205und zwischen Knaben- und Mädchen-, Frauen- und Männer-
0206stimmen wirksam vertheilt. Geistreich und anmuthig fließt
0207die Erzählung Jago’s von dem Traum des Cassio, eines der
0208wenigen abgerundeten, melodiösen Stücke der Oper. Fein
0209empfunden und meisterhaft angelegt ist das Quartett zwischen
0210Othello, Desdemona und dem im Hintergrunde stehenden
0211Paare, Jago und Emilia. Desto abstoßender wirkt darauf
0212das den Act schließende Racheduett Othello’s mit Jago —
0213musikalische Coulissen-Malerei derbster Art. Den dritten
0214Act eröffnet ein Duett zwischen Othello und Desdemona,
0215ein charaktervolles Stück voll bedeutender Wendungen. Treff-
0216lich gezeichnet ist sowol Othello, der sich anfangs ironisch
0217verhält, dann immer wüthender wird bis zur Raserei, wie
0218der unschuldige Desdemona, deren rührendes Flehen („O blick’
0219durch’s Auge tief in meine Seele“) jeden Andern als den Mohren
0220entwaffnen müßte. In dem folgenden langgestreckten Monolog
0221Othello’s kämpft der Componist bereits mit der allzu schweren
0222Aufgabe, die grellsten Mittel des Ausdrucks auf diese Rolle
0223zu häufen und sie noch bis ans Ende zu steigern. Spricht
0224das von Othello belauschte Gespräch Jago’s mit Cassio für
0225Verdi’s dramatischen Geist, so bezeugt das sich anschließende [3]
0226große Ensemble wieder einmal seinen starken Sinn für Wohl-
0227laut und musikalische Form. Dieses effectvolle Stück mit
0228dem hoch über dem Chor schwebenden schmerzlichen Gesang
0229der Desdemona hat nur den Fehler zu großer Länge. In
0230Wien hat man durch zweckmäßige Kürzungen abgeholfen. Die
0231erste größere Hälfte des vierten Actes gehört der Desdemona
0232allein. In ihrem Lied „Weide, Weide“ und dem „Ave Maria“
0233erklingen Herzenstöne, welche unbeschreiblich rühren. Trotzdem
0234ist die Armuth der melodischen Erfindung nicht abzuleugnen.
0235Die Melodie des Weidenliedes klingt wie absichtlich verbogen
0236und gekniffen; sie spiegelt allerdings die todesbange Stim-
0237mung der Desdemona wider, musikalisch steht sie
0238hinter der Schönheit der Rossini’schen Composition weit
0239zurück. Auch das Ave Maria wirft mehr durch die
0240geisterhaft zarte, blos von gedämpften Streichinstrumenten
0241gespielte Begleitung, als durch die Melodie selbst. Erschüt-
0242ternd wahr und schön ist Desdemona’s Ausruf: „Ach,
0243Emilia, lebe wohl!“, ein Klang aus Verdi’s bester, wärmster
0244Jugend. Mit dem Erscheinen des mordbereiten Othello streift
0245die Charakteristik im Orchester bereits an Bizarrerie; ein
0246blos von den Contrabässen con sordini ausgeführtes län-
0247geres Ritornell rollt in schauerlichem Unisono auf und
0248nieder. Dazwischen drei dumpfe, ganz leise Schläge auf die
0249große Trommel, wie drei Schaufeln Erde auf ein Grab.
0250Das Ringen Othello’s mit der um ihr Leben flehenden
0251Desdemona, eine der gräßlichsten Scenen im Bereich der
0252Bühnenliteratur, ist in der Musik mit zerfleischender Wahr-
0253heit wiedergegeben. Othello’s letzte Töne: „Noch einmal küsse
0254mich“ (aus dem Liebesduett) breiten sich mildernd, wie
0255fahles Mondlicht über die grausige Stätte. Um diesen vierten
0256Act mitzufühlen, bedarf es starker Nerven, aber es bedurfte
0257eines noch ungleich stärkeren Talents, ihn zu machen.
0258Die Aufführung des „Othello“ im Hofoperntheater ist
0259ein wahres Muster künstlerischer Reproduction. Kaum wüßte
0260ich aus den gewiß zahlreichen guten Vorstellungen in diesem
0261Hause eine zu nennen, welche ein gleiches Bild harmonischen
0262Zusammenwirkens aller Factoren darböte. Diese Première
0263glich einem Feste, bestimmt, den greisen Meister, den man
0264sich gleichsam anwesend dachte, persönlich zu feiern. Während
0265es jetzt leider häufig vorkommt, daß — auf der Bühne und
0266im Parquet — das Ganze als Kunstwerk vergessen wird
0267über dem einzelnen Künstler, ist der Gesammteindruck dieser
0268„Othello“-Vorstellung in seiner Großartigkeit vollkommen.
0269Die neuen Decorationen und Costüme wirken nicht blos
0270durch luxuriöse Pracht, sondern ebensosehr durch historische
0271Treue; die Mise-en-scène fluthet von Leben und Bewegung.
