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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9280. Wien, Mittwoch, den 25. Juni 1890

[1]

Die Musik in Amerika. II.

(Die Oper.)


0003Ed. H. Als erste Schwalben, die einen künftigen Opern-
0004frühling in Amerika anzeigten, erschienen kleine Liederspiele
0005aus England. Die unbegrenzte Popularität, welche das erste
0006englische Singspiel „Die Bettler-Oper“ seit seinem Erscheinen
0007in London genoß, veranlaßte 1750 dessen erste Aufführung
0008in Newyork. Seitdem ist durch ein volles Jahrhundert kein
0009einziger Theater-Director oder Balladensänger nach Newyork 
0010gekommen, ohne dieses Stück aufzuführen. So hat denn die
0011englische Oper in der eigenthümlichen Form als Lieder-
0012spiel (ballad-opera) und mit der Musik der populärsten eng-
0013lischen Componisten 75 Jahre früher als die italienische Oper
0014in Amerika Eingang gefunden. Die beliebtesten englischen
0015Liederspiele von der Art der „Bettler-Oper“ erschienen nun-
0016mehr auf der Newyorker Bühne. Nach Beginn dieses Jahr-
0017hunderts wurden auch einige der beliebtesten französischen
0018Spielopern, später noch Rossini’s „Barbier“ und Weber’s
0019Freischütz“ (1825) in englischer Sprache gegeben, unvoll-
0020ständig und mit ganz willkürlich arrangirter Musik. Im Jahre
00211832 erschien zum erstenmal „Die Zauberflöte“, gleichfalls
0022englisch und „arrangirt“ von dem unermüdlichen Mr. Horn.
0023Ein deutscher Bericht aus dem Jahre 1828 führt aus, daß
0024eine richtige Opernaufführung in Newyork schon wegen der
0025geradezu unbeschreiblichen Schlechtigkeit und Unvollständigkeit
0026der Orchester unmöglich sei. Das wichtigste Instrument in
0027diesen Orchestern sei überall die Posaune, welche stets die
0028Violoncell-Partie mitbläst, manchmal auch, falls der Bläser
0029geschickt ist, eine Violin-Passage. Immerhin haben diese eng-
0030lischen Sänger zuerst den Geschmack für Gesang in Amerika 
0031erweckt, und ihre Singspiele, halb gesungen, halb gesprochen,
0032haben für die italienische Oper, in welcher nur der Gesang
0033herrscht, den Weg gebahnt. Im Jahre 1825 erschien Gar-
0034cia
mit einer guten Truppe in Newyork und gab den
0035Amerikanern zuerst eine Probe italienischer Opernmusik. Ita-
0036lienische Musiker und Literaten hatten bereits zu Anfang 
0037des Jahrhunderts, in Folge politischer und finanzieller
0038Mißgeschicke, Zuflucht in Newyork gesucht. Unter ihnen
0039finden wir zwei bekannte und angesehene Namen: Filippo 
0040Trajetta und Lorenzo da Ponte. Beide Männer
0041waren durch höchst romanhafte Wechselfälle nach Amerika 
0042verschlagen worden. Filippo Trajetta, geboren 1776 in
0043Venedig, war der Sohn des berühmten Operncomponisten
0044Tomaso Trajetta (oder Traëtta). Er hatte eine gute Er-
0045ziehung genossen und zuletzt unter Picinni studirt. Zur Zeit
0046der französischen Revolution trat er in die patriotische ita-
0047lienische Armee, wurde von den Royalisten gefangen, verlebte
0048acht Monate in einem schrecklichen Kerkerthurm und entkam
0049endlich an Bord eines amerikanischen Schiffes. Er ließ sich
0050zuerst als Gesanglehrer in Boston nieder, kam später nach
0051Newyork, wurde Theater-Director in den südlichen Staaten
0052und starb endlich im Jahre 1854 in Philadelphia. Trajetta,
0053thätig und einflußreich als Componist wie als Gesanglehrer,
0054sollte auch auf da Ponte’s Einladung für die Operntruppe
0055Garcia’s in Newyork arbeiten; als er daselbst eintraf, war
0056aber Garcia’s Gesellschaft schon aufgelöst. Den noch viel
0057bewegteren Lebenslauf da Ponte’s, des Librettisten von
0058Mozart’s „Don Juan“ und „Figaro“, haben wir gelegentlich des
0059Don Juan-Jubiläums ausführlich in diesen Blättern erzählt.
