Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9085. Wien, Sonntag, den 8. December 1889
[1]Concerte.
0002Ed. H. „Im Frühling“ betitelt Goldmark die neue
0003Ouvertüre, welche jüngst im Philharmonischen Concert ihre
0004erste Aufführung erlebte. Die Aufschrift hat uns hoffnungs-
0005voll und doch zugleich etwas ängstlich gestimmt. Freuen
0006mußten wir uns, daß Goldmark, diese höchst pathetische
0007Natur, einen Stoff gewählt habe, welcher alle verschneiten
0008Wonnen des Gemüthes und der Sinne lebendig macht.
0009Freilich gibt es Schwarzseher und Schwarzfühler, die ihre
0010Lieblingsfarbe als Byron’scher Weltschmerz oder Schopen-
0011hauer’sche Galligkeit auch in den Frühling hineintragen.
0012Wird Goldmark, der gewaltige Dissonanzen-König, es über
0013sich gewinnen, dem Mai zuliebe seine schneidendsten Accorde
0014zu verabschieden? Wird er den Frühling verherrlichen, ohne
0015ihm zugleich Opposition zu machen? Wird er uns nicht gift-
0016flammende Blüthen aus dem Orient herüberbringen und
0017Nachtigallen aus Bayreuth? So ungefähr flüsterten unsere
0018Besorgnisse. Goldmark hat sie auf das liebenswürdigste
0019und beinahe vollständig besiegt. Ohne alles Präludiren
0020setzt seine „Frühlings-Ouvertüre“ mit einem jubelnden
0021Thema in A-dur ein, das nach einigen beschwichtigen-
0022den Tacten sich in As-dur, dann mit aller Kraft in
0023C-dur wiederholt, um endlich in ein zweites Thema von
0024idyllischer Harmlosigkeit einzulenken. Beide Themen bieten
0025günstige und geistreich verwendete Motive für die ziemlich
0026umfangreiche Durchführung; Finkenschlag und Lerchentriller,
0027wie man sie natürlicher nicht wünschen kann, liefern dazu
0028den lieblichsten Aufputz. Ganz und gar ohne Besuch in
0029„Wahnfried“ geht es freilich nicht ab: Wagnerische Har-
0030monien, anfangs schüchtern und vereinzelt, stürzen später
0031als wilde Jagd von den Bergesgipfeln hernieder: synkopirte
0032chromatische Sext-Accorde der Geigen und Holzbläser, gegen
0033welche Bässe und Posaunen eine schauerliche Procession von
0034aufsteigenden verminderten Septim-Accorden ins Feld führen.
0035Das ist nicht das obligate Frühlingsgewitter, auf das man
0036gerechnet hatte; eher eine kleine Vorprobe des Weltunter-
0037ganges, wobei Flüsse, Wälder, Gebirge durcheinander-
0038purzeln und alles Engeweide des Erdballes zu platzen
0039droht. Zum Glück geht die Episode schnell vorüber;
0040noch einmal, jetzt etwas ausführlicher und bequemer, erschallt
0041das herzige Vogel-Concert, und jauchzend fliegt in stürmischem
0042Allegro das Ganze zum Schlusse. Wir zählen die „Frühlings-
0043Ouvertüre“ zu Goldmark’s erfreulichsten Orchester-Composi-
0044tionen; nicht als ob die einzelnen Themen gerade bedeutend
0045wären, aber sie sind so lebendig in Fluß gebracht, Alles so
0046warm empfunden und so frisch gemalt, daß die Wirkung
0047nirgends versagen wird. Die unter Hanns Richter’s Leitung
0048glanzvoll ausgeführte Novität wurde durch stürmischen Bei-
0049fall und wiederholten Hervorruf des Componisten aus-
0050gezeichnet.
0051Anspruchsvoller als die Goldmark’sche führte sich eine
0052zweite Novität ein: „Symphonische Variationen für großes
0053Orchester“ von J. L. Nicodé. Es sind ihrer zwölf an der
0054Zahl, nebst Einleitung und Finale. Ein Programm in
0055Form einer schwülstigen lyrischen Rhapsodie ist dem
0056Ganzen vorgedruckt und außerdem in seinen einzelnen Ab-
0057schnitten den betreffenden Variationen überschrieben. Das
0058„Präludium“, das unter dem tragischen Donner von drei
0059Pauken (in h, c, d) und erschütterndem Getöse aller
0060Blech-Instrumente sich abspielt, führt folgende Aufschrift:
0061„Kühnen Fluges schwing’ dich empor zu lichten Höhen! Nur
0062dort ist deine Heimat, im Reiche der Schönheit, wo ewig
0063und heiter blühet das Glück! Dort koste Schöpferwonnen!“
0064Wir möchten nicht behaupten, daß diesen Schöpferwonnen
0065gleich unermeßliche Hörerwonnen auf unserer Seite ent-
0066sprechen, aber das dem grausigen Präludium folgende Thema,
0067sowie auch die ersten sieben Variationen, die anmuthig er-
0068funden und wirksam instrumentirt sind, machen einen gün-
0069stigen, durchaus musikalischen Eindruck. Ueber der achten
0070Variation, einem blos von den tiefen Geigen mit Sordinen
0071vorgetragenen Adagio in As-dur, sehen wir folgende Orien-
0072tirungstafel: „Mächtiger doch, als der Muse Lockruf, wirkt
0073die Liebe. Wonnige Träume! Himmlische Seelenzwiesprach!
