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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9314. Wien, Dienstag, den 29. Juli 1890

[1]

Die Musik in Amerika. III.

(Schlußartikel: Concertwesen, Musikunterricht, „Musical Conventions“, Volksgesang.)


0003Ed. H.*) Boston war in systematischer Pflege des
0005Concertwesens Newyork und den übrigen Städten um zwanzig
0006Jahre voraus. In Newyork gab es um das Jahr 1830 drei
0007bescheidene Dilettanten-Vereine und hin und wieder ein Con-
0008cert unter Mitwirkung eines fremden Virtuosen. Unter diesen
0009erzielte ein Herr Young, der die Ophicleide blies, den größten
0010und dauerndsten Erfolg. Trompete und Posaune waren die
0011Lieblingsinstrumente des amerikanischen Publicums. Diese
0012Vorliebe für Blechinstrumente existirt, nach Dr. Ritter’s
0013Zeugniß, noch heute bei der großen Mehrheit der Concert-
0014besucher. Bis 1839 hatte man keine Oboën im Orchester;
0015zwei Clarinetten spielten deren Part. Aus der Fremde bezog
0016Amerika seine Musiklehrer, seine Solosänger, seine Instru-
0017mentalisten. Ein großes, auch finanziell ergiebiges Concert
0018zur Unterstützung der Griechen im Unabhängigkeitskampfe
0019hob das musikalische Interesse und führte zur Neugestaltung
0020der „Sacred Music Society“ in Newyork, die sich im Jahre
00211831 an die erste vollständige Aufführung eines Oratoriums,
0022natürlich des „Messias“, wagte. Es ist also erst sechzig Jahre
0023her, daß Newyork ein vollständiges Oratorium zu hören
0024bekam. In Amerika sehen wir Musikgesellschaften schnell ent-
0025stehen und meistens schnell vergehen. Auch die so angesehene
0026„Sacred Music Society“ löste sich bald auf. Die deutsche 
0027Bevölkerung in Newyork besaß eigene musikalische Vereini-
0028gungen; die bemerkenswertheste hieß „Concordia“ und pflegte
0029sowol Vocal- als Instrumental-Musik. Ihr Dirigent, Daniel
0030Schlesinger (geboren 1799 in Hamburg), ein Schüler
0031von Moscheles und Ferdinand Ries, war einer der vorzüg-
0032lichsten deutschen Musiker, deren Newyork sich zu erfreuen
0033gehabt. Er starb 1838 mitten in fruchtbarster Thätigkeit.


