Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8739. Wien, Samstag, den 22. December 1888

[1]

Zwei Musiker-Biographien.


0002Ed. H. Zwei neue Werke namhafter französischer Musik-
0003schriftsteller haben soeben die Presse verlassen: ein Buch von
0004Adolphe Jullien über Berlioz und eine Biographie 
0005des großen Geigers Viotti von Arthur Pougin. Das
0006Leben dieser beiden Tonmeister ist uns der Hauptsache nach
0007vertraut, aber eine vollständige und ganz verläßliche Bio-
0008graphie besitzen wir weder von Berlioz noch von Viotti. Es
0009ist ein Verdienst der genannten französischen Musik-Historiker,
0010diese Lücke ausgefüllt zu haben.


0011Von A. Jullien ist bekanntlich vor zwei Jahren ein
0012prachtvoll ausgestattetes, reich illustrirtes Buch über Richard
0013Wagner erschienen, das rasche Verbreitung und Anerkennung
0014gefunden hat. Diese Anerkennung, die dem Verfasser, wie er
0015sagt, aus allen Theilen Europas, namentlich aus Deutsch-
0016land, zuströmte, habe seinem Dankgefühl eine Verpflichtung
0017auferlegt. Warum, hieß es in Pariser Kritiken, erweist Herr
0018Jullien nicht dem großen französischen Tondichter die-
0019selbe literarische Huldigung, die er dem deutschen Meister
0020dargebracht? Es bedurfte keines allzu starken Drängens, um
0021den Biographen Richard Wagner’s zu einem ähnlichen Werke
0022über Berlioz zu veranlassen.*) Beide Tondichter verbinde
0025ja die Aehnlichkeit des Genies und der Schicksale, beide seien
0026bei Lebzeiten verkannt und verfolgt worden und erst nach
0027ihrem Tode zur vollen Anerkennung gelangt. Bezüglich dieses
0028Umschwunges der öffentlichen Meinung constatirt jedoch
0029Jullien einen wichtigen Unterschied: „Berlioz ist zu seinem
0030Glück der schlimmsten Gefahr entgangen: dem maßlosen
0031Eifer falscher Freunde, die verderblicher sind, als erklärte
0032Gegner. Er ist nach seinem Tode für Alle derselbe geblieben,
0033der er im Leben war: ein Musiker und nur ein Musiker.
0034Er wurde niemals die Beute schlauer Menschen, deren an-
0035scheinende Begeisterung im Grund sehr überlegt und kalt
0036berechnet ist. Das war leider Wagner’s Schicksal. Gegen
0037das Ende seines Lebens, noch mehr seit seinem Hinscheiden, 
0038hat eine engherzige, eifersüchtige Secte es unternommen,
0039Wagner’s Andenken auszubeuten, angeblich um es zu ver-
0040herrlichen. Diese kleine Gemeinde, deren Priester sich nicht
0041ohne Lachen ins Gesicht sehen können, hat, um die öffentliche
0042Aufmerksamkeit zu erregen, besondere Formeln für den
0043Wagner-Cultus erdacht, eine eigene Sprache dafür erfunden.
