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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8744. Wien, Freitag, den 28. December 1888

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Concerte.


0002Ed. H. Die beiden Orchester-Novitäten, mit welchen
0003Hofcapellmeister Hanns Richter uns jüngst überrascht hat,
0004bedeuten Huldigungen für zwei Dichter. Die erste, eine
0005Ouvertüre von Joachim, ist dem Andenken Heinrich
0006v. Kleist’s, die andere, eine „Suite im alten Styl“ von
0007Grieg, dem Andenken Holberg’s gewidmet. Wer nicht in
0008sehr kindlichen Vorstellungen über die Ausdrucksfähigkeit der
0009Instrumental-Musik befangen ist, der wird von keinem dieser
0010beiden Orchesterstücke eine porträtgetreue Schilderung des be-
0011treffenden Poeten erwarten. Weder Joachim noch Grieg 
0012haben je vermeint, irgend ein Mensch, mit dem Titel dieser
0013Musikstücke unbekannt, könnte beim Anhören just auf Kleist 
0014oder auf Holberg verfallen. Der Tondichter gibt uns hier
0015gleichsam zwei verschiedene Fäden in die Hand, die Compo-
0016sition und den Titel — diese sollen wir im Geiste mit ein-
0017ander verknüpfen. Die Phantasie des Einen wird sich dabei
0018willfähriger, geschäftiger zeigen, als die eines Andern. Nur
0019wenn wir gar keinen Vereinigungspunkt für diese beiden
0020Fäden entdecken, gar keine innere Verwandtschaft zwischen
0021dem Musikstück und seinem Titel, werden wir sagen können,
0022der Componist hat einen Mißgriff gethan. Dies ist weder
0023Joachim noch Grieg widerfahren. Doch scheint uns Letzterer
0024glücklicher gewesen zu sein in der Anpassung seiner Musik an
0025den gegebenen Stoff: „Aus Holberg’s Zeit“. Im Jahre
00261884 waren es zweihundert Jahre seit der Geburt Ludwig
0027Holberg’s, des besten und ersten Lustspieldichters Dänemarks.
0028Niels Gade feierte dieses Jubiläum mit einer Orchester-
0029Suite „Holbergiana“, Edward Grieg mit der Suite für
0030Streichinstrumente, die wir im Philharmonischen Concert
0031mit Vergnügen gehört haben. Eine feine, geistreiche Arbeit,
0032anspruchsloser und weniger exotisch, als es die Compositionen
0033dieses Norwegers zu sein pflegen. Das Alterthümliche erscheint
0034in den Formen, Rhythmen, Verzierungen geschickt getroffen
0035und doch mit modernem Geist erfüllt; reizend ist das „Air“
0036in G-moll mit seiner weichen, leicht getrösteten Schwermuth,
0037voll lebendigen Humors das die Suite effectvoll ab-
0038schließende Tanzstück „Rigaudon“. In seinem vor-
0039trefflichen Essay in der „Deutschen Rundschau“, sagt
0040Georg Brandes von Holberg: „Was er auch hervorbringt,
0041er nimmt Alles von der lustigen Seite. Hier kommt selten
0042eine andere Stimmung als die des guten Humors zum
0043Vorschein, äußerst selten ein Zug von Wehmuth, nur ein
0044einzigesmal ein Anstrich vom Rührenden.“ An diese Charak-
0045teristik Holberg’s dachten wir bei der Suite von Grieg, die
0046gleichfalls das Leben leicht nimmt und uns das Genießen
0047leicht macht. Joachim’s Ouvertüre ist eine ernstere,
0048schwerer wiegende Arbeit, doch birgt sie wenig, was uns
0049nöthigen könnte, sie unter dem Einfluß von Heinrich v. Kleist 
0050zu denken. Von diesem lebt nur der grübelnde, melancholische
0051Zug in Joachim’s Ouvertüre, die in ihrer trüben, weichen
0052Stimmung an Schumann, namentlich an dessen Genovefa-
0053Ouvertüre erinnert. Wir vermissen einen viel entscheidenderen
0054Zug: das leidenschaftlich Aufflammende, Gewaltige, ja Ge-
0055waltsame, das Kleist’s Wesen kennzeichnet und seine Dich-
0056tungen prägt. Abgesehen von der poetischen Uebereinstimmung
0057— welche, wie gesagt, ebensosehr in dem guten Willen un-
0058serer eigenen Phantasie, als in der Partitur selbst liegt —
0059ist Joachim’s Kleist-Ouvertüre ein edel gedachtes, mit tüch-
0060tiger Kunst ausgeführtes Tonstück, wie deren heute nicht
0061allzu viele auf den Markt kommen.