0034Wir haben gesehen, daß die Bemühungen, eine stabile
0035Oper in Amerika zu gründen, stets gescheitert waren. Aber
0036eine günstige Wirkung hatten sie doch mittelbar auf die
0037Concertmusik. Eine Anzahl guter Opernsänger, mitunter
0038großer Künstler, enthüllte dem Amerikaner, der nur das
0039Psalmodiren seiner Singschulen gekannt, den Zauber wohl-
0040geschulter schöner Stimmen. Viele von diesen Opernsängern
0041wirkten in Concerten und Oratorien mit. Ein anderes wichtiges
0042Ergebniß war, daß die italienischen Opernvorstellungen voll-
0043ständigere Orchester brauchten. Nach den üblen Erfahrungen
0044Garcia’s brachten die nächsten Opern-Unternehmer tüchtige
0045Capellmeister und einige vorzügliche Instrumentalisten mit.
0046Der Geschmack an symphonischer Musik entwickelte sich stetig,
0047und die maßgebenden Musikfreunde von Newyork sahen ein,
0048daß der Zeitpunkt zur Gründung einer eigenen Philharmoni-
0049schen Gesellschaft gekommen sei. Der Mann, dessen Energie
0050und Kunstbegeisterung das schwierige Werk zu Stande brachte,
0051einen permanenten Orchesterverein nach Art der Londoner
0052„Philharmonic Society“ zu schaffen, war Uriah Hill.
0053Geboren in Newyork 1802, war er als junger Mann nach
0054Europa gegangen und Spohr’s Schüler geworden. Nach
0055seiner Vaterstadt zurückgekehrt, faßte er gleich den Plan zur
0056Gründung einer Philharmonischen Gesellschaft. Er wirkte darin
0057als erster Violinspieler, mußte aber später, alt geworden, diesen
0058Posten aufgeben. Der Kummer darüber und andere schwere
0059Mißgeschicke trieben den 73jährigen braven Mann zum
0060Selbstmord. Die „Philharmonische Gesellschaft“ eröffnete
0061ihre Concerte im Jahre 1842; sie waren in den ersten
0062Jahren ziemlich dilettantisch („amateurish“ schreibt Ritter),
0063stets aber voll Eifer und Begeisterung. Die „New York
0064Philharmonic Society“, die gegenwärtig ein Orchester von
0065hundert Spielern, durchaus Fachmusiker, besitzt, hat während
0066ihres langen Bestehens großen Einfluß ausgeübt auf das
0067Musikleben in Amerika. Ihre ersten Concerte fanden in
0068einem Tanzlocal („Apollo-Hall“) statt; die Sitze waren nicht
0069nummerirt und bestanden aus hölzernen Bänken. Vier Mit-
0070glieder versahen den Dienst von Billeteuren und erhielten da-
0071für von der Gesellschaft weißlederne Handschuhe. Nachdem 
0072das Publicum versammelt war, nahmen diese freiwilligen
0073Aufseher ihre Plätze im Orchester ein. Um einen eigenen
0074Concertsaal bauen zu können, gab die Gesellschaft im Jahre
00751846 eine Aufführung von Beethoven’s Neunter Symphonie 
0076mit drei- bis vierhundert Mitwirkenden; aber das Publicum
0077kam nicht zahlreich genug, und der Bau unterblieb. In der
0078Verwaltung dieser Gesellschaft wurden allmälig die
0079deutschen Orchesterspieler die bestimmende und contro-
0080lirende Macht. Eine gewisse Antipathie entstand zwischen
0081ihnen und den eingeborenen Mitgliedern, welche gegen
0082die Deutschen so heftig vorgingen, daß zeitweilig die Exi-
0083stenz der Gesellschaft gefährdet schien. Die Gesellschaft
0084mußte von den amerikanischen Mitgliedern den Vorwurf
0085hören, sie gehe in ihrer Protection der Deutschen auf die
0086Vernichtung der amerikanischen Musik aus, wozu Dr. Ritter 
0087die lakonische Bemerkung macht, daß nicht wohl etwas ver-
0088nichtet werden konnte, was überhaupt nicht existirte. All-
0089mälig wurde dieser Verein die wichtigste Instrumental-Ge-
0090sellschaft in den Vereinigten Staaten. An dem Besitzstande
0091classischer Musik festhaltend, blieb sie nicht allzu lange zurück
0092hinter den modernen Entwicklungen. In den Fünfziger-
0093Jahren finden wir in ihren Programmen R. Schumann,
0094in den Sechziger-Jahren Liszt, in den Siebziger-Jahren
0095Wagner, Rubinstein, Goldmark und die beiden
0096ersten Symphonien von Brahms. Einer der verdienst-
0097vollsten Dirigenten der Philharmonischen Gesellschaft war von
00981855 bis 1876 ein Sachse, Karl Bergmann, der Erste,
0099der in Amerika für Wagner und Liszt gewirkt hat. Er starb,
010055 Jahre alt, gänzlich vergessen und verlassen, im deutschen
0101Hospital zu Newyork. Auch Bergmann’s Vorgänger,
0102Theodor Eisfeld, war ein Deutscher und sein Nachfolger,
0103der kürzlich verstorbene Dr. L. Damrosch, ebenfalls ein
0104Deutscher. Neben den Concerten der Philharmonischen Gesell-
0105schaft hat auch Th. Thomas eigene „Symphonie-Soiréen“
0106eingeführt, so daß Newyork heute in Bezug auf Orchester-
0107Concerte mit jeder europäischen Hauptstadt concurriren kann.


0108Die erste Bekanntschaft mit Werken der Kammer-
0109musik
verdankt Amerika einigen französischen Royalisten, [2]
0110welche in Folge der Revolution nach Amerika ausgewandert
0111waren. Hier, wie überall, blieb die Pflege dieses Musik-
0112zweiges lange auf den häuslichen Kreis der Liebhaber be-
0113schränkt. Den ersten Versuch mit öffentlichen Quartett-
0114Soiréen machte der genannte Uriah Hill im Jahre 1834.