0044Niemand darf es wagen, sich mit Wagner zu beschäftigen,
0045ohne sich zuvor diesen Aposteln des Neu-Wagnerismus zu
0046unterwerfen. Ihr Bannfluch trifft Jeden, der sich unterfängt,
0047über Wagner zu schreiben, ohne von ihnen die Licenz erhalten
0048zu haben. Ein Biograph Berlioz’ hat keinen Bannfluch
0049einer exclusiven Kaste zu fürchten.“ Immerhin stellen sich
0050zahlreiche Schwierigkeiten anderer Art ihm entgegen. Zwar
0051sollte man glauben, daß die von Berlioz selbst verfaßten
0052Memoiren, diese ausführlichste und interessanteste Autobio-
0053graphie, jeden späteren Versuch überflüssig mache. Allein dem
0054ist nicht so. Man weiß heute, daß jene Memoiren in wich-
0055tigen Punkten unzuverlässig sind und vielfach gegen die Wahr-
0056heit verstoßen. Voll absichtlicher Verschweigungen und unwill-
0057kürlicher Irrthümer, für die Oeffentlichkeit romanhaft her-
0058gerichtet und von Widersprüchen wimmelnd, sind Berlioz’
0059eigene Memoiren zwar eine fesselnde Lectüre, aber keine ganz
0060reine Quelle. Wir müssen sie durchwegs unter die Controle
0061von Berlioz’ intimen Briefen stellen; nur in diesen spricht
0062sich Berlioz gegen seine Freunde offenherzig, ja mit überschwäng-
0063lichem Vertrauen aus. „Berlioz intime“ heißt das merkwür-
0064dige von Ed. Hippeau herausgegebene Buch, welches unerwartete
0065Aufschlüsse über die dunkelsten Partien in Berlioz’ Leben geliefert
0066hat, insbesondere über seinen Roman mit Miss Smithson 
0067(seiner nachmaligen Gattin), seine dazwischen aufgetauchte
0068Leidenschaft für die schöne Camilla Moke, welche mit
0069Berlioz kaum die Verlobungsringe gewechselt hatte, als sie
0070Herrn Pleyel heiratete u. s. w. Herr Jullien hat diese inti-
0071men Briefe von Berlioz im Original eingesehen, auch werth-
0072volle Mittheilungen von dessen Freunden und Bekannten er-
0073halten, somit ein tüchtiges Material für sein Buch beisammen
0074gehabt. In der Beurtheilung seines Landsmannes zeigt er
0075sich unerwarteterweise objectiver, weniger von Enthusiasmus
0076befangen, als Wagner gegenüber. Auch ist er, wie von
0077einem Pariser zu vermuthen war, besser über Berlioz infor-
0078mirt, als über die Einzelheiten in Wagner’s Leben. In der
0079Buchhändler-Anzeige des Verlegers heißt es: „Jullien’s Buch 
0080über Wagner steht absolut ohne Vorgänger da und wehrt 
0081auch jeden Nachfolger in- und außerhalb Frankreichs ab; es
0082ist ein livre définitif über Wagner.“ Das ist nicht
0083richtig, kann nicht richtig sein. Denn als Herr Jullien seinen
0084Wagner“ schrieb, waren biographische Quellen von höchster
0085Wichtigkeit noch nicht erschlossen; ich erinnere nur an den vor
0086Jahresfrist erschienenen Briefwechsel zwischen Liszt und Wagner,
0087ohne dessen Kenntniß und gründliche Benützung eine „definitive
0088Biographie“ Wagner’s nicht möglich ist. Auch heute scheint mir
0089dafür noch nicht die Zeit gekommen; eine vollständige und
0090unparteiische, eine „definitive“ Biographie Wagner’s wird
0091erst später geschrieben werden, und hoffentlich von einem
0092Deutschen. Hingegen dürfte der „Berlioz“ des Herrn
0093Jullien späteren Biographen nur eine spärliche Nachlese ver-
0094gönnen. Gegen das Thatsächliche seiner Erzählung wird sich
0095wenig einwenden lassen, sie ist auch geschickt angeordnet und
0096lebhaft vorgetragen. Was Jullien’s Urtheile über die ein-
0097zelnen Compositionen von Berlioz betrifft, so bleibt es
0098natürlich dem Geschmacke eines Jeden freigestellt, ob er da-
0099mit übereinstimme oder nicht. Die musikalische Kritik ist
0100nicht Herrn Jullien’s starke Seite, zum Glück ist sie auch
0101nicht das Wichtigste gerade in diesem Buche. In einiger
0102Verlegenheit mochte sich Herr Jullien befinden, als er den
0103Krieg zwischen Berlioz und Wagner zur Sprache bringen
0104mußte. Er liebt ja beide Meister leidenschaftlich, und ebenso
0105leidenschaftlich haben die Beiden einander gehaßt. Ihr freund-
0106schaftliches Einvernehmen in London, von welchem Wagner’s