0060Da Ponte, der im Jahre 1838 hochbetagt in Newyork ge-
0061storben ist, hat mit L. Trajetta und Garcia zuerst für die
0062italienische Oper in Amerika den Boden bereitet. Den
0063ersten Versuch machte, wie gesagt, Manuel Garcia im
0064Jahre 1825. Rossini’s „Barbier von Sevilla“, als Eröffnungs-
0065oper, war fast gänzlich von der Familie Garcia dargestellt.
0066Vater Garcia sang den Almaviva, sein Sohn Manuel (der
0067später berühmte Gesanglehrer) den Figaro, seine Tochter
0068Maria (Malibran) die Rosina, Mama Garcia die Bertha.
0069Das Publicum war entzückt, die Kritik nicht minder. Die
0070nächsten Abende brachten „Don Giovanni“, „Otello“,
0071Semiramide“, „Il Turco in Italia“ und zwei Opern von
0072Garcia’s Composition — im Ganzen 79 Vorstellungen.
0073Trotz des anfangs so günstigen Erfolges konnte Garcia 
0074seine Gesellschaft nicht länger zusammenhalten und schloß im
0075September 1826 seine Vorstellungen. Er ging nach Mexico,
0076Maria, welche Herrn Malibran heiratete, blieb in Newyork, 
0077sang Sonntags in der Kirche und gelegentlich in englischen
0078Operetten. Im September 1827 nahm sie Abschied von
0079Amerika und reiste nach Paris, das ihren Weltruhm be-
0080gründet und verbreitet hat.


0081Während die oben erwähnten ersten englischen Operetten-
0082Vorstellungen in Newyork stattfanden, versuchten fran-
0083zösische
Schauspieler die französische Oper in der Haupt-
0084stadt von Louisiana (Neworleans) einzuführen, welche ur-
0085sprünglich von französischen Colonisten gegründet war. Ob-
0086wol seit 1803 zu den Vereinigten Staaten geschlagen, blieb
0087doch die Mehrzahl der Bevölkerung französisch und führte fran-
0088zösische Sitten und Theater ein. Schon 1791 erschien die
0089erste regelmäßige französische Truppe in Neworleans. Die
0090Mitglieder waren zugleich Schauspieler und Sänger. Paë-
0091siello’s
Barbier von Sevilla“, Zingarelli’s 
0092Romeo und Julie“ wurden schon 1810 von ihnen gegeben.
0093Wöchentlich drei Opernabende in französischer Sprache bil-
0094deten das Hauptvergnügen der rasch anwachsenden Bevölke-
0095rung. Tüchtige Unternehmer wie Davis und Boudausquier 
0096brachten zu Anfang jeder Saison treffliche Sänger und
0097Schauspieler aus Paris, welche bald die Meisterwerke von
0098Mozart, Méhul, Rossini und Spontini tadellos ausführten.
0099Neworleans hat den Ruhm, zuerst in den Vereinigten Staaten 
0100regelmäßige Opernsaisons eingeführt und festgehalten zu
0101haben; ein Zeichen sehr vorgeschrittener Civilisation und Musik-
0102liebe. Im December 1859 wurde ein neues glänzendes Theater
0103für die französische Oper errichtet und mit Rossini’s „Tell“
0104eröffnet. Aber die Tage der früheren übermüthig lustigen
0105creolischen Gesellschaft waren gezählt. Nach dem Secessions-
0106kriege schimmerte die Oper noch manchmal in flüchtigem
0107Glanze, endete aber fast immer mit dem Ruin der Unter-
0108nehmer. Zwei Brüder, Charles und Marcelin Alhaiza,
0109reisten nach Paris, um für die Saison 1866/67 eine voll-
0110ständige französische Opern- und Schauspieltruppe nach New-
0111orleans zu bringen. Ein schreckliches Schicksal zerstörte das
0112Unternehmen. Am Vorabend der Abreise starb der eine Bru-
0113der, Marcelin. Charles brachte die ganze Gesellschaft nach
0114Newyork und schiffte sich mit ihr auf dem Dampfer „Eve-
0115ning Star“ nach Neworleans ein. Am 3. October 1866 
0116ging das Schiff bei einem furchtbaren Sturme unter, und [2]
0117mehr als 300 Personen ertranken, darunter die für französischen
0118Schauspieler und ihr Director Charles Alhaiza. Seither ist
0119die Laufbahn der Oper in Neworleans ganz ähnlich der in
0120Newyork. Sie hat eine feste Basis nicht wieder erlangen
0121können.