0115Chorvereine sind in Newyork zahlreich und schnell
0116entstanden, aber regelmäßig bald wieder verschwunden. Be-
0117sondere Erwähnung verdient die „New York Harmonic
0118Society“, welche unter Th. Eisfeld’s Leitung und Jenny
0119Lind’s
Mitwirkung im Jahre 1850 Händel’sMessias
0120aufführte. Es ist dies das einzige Oratorium, das bis auf
0121den heutigen Tag im Stande gewesen ist, volle Häuser zu
0122erzielen. Zum „Messias“ greifen die Chorvereine in der
0123Noth stets wieder zurück, gerade so wie die bankerott gewor-
0124denen deutschen Operngesellschaften zum „Freischütz“. Jenny
0125Lind hat bekanntlich zwei Jahre lang in Amerika verlebt,
0126das Land nach allen Richtungen als Concertsängerin berei-
0127send. Ihr Impresario, Barnum, ist durch seine markt-
0128schreierischen Annoncen berühmt geworden und der eigentliche
0129Urheber des unwürdigen Annoncenstyls, der mehr oder
0130minder noch in Amerika besteht.


0131In Boston beschränkte sich die „Händel- und Haydn-
0132Gesellschaft“ während der ersten zwanzig Jahre auf den
0133Messias“ und die „Schöpfung“. Sie bestand um das Jahr
01341830 aus etwa 100 Sängern und 25 Sängerinnen; Letztere
0135waren nicht Mitglieder, sondern wurden von Fall zu Fall
0136zur Mitwirkung eingeladen. Instrumental-Musik fand wenig
0137Verständniß und Pflege in Boston, überhaupt in Neu-Eng-
0138land. Das bischen Orchester, das aufzubringen war, wurde
0139meist nur zum Accompagnement von Cantaten und Oratorien
0140verwendet. Eigentliche Orchestervereine für Ausführung sym-
0141phonischer Werke fristeten in Boston bis auf die neueste Zeit
0142eine schwankende und schwierige Existenz. Regelmäßige
0143Orchesterwerke versuchte zuerst die „Academy of Music“,
0144deren Kern der Geiger Henry Smith aus einem Lieb-
0145haber-Club herausgeschält hatte. Im Jahre 1841 spielte
0146dieser Verein die ersten Beethoven’schen Sympho-
0147nien
(Nr. 1 und 5), die in Boston gehört wurden. 
0148Es ist das eigentliche Verdienst der Bostoner „Aca-
0149demy“, daß sie während ihres kurzen Bestandes doch
0150sechs von den neun Symphonien Beethoven’s zur
0151ersten Aufführung gebracht hat. Ihr folgten im Laufe
0152der Jahre verschiedene Orchestervereine, aber keiner lebte lange.
0153Am längsten noch die „Harvard Musical Associa-
0154tion
“, die 1837 von Studenten des Harvard-Collegiums
0155gebildet wurde. Diese begeisterten Jünger der Wissenschaft
0156proclamirten, die Musik sei ihnen nicht Unterhaltungssache,
0157sondern ein ernstes Bildungsmittel. Die Büsten von Händel 
0158und Mozart seien neben jene von Homer und Plato, Newton 
0159und Shakespeare zu stellen. Eine Sonate verdiene kein gerin-
0160geres Ansehen, als eine Predigt oder ein Psalm. Natürlich
0161waren die älteren Amerikaner überzeugt, daß die Ausführung
0162dieses revolutionären Programms, welches ein so unnützes
0163Ding wie die Musik den höchsten Wissenschaften gleichstellen
0164möchte, die Grundlagen der Gesellschaft und des Staates
0165unterwühlen müsse. Der muthige Idealismus dieser jungen
0166Leute, die auch gleich an die Gründung einer musikalischen
0167Bibliothek gingen, verdient Bewunderung.