0074Höchstes Entzücken! Weltentrücken! Glanz, Licht meiner Seele!
0075Ich lebe von deinem Athem!“ Es wäre allenfalls begreiflich,
0076wenn Jemand nach der Lectüre dieses Gefasels, das ein orche-
0077strales Nachstammeln Tristan’s und Isoldens befürchten läßt,
0078gleich die Flucht ergriffe. Der Flüchtling würde sich indeß um einige
0079der gelungensten Variationen des Herrn Nicodé gebracht haben.
0080Besonders gefielen der zärtliche Gesang der neunten und die
0081brillanten Violinpassagen der zehnten Variation. Nachdem
0082wir hinreichend lange „von Ihrem Athem gelebt“ haben,
0083wird uns nach der zwölften Variation wiederum eine neue
0084Coulissen-Veränderung verkündigt: „November! Draußen
0085ist’s kalt, drinnen noch kälter! Oede die Welt, starr das
0086Herz! Alles einsam, leer! Zu Klängen tiefernster Chöre
0087tragen die Priester die einstige verlor’ne Hoffnung zu Grabe!“
0088Ein Begräbnißmarsch erhitzt sich allmälig bis zu einem
0089feurigen Allegro, welches seinerseits wieder in das verzweifelte
0090Pathos des Präludiums („Schwing’ dich empor!“) übergeht.
0091Kriegerische Trompeten-Fanfaren allarmiren das „Reich der
0092Schönheit“, und — Ueberraschungen ohne Ende — eine
0093ganz kurze Flötenmelodie mit Harfenbegleitung beschließt
0094pianissimo das Ganze. Darüber steht nur das Eine räthsel-
0095hafte Wort: „Amarantha!“
0096Die „Symphonischen Variationen“ (das einzige uns be-
0097kannte Werk des sehr productiven Dresdener Componisten)
0098verrathen keine starke Originalität, aber eine sehr geschickt
0099ausführende Hand, eine gewisse Eleganz, auch Feinheit des
0100Geschmackes, wo Nicodé auf musikalisch reinem Boden ver-
0101harrt und nicht den Irrlichtern seines poetischen Programms
0102nachjagt. Letzteres hat uns ein wenig gegen die Composition
0103selbst voreingenommen. Es ist gewiß ebensowenig zu billigen,
0104wenn wir ein an sich verständliches und gutes Tonstück
0105wegen seines geschmacklosen Programmes ablehnen, als wenn
0106wir eine verfehlte Composition mit deren poetischen Vorsätzen
0107entschuldigen, das heißt uns nicht an das halten, was der
0108Tondichter wirklich gibt, sondern an das, was er laut Pro-
0109gramm auszudrücken beabsichtigte. Weder im Schlimmen noch
0110im Guten soll man sich voreinnehmen lassen. Aber, so
0111fragen wir, hat denn der Componist sich nicht selbst vorbe-
0112stimmen, verleiten, verderben lassen durch sein Programm,
0113das ihm in musikalischem Erfinden und Entwickeln jeden
0114Augenblick die Hände bindet? Und gibt es eine Form, die
0115auf rein musikalisches, programmloses Bilden mehr ange-
0116wiesen wäre, als die Variationenform? Herr Nicodé ist ein
0117zu begabter und sicherer Musiker, als daß er nothwendig
0118hätte, für seine Erfindungen Sinn und Zusammenhang von
0119irgend einem Poeten zu erbetteln. Und mit was für Brocken
0120er diesen Sinn und Zusammenhang herstellt, das weiß der
0121Leser aus den „Poesien“, die ich nicht ohne Selbstüberwin-
0122dung wortgetreu citirt habe. Derlei Suggestiv-Compositionen
0123verrathen jederzeit das Gefühl unzureichender musikalischer [2]
0124Kraft und Klarheit und bekommen immer ein schielendes,
0125dilettantisches Aussehen. Möglich, daß einige schwärmerische
0126Seelen aus Nicodé’s Gedicht heraus sich für seine Varia-
0127tionen begeistern werden; auf jeden guten Musiker wird es
0128eher die entgegengesetzte Wirkung machen.