0122Dr. Ritter’s Ansicht über das Opernwesen in Amerika,
0123„dieses schwer zu lösende Problem“, ist sehr bemerkenswerth.
0124Sie lautet folgendermaßen: Die Existenz der italienischen
0125Oper in Amerika war stets eine unsichere, wechselvolle. Ein
0126Unternehmer nach dem andern hat damit sein Glück ver-
0127sucht, fast jeder aber seinen Ruin gefunden. Die italienische
0128Oper, unter Verhältnissen entstanden und gewachsen, welche
0129der Natur und den Gewohnheiten des amerikanischen Volkes
0130gänzlich fremd sind, hat in diesem niemals Wurzel fassen
0131können. Der scenische Glanz, die Bravour der Sänger er-
0132regten anfangs ein neugieriges Erstaunen. Aber das Wesen
0133dieser exotischen Kunst blieb der Natur des Amerikaners
0134durchaus fremd. Sein heller Verstand vermochte kei-
0135nerlei Nützlichkeit daran zu entdecken. Es hieß, daß
0136es „fashionable“ sei, in die italienische Oper zu
0137gehen. So ging er denn hin, denn der richtige Amerikaner
0138würde sich lieber erdrosseln lassen, als für unfashionable
0139gelten. Es ist erheiternd, in älteren Jahrgängen der New-
0140yorker Journale die zahlreichen Anfragen und Belehrungen
0141nachzulesen, wie man sich in der Oper nach europäischer
0142Mode zu kleiden und zu benehmen habe. Nach dem ersten
0143Strohfeuer der Neugierde wurde das Publicum gleichgiltig
0144gegen den Zauber der Marie Garcia und der Rossini’schen
0145Opern. Der Amerikaner fand in der italienischen Oper sehr
0146wenig für seinen Verstand, ja er fand sie lächerlich. Obgleich
0147der amerikanische Musikfreund allmälig den Gesang der Ita-
0148liener bewundern lernte, er wollte doch zugleich wissen, „um
0149was es sich handelt“, und daran hinderte ihn seine Un-
0150kenntniß der italienischen Sprache. Ein noch größeres
0151Hinderniß war durch lange Zeit die kirchliche Gesinnung des
0152amerikanischen Volkes, dessen große Mehrzahl „church-
0153people“ ist, d. h. puritanisch, streng festhaltend an den Vor-
0154schriften der Secten, somit in Opposition gegen alle ästheti-
0155schen Tendenzen, die sich nicht unbedingt der kirchlichen Macht
0156unterwerfen. Die Geistlichkeit warnte ihre Gemeinden vor 
0157einem Vergnügen, das ihr unmoralisch und voll weltlicher
0158Versuchungen erschien. Das waren aber nicht die einzigen
0159und nicht die gefährlichsten Klippen. Unzulängliche Opern-
0160häuser und Bühnen, mangelhafte Orchester, ungeschulte
0161Choristen, die Kostspieligkeit der Ueberfahrt einer ganzen
0162Truppe aus Europa! Der Unternehmer mußte, um sich zu
0163sichern, hohe Preise ansetzen. Sobald die erste Neugierde be-
0164friedigt war, murrte das Publicum über die theuren Preise,
0165blieb allmälig aus und die Unternehmung machte Bankerott.
0166Alles nur erdenkbar Mögliche ist von erfinderischen Unter-
0167nehmern versucht worden, um das amerikanische Publicum
0168für die Oper zu gewinnen: hohe Preise und billige Preise,
0169berühmte Sänger und Mittelgut, italienische, deutsche und
0170französische Oper — nichts wollte auf die Dauer verfangen.
0171Seit dem ersten ernsthaften Versuche Garcia’s bis auf den
0172heutigen Tag zeigt die Geschichte der italienischen Oper in
0173Amerika im Wesentlichen dieselbe Physiognomie; nur die
0174Gesichter der Unternehmer und der Künstler haben gewechselt.