0062Am 23. d. M. hatte das Philharmonische Concert einen
0063ganz ungewöhnlichen Andrang von Besuchern auszuhalten;
0064derselbe galt einer neuen Orchester-Composition von Brahms,
0065dem Concert für Violine und Violoncell, op. 102. Joseph
0066Joachim, der Geigerkönig, und der jüngere, kaum geringere
0067Violoncell-Virtuose Robert Hausmann waren zur Aus-
0068führung dieses Werkes eigens von Berlin hiehergereist und
0069spielten es mit jener souveränen Beherrschung und vollendeten
0070Noblesse, die wir an ihnen zu bewundern gewohnt sind.
0071Composition und Ausführung fanden außerordentlichen Beifall,
0072Brahms, nach dem Andante stürmisch gerufen und lange
0073vergeblich gesucht, wurde endlich von Hanns Richter in einem
0074Versteck hinter den Contrabässen aufgespürt und mit sanfter
0075Gewalt vor das unermüdlich applaudirende Publicum ge-
0076zogen. Der große Erfolg der Novität in Wien ist somit
0077unwidersprechlich. Es thut mir leid genug, gestehen zu müssen,
0078daß mir persönlich das Doppelconcert keinen so hohen Genuß
0079gewährt hat, wie die früheren großen Werke von Brahms.
0080Gedenke ich seiner Symphonien, seiner beiden Clavier-
0081concerte, seiner Kammermusiken, so vermag ich jenes nicht
0082in die erste Reihe von Brahms’ Schöpfungen zu stellen.
0083Schon die Gattung hat von Haus aus etwas Bedenkliches.
0084So ein Doppelconcert gleicht einem Drama, das anstatt
0085Eines Helden deren zwei besitzt, welche, unsere gleiche Theil-
0086nahme und Bewunderung ansprechend, einander nur im
0087Wege stehen. Wenn man aber von einer Musikform be-
0088haupten darf, daß sie auf der Uebermacht Eines siegreichen
0089Helden beruht, so ist’s das Concert. Haben wir nicht etwas
0090Aehnliches in der Malerei? Die Künstler wehren sich gegen
0091Doppelporträts, mögen nicht gern Mann und Frau auf
0092Einer Leinwand verewigen. Gleiche Instrumente (zwei
0093Violinen, zwei Claviere) fügen sich, wie die ältere Musik-
0094Literatur uns zeigt, schon leichter zu einem Concert, als zwei
0095Principalstimmen von so verschiedener Tonhöhe, wie Violine
0096und Violoncell. Ist bereits gegen das Violinconcert von
0097Brahms die Bemerkung gefallen, es sei darin der Sologeige
0098nicht die ihr zukommende Herrscherstellung eingeräumt, so
0099verschärft sich noch dieser Einwand gegen das Doppelconcert,
0100worin beide Solo-Instrumente nicht blos vom Orchester,
0101sondern obendrein von einander in den Schatten ge-
0102drängt werden. Das Violoncell ist gegen die Violine mit
0103einiger Vorliebe bedacht; doch scheinen mir hier dem In-
0104strumente Dinge zugemuthet, die von Virtuosen zwar aus-
0105führbar, aber nicht in der eigensten Natur des Instrumentes
0106gelegen sind. Die Solo-Violine wird gleich im ersten Satz
0107von den dreifach getheilten Geigen des Orchesters, welche wie
0108Feuergarben die Luft durchschneiden, verdunkelt. Beide Solisten
0109haben keine entscheidende, führende Rolle in dieser ganz
0110symphonisch behandelten Composition; nur selten schwingen
0111sie sich für längere Zeit siegreich über die mächtige Orchester-
0112fluth, in welche sie alsbald wieder untertauchen. So gleicht
0113das Doppelconcert mehr einer Symphonie, welche von einer
0114Geige und einem Violoncell mit feinem Passagenwerk ausge-
0115schmückt wird. Um ein bedeutendes Kunstwerk sind wir jeden-
0116falls reicher, das versteht sich bei Brahms von selbst. Dieses
0117Kunstwerk dünkt mir jedoch mehr die Frucht eines großen
0118combinatorischen Verstandes zu sein, als eine unwiderstehliche
0119Eingebung schöpferischer Phantasie und Empfindung. Wir
0120vermissen daran die Frische und Ursprünglichkeit der
0121Erfindung, den melodischen und rhythmischen Zauber. Wie
0122geistreich Brahms jedes Motiv zu wenden, zu variiren, aus[2]-
0123zunützen versteht, ist bekannt; auch in seinem Doppel-
0124concert bewundern wir die Kunst der Durchführung.
0125Allein das, was durchgeführt wird, der thematische Stoff
0126scheint mir für ein so großes Werk nicht bedeutend genug.
0127So empfangen wir denn nachgerade den Eindruck eines
0128Theaterstückes, in welchem alle Personen sehr gescheit und
0129geistreich sprechen, wo es aber zu keiner Handlung kommen
0130will. Dies gilt vornehmlich von den beiden äußeren Sätzen.
0131Der erste Satz, der kunstreichste von allen, kommt aus der
0132halb trotzigen, halb gedrückten Stimmung und aus der
0133A-moll-Tonart nicht hinaus. Durch seine vielen Vorhälte,
0134Synkopen und rhythmischen Rückungen, seine übermäßigen
0135und verminderten Intervalle bricht nur selten das helle
0136Tageslicht. Fast werden mir an Schumann’s spätere Manier
0137erinnert. Auch das Thema des letzten Satzes steht nicht auf
0138der Höhe von Brahms’ Genius; ein kleines, in engen
0139Maschen zappelndes Motiv, mehr verdrießlich als heiter. Der
0140Hörer hofft nach diesem kleinlichen Anfang auf eine kräftige,
0141glänzende Steigerung; aber wo diese Miene macht, einzu-
0142setzen (F-dur, fortissimo), erlahmt der Rhythmus und bewegt
0143sich, von den Bleikugeln schwerer Triolen gefesselt, nur
0144stockend vorwärts. Ein Labsal zwischen diesen beiden Sätzen
0145ist des Andante in D-dur. Das Thema, eine lieblich ein-
0146fache Melodie, von beiden Solo-Instrumenten all’ ottava
0147gesungen, breitet ein wohliges Behagen über Spieler und
0148Hörer. Das knapp begrenzte Stück zählt zwar nicht zu den
0149bedeutendsten Andantesätzen von Brahms, gewiß aber zu den
0150gefälligsten; es dürfte überall entscheidend werden für den
0151Erfolg des ganzen Werkes. In Wien hat dieser Erfolg sich
0152so glänzend gestaltet, daß mein bescheidenes Separatvotum,
0153welches keinen anderen Anspruch als den der Aufrichtigkeit
0154macht, bereits thatsächlich cassirt erscheint. Dafür beglückte
0155mich am Sonntag zuvor die Wahrnehmung, wie die Liebe
0156und Bewunderung, mit welcher sich vor 21 Jahren das
0157anfangs so spröde aufgenommene „Deutsche Requiem
0158begrüßt hatte, heute zum Allgemeingefühl gediehen ist. Dieses
0159wundervoll tiefe und schöne Werk ragt als ein Monument
0160empor, welches Jahrhunderte überdauern wird. Reiche, aus
0161dem Vollen schöpfende Phantasie, gewaltiger Aufschwung und
0162rührende Innigkeit verschmelzen hier untrennbar mit
0163einer künstlerischen Meisterschaft ohnegleichen. Die deutsche
0164Nation zählt das Requiem von Brahms zu ihren unverlierbaren 
0165Schätzen; es hat seit seinem Erscheinen Hunderttausende ge-
0166tröstet, erhoben, beglückt. In Wien wiederholt gegeben, ist
0167das „Deutsche Requiem“ kaum je zuvor mit solcher Weihe
0168gesungen, mit so viel Andacht und Verständniß gehört wor-
0169den, wie in der letzten meisterhaften Aufführung unter Hanns
0170Richter. Herrn Reichmann’s klangvolle Stimme, die sich
0171nur etwas zu opernhaft frei bewegte, und der einfach herz-
0172liche Vortrag Fräulein Forster’s unterstützten diese Pro-
0173duction, welche wir zu den erhebendsten musikalischen Genüssen
0174unseres Lebens zählen.