0272Der Alles beherrschende, zugleich mäßigende und anfeuernde
0273Geist des Ganzen ist Director Jahn, der die Oper
0274ebenso energisch dirigirt, als er sie sorgfältig vor-
0275bereitet hat. Unter den Solosängern voran ist Herr
0276Winkelmann zu rühmen, dessen Othello eine im-
0277posante Leistung heißen darf. Er hat ein tiefes Studium
0278an den schauspielerischen Theil seiner Rolle gewendet, und
0279seine eherne Stimme, seine heldenhafte Gestalt befähigen ihn,
0280wirkungskräftig auszuführen, was sein Kunstverstand ihm
0281vorgezeichnet. Weniger entsprach Herr Reichmann der
0282Vorstellung vom Jago. Dieser reichbegabte Künstler besitzt
0283im Ueberflusse alle Mittel für diese Rolle, aber seine Auf-
0284fassung derselben scheint mir nicht ganz richtig. Jago ist ein
0285überlegter, kalt berechnender Intrigant, kein von wilder
0286Leidenschaft überschäumender, herausfordernd agirender Böse-
0287wicht. Zu seiner überlegenen, äußerlich ruhigen Haltung soll
0288er ein Gegenstück zu dem tobenden Othello bilden, nicht ein
0289Seitenstück. Herr Reichmann brachte gleich in das erste Ge-
0290spräch mit Rodrigo, dann mit Othello ein überlautes leiden-
0291schaftliches Wesen. Die dem Othello zugeraunte Warnung:
0292„Gebt Acht auf’s Taschentuchen!“ muß doch anders
0293klingen als der Wächterruf: „Gebt Acht auf Feuer
0294und Licht!“ In seiner vortrefflichen Darstellung des
0295Hamlet (in der Oper von Ambroise Thomas) hat
0296Herr Reichmann gezeigt, daß er seine sonstige Gewohnheit,
0297überall möglichst viel Ton zu produciren und nachdrücklich
0298auf einzelnen Noten zu verweilen, abstreifen kann, wo es der
0299Charakter und die Situation verlangen. Er überrascht als
0300Hamlet in vielen Stellen durch ein leise, in jeder Sylbe
0301verständliches und doch noch gesungenes Parlando, wie ich
0302es so gut von keinem deutschen Sänger noch gehört. Diese
0303Vortragsweise, etwas gehoben und gefärbt, entspräche zahl-
0304reichen, im Conversationston gemeinten Reden Jago’s,
0305welche Herr Reichmann, jedes Wort unterstreichend, mit ge-
0306hobener Stimme und heftiger Gesticulation vorbringt. Durch
0307einfach declamatorischen, nirgends aufgebauschten Vortrag er-
0308zielte in Mailand Herr Maurel — ein Sänger, dessen
0309Stimme und Persönlichkeit neben Reichmann verschwinden —
0310den größten Erfolg, ja den Sieg über alle Mitwirkenden.
0311Herrn Reichmann’s abweichende Auffassung hat ihn indeß
0312nicht gehindert, überall, wo Jago’s teuflische Bosheit offen
0313hervorbrechen darf, gewaltig zu wirken und das Publicum zu
0314enthusiasmiren. Fräulein Schläger’s Desdemona ist weit-
0315aus die beste Leistung, die wir von dieser erfreulich fort-
0316schreitenden Sängerin kennen. Sie hat sich ein schönes
0317Mezza voce und pianissimo in den langgehaltenen hohen
0318Tönen eigen gemacht und erzielt damit im letzten Act rührende
0319Wirkungen. Herr Schrödter, ein durchaus liebenswürdiger
0320Cassio, singt und spricht gut; er liefert obendrein in seiner
0321Darstellung eines im Zustand der Trunkenheit hitzig Fechten-
0322den ein kleines Cabinetsstück. Frau Kaulich (Emilia), die
0323Herrn Reichenberg (Ludovico), Schittenhelm
0324(Rodrigo) und Hablawetz (Montano) schließen sich dem
0325Ganzen würdig an.
0326Verdi’s „Othello“ hat hier ohne Frage einen bedeutenden
0327Eindruck gemacht. Das Publicum verfolgte Scene für Scene
0328mit sichtlichem Antheil und konnte sich im vierten Act einer
0329tiefen Erregung nicht erwehren. Mancher mochte sich in seinen
0330musikalischen Erwartungen, zu denen der frühere Verdi be-
0331rechtigte, getäuscht sehen und dessen einstige unbefangene und
0332unbekümmerte Sinnlichkeit der tendenziösen Strenge des
0333„Othello“ vorziehen. Gewiß aber wird man diesen mit leb-
0334haftestem Interesse, ja mit Bewunderung für den Mann
0335hören, der in hohem Alter noch ein Beispiel solcher Geistes-
0336und Herzensfrische gibt. Massenet könnte den Jahren
0337nach Verdi’s Enkel sein, und dennoch hat sein „Cid“
0338mehr Runzeln als der „Othello“. Auch der „Hamlet“ von
0339Ambroise Thomas und Gounod’s „Tribut von Zamora“,
0340von anderen Novitäten zu schweigen, tragen mehr Spuren
0341des Alters und werden schneller veralten, als der „Othello“
0342des greisen Verdi.