0175Die Oper in Amerika lebt zuweilen üppig, zuweilen kümmer-
0176lich, niemals aber in organischem Wachsthum. Der Opern-
0177besuch ist heute noch nichts weiter als eine Modelaune (a
0178fashionable whim). Irgend ein kleines aufregendes Ereig-
0179niß genügt, um die Leute ins Opernhaus zu treiben, und
0180eine ebenso geringfügige Ursache, sie davon abzuhalten. Der
0181amerikanische Opern-Unternehmer sitzt fortwährend auf einem
0182Pulverfasse, das er, der Explosion gewärtig, unablässig beob-
0183achten und behüten muß. Der Verfasser führt nun sämmt-
0184liche aufeinanderfolgende Opern-Unternehmungen in Newyork 
0185auf, mit den Namen der Sänger, der Dirigenten, der Com-
0186ponisten, endlich mit einer ziffermäßigen Uebersicht der Ein-
0187nahmen und Unkosten. Ein Unternehmer nach dem andern
0188verliert sein Vermögen. Oft auch stehen die Mitglieder (bis
0189auf den „Stern“ der Truppe, der sich stets zu sichern weiß)
0190hilflos da nach dem Bankerott ihres Chefs. Allein die Sänger
0191und Virtuosen wendeten immer mehr ihre Blicke nach Amerika,
0192wo ihnen angeblich in kürzester Zeit ein Vermögen winkte.
0193Im Jahre 1843 baute Signor Palmo ein neues Theater
0194für die italienische Oper in Newyork. Er war ein sehr be-
0195liebter Gastwirth; das Vermögen, das er mit seinem be-
0196rühmten „Café des mille colonnes“ erworben, verlor er in 
0197der Opern-Unternehmung. Im Jahre 1847 wurde abermals
0198ein neues, prächtiges Opernhaus gebaut, das nach fünf
0199Jahren mit großem Verluste geschlossen und in die „Clinton-
0200Bibliothek“ umgewandelt wurde. Man machte hierauf den
0201Vorschlag, ein dreimal so großes Opernhaus zu errichten;
0202der Bau begann im Mai 1853, und schon am 2. October
02031854 fand die Eröffnungs-Vorstellung (mit Mario und
0204der Grisi) statt. So schnell baut man in Amerika! Die
0205Academy of music“, so hieß das neue Theater, ver-
0206sprach unter Anderm auch Preise auszusetzen für die beste
0207musikalische Composition. Großer Jubel und kühne Hoff-
0208nungen der jungen amerikanischen Componisten! Ein ein-
0209zigesmal wurde wirklich ein solcher Preis von 1000 Dollars
0210für die beste, von einem Amerikaner componirte Oper aus-
0211geschrieben, aber niemals ausbezahlt. Trotz des neuen,
0212großen Hauses, der meist trefflichen Künstler und der
0213niedrigen Preise scheiterte ein Unternehmen nach dem
0214andern. Auch Ole Bull war leider darunter. Nun folgt
0215ein wirres Durcheinander von Ullmann, Strakosch,
0216Maretzek und anderen Impresarios, welche theils nach
0217einander, theils gleichzeitig und gegen einander italienische
0218Truppen ins Feld führten, eine wilde Jagd, daß einem
0219deutschen Leser der Kopf schwirrt. Eine interessante kurze
0220Episode war die deutsche Opernsaison des Karl Anschütz 
0221im alten Wallack-Theater (1862). Die Gesellschaft besaß keinen
0222einzigen großen Sänger, der sich mit den italienischen Künst-
0223lern der Academy of music vergleichen konnte, aber das
0224Ensemble war harmonisch gerundet, das Orchester vortreff-
0225lich, der Chor gut geschult. Und welches Repertoire von aus-
0226erlesenen deutschen Opern! Hier war mehr Intelligenz, mehr
0227echte Begeisterung und musikalische Bildung, als in irgend
0228einer anderen Opern-Unternehmung, die man in Newyork 
0229erlebt hat. Leider ward Anschütz durch die ungünstigen Zeit-
0230verhältnisse genöthigt, seine Oper bald aufzugeben. Nach
0231Beendigung des Krieges, der auf allen Gemüthern schwer
0232gelastet, drängte Alles nach seichter, sinnlicher Unterhaltung,
0233und die Offenbach’schen Operetten im französischen Theater
0234von Newyork hatten einen ungeheuren Zulauf. Offen-
0235bach
wurde so populär, daß seine Bewunderer ihn in
0236Person nach Amerika brachten. Er machte aber nicht den [3]
0237gehofften Eindruck; die Neugierde, den Componisten der
0238Schönen Helena“ gesehen zu haben, war bald gestillt und
0239die von ihm dirigirten Sommernachts-Concerte verloren ihr
0240Publicum. Wenn in Amerika ein Ding populär wird, so
0241entfesselt es eine zeitlang eine wahre Raserei, fällt aber dann
0242meistens ebenso schnell wieder in Vergessenheit. Das gleiche
0243Schicksal hatten später die harmlosen Operetten von Gilbert 
0244und Sullivan; das Publicum war von ihnen ebenso
0245schnell entzückt, als übersättigt. Was noch hie und da an
0246Interesse dafür verblieb, dürfte bald verjagt sein durch den
0247Schwarm neuer „komischer Opern“, an denen der Titel
0248meistens das einzig Komische ist.