0107Briefe an Liszt Zeugniß geben, währte eben nur so lange,
0108wie diese kurze Londoner Episode. Empört, daß man ihn
0109„zum Haupt jener unsinnigen Schule machen wolle, welche
0110man in Deutschland die der Zukunft nennt“, schrieb Berlioz 
0111gelegentlich der Pariser Orchester-Concerte Wagner’s eine
0112scharfe Kritik gegen diesen. War Berlioz unerbittlich streng
0113gegen Wagner, so ist Wagner gegen Berlioz grausam ge-
0114wesen. Letzterer machte kein Hehl aus seinem Haß. Als er
0115in einer Gesellschaft sich in maßlosen Ausfällen gegen Wagner 
0116gefiel, erlaubte sich eine Dame die schüchterne Bemerkung,
0117daß Berlioz und Wagner ihr doch mannigfach verwandt
0118vorkämen in ihrer Richtung. Berlioz empfand dies als die
0119ärgste Beleidigung, sprang auf und verließ entrüstet die
0120Gesellschaft. Es wurmte ihn tief, wenn man von
0121Wagner und Berlioz“ sprach; als aber deutsche Jour-
0122nale gar das Trifolium, „Wagner—Liszt—Berlioz“
0123aufbrachten, kannte sein Zorn keine Grenzen. Herr [2]
0124Jullien zieht sich zwischen diesen Gegnern so heil als
0125möglich aus der Affaire. Er hätte es aber offen aussprechen
0126können, daß Wagner zwar keine Symphonie wie „Romeo
0127und Julie“ zu schreiben vermochte, daß aber noch viel
0128weniger Berlioz sich als Operncomponist mit Wagner 
0129irgendwie messen kann. Wagner hatte den großen Verstand,
0130mit ganzer Kraft ausschließlich auf dem ihm entsprechenden
0131dramatischen Gebiete zu verharren, während Berlioz einer
0132traurigen Selbsttäuschung gefolgt ist, als er den Ehrgeiz
0133seiner alten Tage für eine riesige Opernschöpfung („Les
0134Troyens“) anspannte, welche doch schließlich die Unzuläng-
0135lichkeit seiner dramatischen Begabung bewies. Ich theile
0136keineswegs die Ansicht, daß „die Zukunft“ diesen Trojanern 
0137noch den erhofften Lorbeer reichen werde. Schon das von
0138Berlioz aus Virgil’s Aeneïde gezimmerte trostlose Textbuch
0139macht die Oper halb unmöglich; die Musik ist in großem
0140Sinn concipirt, aber lahm, stockend, unlebendig, ist falscher
0141Gluck. Das hindert uns nicht, den Franzosen als grobe Ver-
0142nachlässigung vorzuwerfen, daß sie seit Berlioz’ Tode, also
0143seit zwanzig Jahren, nicht daran gedacht haben, eine seiner
0144Opern aufzuführen. So viel Pietät oder wenigstens so viel
0145Neugierde sollte man doch bei Berlioz’ Landsleuten voraus-
0146setzen. Kein Pariser Theater denkt an eine Aufführung von
0147Beatrice und Benedict“ oder „Benvenuto Cellini“ — zwei
0148leicht darzustellende, in Deutschland wiederholt gegebene und
0149mit schönen Einzelheiten geschmückte Opern — noch weniger
0150an eine Wieder-Erweckung der „Trojaner“. „Beatrice und
0151Benedict“ (nach Shakespeare’s Lustspiel „Viel Lärm um
0152Nichts“) ist in Frankreich bis heute unbekannt; die erste Ab-
0153theilung der „Trojaner“ (der Fall Trojas) gleichfalls un-
0154bekannt; „Benvenuto Cellini“, vor fünfzig Jahren in Paris 
0155durchgefallen, ist nie wieder gegeben worden; die „Trojaner
0156in Karthago“ nach wenigen Aufführungen im Théâtre
0157Lyrique (1863) für immer verschwunden. So lange die
0158Franzosen, welche in der Musik doch vorzugsweise eine
0159Theater-Nation sind, die vierfache Ehrenschuld nicht abge-
0160tragen haben — gleichviel mit was für einem Erfolg — so
0161lange haben sie wenigstens keinen Grund, mit ihrer posthumen
0162Berlioz-Verehrung gar so groß zu thun.


0163Der decorative Schmuck, welcher der Wagner-Biographie 
0164Jullien’s den größten Reiz verlieh, kommt auch seinem
0165Berlioz“ vollauf zu statten. Das Buch, ein wahrer Pracht-
0166band, enthält 14 große Original-Lithographien von Fantin-
0167Latour, zwölf Porträts von Berlioz aus dessen verschiedenen
0168Lebensepochen und 122 kleinere Stiche: Autographe, Künstler-
0169bildnisse, Theaterscenen, Caricaturen. Letztere sind besonders
0170zahlreich und ergötzlich, denn Berlioz’ scharf ausgeprägte Per-
0171sönlichkeit und excentrische Kunstrichtung hat dem Griffel der
0172Satiriker unerschöpflichen Stoff geboten.