0175Von den zuletzt hier gehörten Virtuosen sind als die
0176hervorragendsten der Geiger Eugen Hubay und die Pianistin
0177Marie Jaëll zu nennen. Herrn Professor Hubay kennen
0178die Wiener bereits als einen der bedeutendsten Violinspieler
0179der Gegenwart. Ueber seine solide und brillante Technik
0180brauchen wir nicht neuerdings redselig zu werden; was uns
0181wichtiger ist: er spielt warm und musikalisch. Ein ziemlich
0182bunt zusammengestelltes Programm gestatte Herrn Hubay,
0183sich in den verschiedenartigsten classischen und modernen Auf-
0184gaben zu bewähren. Am glänzendsten that er dies in drei
0185Sätzen aus S. Bach’s H-moll-Suite für die Geige allein.
0186Nach dem berühmten „Air“ von Bach, welches Hubay mit
0187großer Innigkeit und — bis auf den Triller auf der vor-
0188letzten Note — durchaus streng im Tact vortrug, wollte der
0189Beifall kein Ende nehmen.


0190Frau Marie Jaëll haben wir seit ihren letzten Wiener
0191Concerten im Jahre 1883 ziemlich unverändert wieder-
0192gefunden, und somit auch unser Urtheil von damals. Es ist
0193nicht leicht, über Frau Jaëll zu schreiben. Sie besitzt Geist
0194und eine enorme Technik, verwendet aber beides so ungleich
0195und excentrisch, daß man oft schwankt, ob man ihr Spiel
0196genial nennen soll oder talentlos. Eigentlich beides zugleich:
0197äußerlich genial, innerlich talentlos. Was sie spielt, ver-
0198schwimmt romantisch in einem ununterbrochenen Pedalrausch;
0199zwei Forte-Stücke vermag man oft kaum von einander zu
0200unterscheiden. Die Compositionen der Frau Jaëll bezeugen
0201mehr das schwache als das schöne Geschlecht. Eine Reihe
0202kleiner Charakterstücke betitelt sie „Prisme, problêmes en
0203musique“. Sie gehören, wie die Componistin selbst, zu den
0204problematischen Naturen in der Kunst, welche zwar durch
0205ihre Ungewöhnlichkeit momentan interessiren, aber doch weit
0206mehr Verwunderung als Freude erregen.