0129Das von Herrn Hummer gespielte „Violoncell-
0130Concert“ von Händel ist ein Arrangement des Oboë-Con-
0131certs in G-moll, das sich im 21. Band der großen Händel-
0132Ausgabe, Seite 100, vorfindet. Dasselbe beginnt mit einem
0133markigen Grave, dem sich gleichfalls in G-moll ein Allegro
0134anschließt; diesem folgt eine langsame, überaus einfache
0135Sarabande und zum Schluß ein munteres Allegro im
0136Dreivierteltact. Das ganze Concert ist in der Weise seiner
0137Zeit tüchtig und charakteristisch. Die Uebertragung der Oboë-
0138Stimme auf das Violoncell (von Herrn Bachrich mit
0139Geschick und Bescheidenheit bearbeitet) geschah offenbar Herrn
0140Hummer zulieb, der das Stück ausgezeichnet vortägt. Trotz-
0141dem finde ich keinen Anlaß, meine wiederholt ausgesprochene
0142Meinung über derlei Bearbeitungen zu widerrufen.
0143Findet man ein Tonstück schön und der Aufführung
0144werth, so spiele man es getrost in der Original-
0145gestalt; es wird dadurch nicht verlieren, wir aber werden
0146wenigstens eine richtige Kenntniß gewonnen haben. Concerte
0147von Blasinstrumenten sind freilich gänzlich außer Mode ge-
0148kommen; in früheren Zeiten, da kaum eine „Musikalische
0149Akademie“ für complet galt, ohne ein Bravourstück für
0150Flöte, Oboë oder Clarinette, wurde man damit überfüttert.
0151Um keinen Preis möchten wir diese Ueberfütterung wieder,
0152allein das grundsätzliche Zurückweisen jedes solchen Solos
0153scheint mir doch auch eine übertriebene philharmonische Prü-
0154derie. Man muß nur nicht irgend einem Virtuosen zu Ge-
0155fallen schlechte Concertstücke zulassen, sondern gute Composi-
0156tionen durch virtuose Solisten aus ihrer Verschollenheit zeit-
0157weilig hervorziehen. Von einem Oboisten geblasen, hätte das
0158Händel’sche Concert schon der Seltenheit wegen vielleicht noch
0159mehr interessirt. Ebenso gern würden wir einmal eines der
0160besten Clarinett-Concerte von C. M. Weber hören, welche
0161bekanntlich in besonderer Gunst des deutschen Publicums wie
0162des Componisten selbst standen. So hätten wir denn im
0163letzten Philharmonischen Concert drei neue Stücke gehört
0164und sagen Herrn Hof-Capellmeister Hanns Richter für diese
0165Liberalität den besten Dank. Den Beschluß machte Mozart’s
0166G-moll Symphonie. Sie hat mühelos und unter lautem
0167Jubel des Publicums alle drei Novitäten geschlagen.
0168Erwähnen wir noch einer Extra-Aufführung von Beet-
0169hoven’s Neunter Symphonie, welche von unserem Phil-
0170harmonischen Orchester meisterhaft gespielt, hingegen von den
0171Solosängern des Finalsatzes nur mangelhaft bewältigt wurde,
0172so bleiben blos einige Vorkommnisse im Bösendorfer-Saal
0173zu notiren. Da haben zuerst die beiden einheimischen, wohl-
0174bekannten Sängerinnen Frau Nicklaß-Kempner und
0175Frau Bertha Gutmann den gewohnten Beifall em-
0176pfangen, Frau Gutmann insbesondere mußte sich durch
0177Blumenmassen fast den Weg bahnen, wie wir draußen durch
0178den Schnee. Am ersten Abend hörten wir unter Anderm
0179„Clavier-Variationen über ein Original-Thema“ von Louis
0180Rée, einem feingebildeten jungen Engländer, der sich bleibend
0181in Wien niedergelassen hat. Das Original-Thema ist so
0182wenig originell als möglich, hingegen zeugen die zwölf Verände-
0183rungen desselben von solider deutscher Schule und reinem
0184Geschmack; sie klingen brillant, ohne eigentlich virtuose
0185Zwecke zu verfolgen. Besseren Händen konnte der Componist
0186sein Werk nicht anvertrauen, als denen seiner Gattin, die
0187schon als Fräulein Susanne Pilz sich einen Platz unter
0188unseren besten Pianistinnen errungen hat. Von Herrn Rée
0189liegen uns auch zwei Hefte „Weihnachtsbilder“ vor, leichte
0190Clavierstücke, an denen jugendliche Pianisten sich erfreuen
0191werden. Schon die Ueberschriften im ersten Heft weisen auf
0192den Einfluß von Schumann’s „Kinderscenen“. Das zweite
0193Heft bringt musikalische Illustrationen zu sechs der bekanntesten
0194Märchen (Aschenbrödel, Schneewittchen, Rumpelstilzchen u. A.),
0195in welchen der Componist ganz vortrefflich den naiven Er-
0196zählerton trifft. Unser Engländer ist kein Shakespeare in der
0197Musik, aber ein vollkommener Gentleman.