0173Unter den berühmten Geigern erscheint Jean Baptiste
0174Viotti (geboren 1753 in dem piemontesischen Dorfe Fonta-
0175nello) als eine der hervorragendsten und merkwürdigsten Ge-
0176stalten. Er ist dies ebensosehr durch seine wechselvollen Lebens-
0177schicksale, wie durch den außerordentlichen Einfluß, welchen
0178sein Violinspiel und seine Compositionen ausgeübt haben, ja
0179durch die Schüler seiner Schüler noch heute verborgen aus-
0180üben. Unter den Italienern ist Viotti der letzte wahrhaft
0181große Repräsentant des classischen Violinspiels. In Paris 
0182haben seine wichtigsten Erlebnisse sich abgespielt, in Paris 
0183leben noch die verläßlichsten Traditionen seines Styls. So
0184ist es denn natürlich, daß uns aus Paris die erste voll-
0185ständige Biographie Viotti’s kommt, und zwar aus der Feder
0186Arthur Pougin’s, dessen historischen Spürsinn und rast-
0187losen Fleiß wir schon oft zu rühmen Gelegenheit hatten.**) 
0190Seltsam bleibt es immerhin, daß mancher Wendepunkt in
0191Viotti’s Laufbahn noch immer in Dunkel gehüllt ist. Be-
0192kanntlich ist Viotti, nachdem er mit seinem Meister Pugnani 
0193Deutschland und Rußland als Virtuose bereist hatte, in Paris 
0194zum erstenmale im Jahre 1782 aufgetreten, und zwar mit
0195außerordentlichem Erfolg. Nach achtzehn Monaten, in welchen
0196er in den Pariser Concerts spirituels nur Triumphe ge-
0197feiert, hörte Viotti plötzlich und für immer auf, in Paris 
0198öffentlich zu spielen. Nichts hat den erst neunundzwanzigjährigen
0199Künstler von diesem Vorsatz abzubringen vermocht. Ohne
0200Zweifel hat er durch irgend einen Vorgang sich in seinem
0201Künstlerstolz verletzt gefühlt; dieser Vorgang selbst ist
0202aber nicht aufgeklärt und war selbst Viotti’s Freunde
0203und erstem Biographen, Eymar, unbekannt geblieben.
0204Nur in seiner Wohnung, die er durch sechs Jahre mit
0205Cherubini gemeinschaftlich innehatte, spielte Viotti an
0206Sonntag-Vormittagen vor einem keinen geladenen Freundes-
0207kreise. Eines Tages entschließt sich Viotti zu seinem Unheil, 
0208Theater-Director zu werden. Léonard Antié (genannt „Léo-
0209nard“), ein berühmter Haarkräusler und Hof-Friseur der
0210Marie Antoinette, hatte durch hohe Protectionen das Privi-
0211legium des „Théâtre de Monsieur“ erlangt, welches drei
0212wichtige Gattungen pflegte: französische Oper, italienische
0213Oper und Schauspiel. Für die Ausübung dieses Privilegiums
0214verband sich der in Kunstsachen gänzlich unerfahrene Friseur
0215mit Viotti. Hätte dieser ahnen können, daß die Unternehmung
0216ihn ruiniren und in ihren Folgen seine ganze Zukunft unter-
0217graben würde! Im Grunde waren es doch materielle Inter-
0218essen, welche einen so großen gefeierten Künstler seinem eigent-
0219lichen Beruf entfremdeten. Es ist eine neuerdings von Wasie-
0220lewski hervorgehobene Wahrnehmung, daß der Hang zu kauf-
0221männischen Speculationen tief in der Natur des Italieners
0222stecke. Die Musikgeschichte des vorigen Jahrhunderts nennt
0223nicht wenige Beispiele. Muzio Clementi, der Meister des
0224Clavierspiels und der Clavier-Sonate, handelt mit Piano-
0225fortes. Von berühmten Geigern hatte Locatelli einen
0226Saitenverkauf in Amsterdam etablirt, Geminiani han-
0227delte mit Bildern, Giardini ruinirte sich als Opern-
0228Impresario. Viotti theilte dessen Geschick. In Folge der Re-
0229volutionsstürme scheiterte die Theater-Unternehmung. Die
0230Directoren büßten ihr Geld ein und fühlten sich als Schütz-
0231linge des Hofes in Paris nicht mehr sicher. Léonard flüchtete
0232nach Rußland, Viotti nach London. Hier muß der verarmte
0233Künstler 1792 von neuem anfangen. Er spielt mit großem
0234Erfolg in den durch Haydn’s Mitwirkung so berühmt ge-
0235wordenen Salomon’schen Concerten, wird auch als Nach-
0236folger W. Cramer’s Orchester-Dirigent im Kings-Theater.