0249Einige glänzende italienische Saisons hatte Newyork in
0250den Siebziger-Jahren: Max Strakosch brachte die
0251Sängerinnen Nilsson, Tietjens, Kellogg, Marie
0252Roze
und den Tenor Campanini, „dieses Ideal eines
0253Lohengrin“. Nach einigen Jahren verschlimmerten sich wie-
0254der die Aussichten der italienischen Oper und wuchsen die
0255Verluste der Unternehmer. Bald waren die Maretzeks, die
0256Graus, die Strakosch fertig und abgethan. Da tauchte der
0257„Colonel“ Mapleson vom Londoner Majesty’s Theater
0258auf und gab der italienischen Oper einen neuen Ruck. Er
0259eröffnete die Saison 1878/79 mit Etelka Gerster,
0260Minnie Hauck, Campanini u. A. Die höchste Ein-
0261nahme, wenn die Gerster sang, betrug 4800 Dollars;
0262nicht viel weniger erzielte „Carmen“ mit Minni
0263Hauck. Trotz der Vortrefflichkeit einzelner Künstler
0264und des Capellmeisters Arditi waren die meisten
0265Vorstellungen sehr unvollkommen. Das Star-System,
0266das in der Theaterwelt jedes gesunde Ensemble zerstört und
0267dem Unternehmer enorme Opfer für seinen „Star“ auf-
0268nöthigt, macht auch die Aufführung großer musikalischer
0269Meisterwerke unmöglich. Immer müssen die alten, abge-
0270spielten Opern wiederholt werden, denn der „Star“ macht
0271das Repertoire; bringt man doch einmal eine neue Oper,
0272so wird sie überstürzt und schleuderisch aufgeführt. In der
0273Regel trägt das Publicum die Schuld, wenn so ein „Stern“
0274allmächtig wird; der Stern ist die Schöpfung des Publi-
0275cums, kennt dessen Schwächen und nützt sie aus. Während
0276Mapleson die italienische Oper in der „Academy of 
0277music“ zu galvanisiren bemüht war, erwuchs dieser ein gefähr-
0278licher Rivale in dem neu erbauten großen „Metropolitan-
0279Opera-House“. Es wurde von dem Unternehmer Henry
0280Abbey im Jahre 1883 mit der Nilsson, Sembrich, Tre-
0281belli und den Sängern Campanini, Capoul, Stagno eröffnet.
0282Diese Saison, eine der glänzendsten, die Newyork erlebt hat,
0283ward doch verhängnißvoll für Mr. Abbey und ließ ihn ein
0284so gefährliches Unternehmen unverzüglich aufgeben. Wie in
0285Wien, Paris und anderen europäischen Hauptstädten, so be-
0286gann auch in Newyork die italienische Oper ihren Halt im
0287Publicum zu verlieren. Damit stiegen einigermaßen wieder
0288die Aussichten einer deutschen Oper, obwol diese niemals
0289in Amerika „fashionable“ zu werden vermochte. Die
0290Directoren des Metropolitan-Theaters beauftragten den tüch-
0291tigen Capellmeister und Violinspieler Leopold Damrosch 
0292(geboren 1832 in Posen), eine deutsche Gesellschaft zu enga-
0293giren. Im November 1884 gab diese ihre Eröffnungs-Vor-
0294stellung „Tannhäuser“, mit der Materna, Marianne
0295Brandt, den Herren Schott und Robinson. Diese
0296erste Saison hatte einen großen künstlerischen Erfolg und
0297finanziell „einen ziemlich befriedigenden“, d. h. das Deficit
0298betrug nur 40,000 Dollars. Dieses „unerwartet günstige“
0299Resultat bestimmte die Directoren, die Fortsetzung der
0300deutschen Vorstellungen für die folgenden drei Jahre zu
0301beschließen. Die Oper erhielt sich auf ihrer künstlerischen
0302Höhe, aber die Auslagen überstiegen sehr bedeutend die Ein-
0303nahmen. Zahlreiche Stimmen ließen sich vernehmen gegen
0304das zu starke Uebergewicht der von Damrosch bevorzugten
0305Wagner’schen Opern im Repertoire. Dr. Ritter, der sich
0306als thätiger Wagner-Apostel bekennt, gibt dieser Opposition
0307natürlich Unrecht. Darüber haben das Newyorker Publicum
0308und die stark in Mitleidenschaft gezogenen „Stockholders“
0309zu entscheiden.