0198Am Montag, dem Abend des ärgsten Schneesturms,
0199versammelte der Geiger Herr August Duesberg, ein
0200Schüler Ysaye’s, im Bösendorfer-Saal ein unerwartet zahl-
0201reiches Publicum. Ein Zeichen, daß er in Privatkreisen
0202bereits beliebt ist als Spieler und, wie wir hören, als tüch-
0203tiger Lehrer. Auf letzteren Beruf scheint auch die Art seines
0204Vortrages hinzuweisen. Herr Duesberg spielte mit schönem
0205Ton ein Concert von Ferdinand David, das uns auch in
0206der besten Darstellung nicht zu fesseln vermöchte; dann Solo-
0207stücke von Bach und Wieniawski. Leider hatte die Be-
0208fangenheit eines ersten Auftretens in Wien ihm fast alle
0209Freiheit und Wärme des Ausdrucks geraubt. Das Publicum,
0210dem die Aengstlichkeit des jungen Künstlers nicht entging,
0211spendete ihm ermuthigenden Beifall. Die schönste Wirkung
0212erzielten wieder die Brüder Thern durch ihr ausgezeichnetes
0213Zusammenspiel. Diese zwei Männer spielen auf zwei
0214Clavieren nicht so laut, wie oft eine Pianistin auf einem;
0215und von einem guten Clavierspieler, der das ewige Brechen
0216der Accorde recht herzlich verabscheut, könnte man rühmen,
0217er schlage mit beiden Händen die Accorde so schön gleich-
0218zeitig an, wie die Brüder Thern mit vieren.
0219In Frau Gutmann’s Concert ist Herr Richard Ep-
0220stein, der zwanzigjährige Sohn des hochgeachteten Professors
0221Julius Epstein, zum erstenmale als Pianist vor das Publi-
0222cum getreten. Wenige Tage zuvor hatte ebenfalls einer un-
0223serer vorzüglichsten Musiker, Herr Professor Bachrich,
0224seinen Sohn zum erstenmal als concertirenden Violinspieler
0225auf das heiße Podium entsendet. Es wird uns ganz eigen
0226zu Muth, wenn wir in irgend einer Gesellschaft mehreren
0227schönen, heiratsfähigen Mädchen vorgestellt werden, mit
0228deren Mutter wir ehedem viel getanzt haben. Eine ähnliche
0229Empfindung, nur um einen halben Ton tiefer, überkam uns,
0230als wir jetzt die Bekanntschaft der Jünglinge Epstein und
0231Bachrich machten. Wie deutlich sehen wir noch den alten
0232Concertaal Unter den Tuchlauben vor uns und die
0233ersten Verbeugungen der Väter Epstein und Bachrich
0234vor dem applaudirenden Publicum! Die beiden in
0235vollster Rüstigkeit thätigen Musik-Professoren dür-
0236fen sich ihrer talentvollen Söhne von Herzen freuen.
0237Der junge Epstein, ein geborener Pianist von väterlicher
0238und mütterlicher Seite (Frau Epstein hat als „Fräulein
0239Amalie Mauthner“, mit vielem Erfolge concertirt), besitzt
0240einen kraftvollen Anschlag, makellos correcten Vortrag und
0241eine Virtuosität, welche den Schwierigkeiten Bach’schen wie
0242Liszt’schen Clavierstyls sich gewachsen zeigte. Die Technik
0243und die Freude am Technischen wiegt bei ihm noch vor;
0244feinere Schattirungen und freieren Ausdruck wird die Zeit
0245hinzubringen. Mit ebenso aufrichtigem Beifall ist der erst
0246fünfzehnjährige Albert Bachrich begrüßt worden. Er hat
0247in seinem Concert Tartini’s G-moll-Sonate mit tüch-
0248tigem Verständniß, Chopin’s Es-dur-Nocturne mit weicher,
0249natürlicher Empfindung vorgetragen. Zum Virtuosen fehlt
0250ihm natürlich noch Manches, vorerst die physische Kraft des
0251rechten Armes, dann auch die vollkommene Behendigkeit der
0252linken Hand. Dafür besitzt er zwei Dinge, welche für
0253jugendliche Violin-Virtuosen vielleicht die wichtigsten sind:
0254einen schönen Ton und einen gescheiten Vater.