0237Aber neues Mißgeschick wartet seiner. Er geräth in den Ver-
0238dacht politischer Conspirationen, wird fälschlich denuncirt und
0239gezwungen, England augenblicklich zu verlassen. Im Exil,
0240aus einem Landsitze in der Nähe von Hamburg,
0241sind seine besten Violin-Duette componirt. In der Vorrede
0242dazu spricht er das rührende Wort: „Dieses Werk ist die
0243Frucht der Muße, welche das Unglück mir verschafft. Einige
0244Stücke sind vom Schmerz dictirt, andere von der Hoffnung.“
0245Erst im Jahre 1801 wurde ihm, dem ganz schuldlos Ver-
0246bannten, die Rückkehr nach England gestattet, wo er bei der
0247ihm engbefreundeten Familie Chinnery sein liebgewohntes
0248Asyl wiederfand. Auffallenderweise fehlen von da an durch
0249fast fünfzehn Jahre alle directen Nachrichten über den Lon[3]-
0250doner Aufenthalt Viotti’s! Auch Pougin gelang es nicht,
0251dieses Dunkel aufzuhellen, bis auf einige kleine Episoden.
0252Anstatt zu seiner Geige zu greifen, wird Viotti Compagnon
0253eines Weinhändlers. Dieser macht Bankerott, und Viotti 
0254verliert abermals seine Ersparnisse. Im Jahre 1818 finden
0255wir ihn wieder in Paris, wo er nach dem Zusammensturz
0256seines letzten mercantilen Unternehmens irgend eine bleibende
0257Anstellung sucht. Unbegreiflicherweise dachte er auch jetzt nicht
0258daran, aus seiner Virtuosität, die ihm in Paris ein reich-
0259liches Einkommen hätte schaffen können, Nutzen zu ziehen.
0260Er beharrte bei seinem vor 20 Jahren gefaßten Vorsatz, in
0261Paris nicht mehr öffentlich zu spielen. Wiederum wird er
0262Theater-Director und abermals zu seinem Schaden. Sein
0263ehemaliger Protector, der nunmehr als Ludwig XVIII. den
0264Thron bestiegen hatte, ernennt Viotti zum Director der
0265Großen Oper und der damals damit vereinigten Italienischen
0266Oper. Seine Direction war keine glückliche und mußte sich
0267herbe Kritiken gefallen lassen. Aber in welche Unglückszeit
0268war der Arme wieder gefallen! Der Herzog von Berry war
0269im Opernhause, Rue Richelieu, ermordet worden. Sofort
0270wurde dieses Theater geschlossen und die Große Oper ge-
0271nöthigt, in das ganz unzureichende Théâtre Favart zu flüch-
0272ten. Die Folge davon war eine heillose Verwirrung in den
0273täglichen Arbeiten und eine nachhaltige Störung des Reper-
0274toires. Trotzdem hatte Viotti innerhalb 16 Monaten in
0275diesem Aushilfstheater sechs neue Opern zur Aufführung ge-
0276bracht. Im Interesse der Italienischen Oper beauftragte er
0277den später durch seine Oper „Zampa“ berühmten Herold,
0278nach Italien zu reisen, um dort tüchtige Sänger anzuwerben.
0279Herold unterhandelte mit der Pasta und — wie wir zum
0280erstenmale durch Pougin erfahren — auch mit Rossini,
0281welcher sich mit Freuden bereit erklärte, nach Paris zu kom-
0282men und dort seinen „Mosè“ zur Aufführung zu bringen.