0310In Amerika ist Richard Wagner zuerst in Boston 
0311bekannt geworden, wo 1853 zum erstenmale die Tannhäuser-
0312Ouvertüre von dem „Germania-Orchester“ unter Karl
0313Bergmann’s Leitung gespielt wurde. Den erfolgreichen
0314Bemühungen der fortschrittlichen Deutschen in Boston 
0315folgte später das conservative Newyork, insbesondere die
0316deutschen Liedertafeln daselbst. Die erste Aufführung des 
0317Tannhäuser“ fand 1859 in Newyork statt, deutsch,
0318unter Leitung von Karl Bergmann, einem begeisterten
0319Anhänger der Liszt-Wagner’schen Richtung. Im Jahre
03201870 erst folgte „Lohengrin“, und zwar in dem alten
0321deutschen Stadttheater unter der Leitung von A. Neuen-
0322dorf
. Bisher hatte nur die deutsche Bevölkerung sich um
0323Wagner gekümmert. Die amerikanischen Musikfreunde blieben
0324dieser Bewegung gänzlich fern. Erst als die italienische 
0325Operngesellschaft von Strakosch im Jahre 1873 den „Lohen-
0326grin“ aufführte, begann der Erfolg Wagner’s bei dem amerika-
0327nischen Publicum. Die von Thomas 1884 unternommenen
0328Wagner-Concerte mit der Materna, Winkelmann 
0329und Scaria förderten außerordentlich das Anwachsen des
0330Wagner-Cultus in Amerika, und die bereits erwähnten
0331deutschen Vorstellungen im Metropolitan-Opera-House thaten
0332das Uebrige.


0333Indem der Verfasser seine Erfahrungen in einer Schluß-
0334betrachtung zusammenfaßt, gelangt er abermals zu demselben
0335Refrain, daß die Oper (italienisch, deutsch oder französisch)
0336in Amerika ein künstlich aufgezogenes Gewächs und nur für
0337einen ganz kleinen Bruchtheil der Bevölkerung ein Bedürfniß
0338ist. Eine stehende, regelmäßig spielende Oper, wie sie in
0339Deutschland, Frankreich und Italien als ein Theil und eine
0340Ehrensache der nationalen Cultur besteht, vermag in Amerika 
0341nicht zu existiren. Newyork besitzt mehr als dreißig 
0342Theater, die alle gute Geschäfte machen, aber keine stabile
0343Oper. Wenn Newyork im selben Verhältniß eine musi-
0344kalische
Stadt wäre, so würde Ein Opernhaus nicht
0345genügen, um das Bedürfniß aller Opernfreunde zu be-
0346friedigen; es gäbe da hinlänglichen Raum für eine italienische,
0347französische und deutsche Oper. „Aber“ — schließt Dr. Ritter 
0348— „wir sind noch kein eigentlich musikalisches Volk; wir
0349haben die intellectuelle Fähigkeit, singen und spielen zu
0350lernen, allein wir können ein unmusikalisches Volk nicht
0351zwingen, uns zuzuhören, wenn es nicht die Neigung dazu
0352hat, und die Erfahrung lehrt, daß die unermeßliche Mehr-
0353heit der Amerikaner diese Neigung nicht hat. Dem Ameri-
0354kaner ist die Oper noch immer ein Gegenstand vorüber-
0355gehender Neugierde; ein bleibendes Kunstinstitut kan in aber
0356nicht auf vorübergehende Neugierde gegründet werden.“