0283Diese Oper (oder wie Rossini in seinem Brief an Viotti 
0284sie nennt: „L’oratorio de Moïse“) gelangte indessen erst ein
0285Jahr nach Viotti’s Demission im Théâtre Italien zur Auf-
0286führung. Herold hat auch die Proben zu „Mosé“ geleitet
0287und den Clavierauszug, wie er jetzt vorliegt, gemacht.
0288Viotti aber gebührt der Ruhm, dem künftigen Autor des
0289Guillaume Tell“ den Weg nach Frankreich gebahnt zu
0290haben. Die Große Oper jedoch sollte noch immer keine Ruhe
0291finden. Am 11. Mai 1821 schloß sie ihre Vorstellungen im
0292Théâtre Favart. Vor ihrer definitiven Installirung trieb man 
0293sie noch in ein zweites Provisorium, in das Théâtre Louvois,
0294eine geradezu lächerliche Maßregel, die sich nach vier Abenden
0295als unmöglich erwies. Endlich, nach langem Warten, erfolgte
0296am 16. August 1821 die feierliche Eröffnung des neuen
0297Opernhauses in der Rue Lepelletier, das wir Alle noch ge-
0298kannt haben.***) Diesmal war die Oper im eigenen Hause
0302bequem untergebracht und konnte ihre Thätigkeit regelmäßig
0303wieder aufnehmen. Viotti aber mußte für all die üblen Folgen
0304einstehen und büßen, welche aus einer so überaus verworrenen
0305und peinlichen Situation entstanden waren. Täglich warf
0306man ihm mit Bitterkeit die Unfruchtbarkeit seiner Direction
0307vor. Es blieb ihm nichts übrig, als seine Demission zu
0308geben. Am 1. November, genau 2 Jahre nach seinem Ein-
0309tritt in die Oper, schied er aus derselben mit einer Pension
0310von 6000 Francs. Viotti hatte den Muth gehabt, mit
031166 Jahren diese schwere Last auf sich zu nehmen; nun quälte
0312ihn Reue und Scham über die Nutzlosigkeit seiner Anstren-
0313gungen. Was er nun weiter gethan hat? Wir wissen es
0314nicht, wissen absolut nichts weiter von ihm, von diesem
0315Augenblick an bis zu seinem Tode. Bekannt ist nur, daß
0316Viotti eine letzte Reise nach England vorhatte, um einige
0317Angelegenheiten zu ordnen, und daß ihn, bevor er nach
0318Frankreich zurückkehren konnte, der Tod überrascht hat.
0319Man hatte Viotti so völlig aus den Augen verloren, daß
0320sogar der Ort und der Tag seines Hinscheidens zweifelhaft
0321sind. Pougin’s Annahme, Viotti sei am 3. März 1824 in
0322London (nicht in Brighton) gestorben, hat die größte Wahr-
0323scheinlichkeit für sich. Das Buch von Arthur Pougin, dem
0324nichts Wünschenswerthes abgeht, als ein Porträt Viotti’s,
0325bringt in seiner letzten Abtheilung eine werthvolle Studie
0326über das Spiel und die Compositionen des Meisters. Ich
0327glaube, daß uns heute Joachim’s Spiel die an-
0328nähernd beste Vorstellung von der großen, edlen Vortrags-
0329weise Viotti’s zu geben vermag. Er ist auch der Einzige,
0330welcher noch Concerte von Viotti öffentlich spielt. Daß
0331etwas von Viotti’s Styl auf Joachim übergegangen sei,
0332läßt sich auch genealogisch erklären. Joachim ist ein Schüler
0333unseres Joseph Böhm, dieser hatte bei Rode studirt,
0334dem besten Schüler Viotti’s. So ist denn Joachim musi-
0335kalisch ein directer Nachkomme des großen Viotti.

Fußnoten
  • *)Adolphe Jullien: „Hector Berlioz, sa vie et ses oeuvres.“
    (Paris, librairie de l’art, 1888.)
  • **)Arthur Pougin: „Viotti et l’ecole moderne du violon.“
    (Paris, maison Schott, 1888.)
  • ***)Dieses Theater, abgebrannt am 28. October 1873, war der
    Vorgänger des gegenwärtigen neuen Opernhauses in Paris, das am
    5. Januar 1875 eröffnet worden ist.