0168Noch immer fehlte eine Institution für den regelmäßigen
0169Gesangsunterricht der Kinder. Die Kirchenchöre und
0170Singvereine brauchten fortwährend neue Recruten. Das
0171beste Material zur Bildung von Chorsängern, die Schul-
0172jugend, war zur Hand und das Problem leicht zu
0173lösen durch Einführung des Gesangsunterrichts in
0174den Schulen. Aber das größte Hinderniß bildete die
0175Opposition der Eltern und deren Vorurtheil gegen
0176musikalische Erziehung. Mr. Woodbridge, ein verdienst-
0177voller amerikanischer Pädagoge, hatte auf seinen Reisen
0178beobachtet, wie ernsthaft in Deutschland und in der Schweiz 
0179die Musik gepflegt ward im Haus wie in der Schule. Er
0180brachte die Pestalozzi’sche Unterrichts-Methode, Nägeli’s Sing-
0181schule und Liedersammlungen aus der Schweiz mit. Die von
0182ihm ins Englische übersetzten Bücher legte er in die Hände
0183des Mr. Lowell Mason. Die beiden Männer drangen
0184fortwährend darauf, daß der Gesang als regelmäßiger Unter-
0185richts-Gegenstand in die öffentlichen Schulen eingeführt werde. 
0186Um die Einfachheit seiner Methode zu beweisen, erbot sich
0187Mason, in einer öffentlichen Schule ein Jahr lang gratis
0188im Gesang zu unterrichten. Der Versuch glückte vollständig
0189und zerstreute alle Bedenken. Es war eine folgenreiche That,
0190daß der Stadtrath von Boston im Jahre 1838 die Ein-
0191führung des Gesangsunterrichtes in den Schulen anordnete.
0192Boston genoß zuerst die Früchte dieser Saat; der Händel- und
0193Haydn-Gesellschaft und anderen Singvereinen fehlte es nicht
0194mehr an geeignetem Nachwuchs. Ja für die ganze Union
0195ward der Vorgang wichtig, denn die vornehmsten Städte im
0196Norden und Westen, im Süden und Osten folgten allmälig
0197dem Beispiele Bostons. Weitere Unterstützung fanden diese
0198Bemühungen durch die speciell amerikanische Institution der
0199Musiktage oder Zusammenkünfte (musical conventions)
0200in verschiedenen Städten der Vereinigten Staaten. Vielleicht
0201angeregt von der Sitte europäischer Musikfeste, sind sie doch
0202gänzlich von diesen verschieden. Ursprünglich Zusammen-
0203künfte von Kirchenchören, die unter Leitung eines Psalmodie-
0204Lehrers Psalmen und kurze Anthems sangen, gewannen diese
0205„Conventions“ eine größere Bedeutung, als Boston das
0206Centrum derselben wurde. Professoren der Bostoner Akademie
0207hielten da Vorlesungen für die Lehrer der verschiedenen
0208Schulen, besonders über die Pestalozzi’sche Methode und
0209andere Fragen des Musikunterrichts. Man erweiterte bald
0210den Kreis dieser Meetings zu einer förmlichen „National-
0211Musik-Convention“, die aber nur kurzen Bestand hatte. Aus
0212ihrem Material bildeten sich zwei neue „Conventions“; an
0213ihrer Spitze standen Lowell Mason mit der Boston-
0214Akademie und G. W. Webb mit der Händel- und Haydn-
0215Gesellschaft. Beide veranstalteten jährliche Zusammenkünfte,
0216worin in zehntägigen Cursen die angehenden Lehrer Vorträge
0217über alle möglichen theoretischen und praktischen Zweige der
0218Musik hörten und eine ganz enorme Arbeit zu bewältigen
0219hatten. Allmälig entstanden in den wichtigsten Städten eigene
0220Musikvereine, meist durch Mitglieder solcher „Conventions“,
0221und machten dieselben überflüssig.


0222Ein wichtiges Ereigniß war das große dreitägige Musik-
0223fest, des die Händel- und Hayden-Gesellschaft im Mai 1857 [3]
0224nach Muster der englischen Festivals gab. Der Chor war
0225500 Stimmen, das Orchester 78 Mann stark, der Solo-
0226gesang durch die besten Künstler vertreten. Seither feiert
0227Boston alle drei Jahre sein Musikfest. Der Fortschritt
0228Bostons zeigte sich auch in der Gründung einer eigenen
0229Musikzeitung, welche Mr. Dwight, ein begeistertes
0230und thätiges Mitglied der „Harvard Association“, unter dem
0231Titel „Dwight’s Journal of music“ begründete. Ein Hinderniß
0232für regelmäßige Orchester-Concerte bestand nur in dem Mangel
0233eines stabilen Orchesters. Die Concerte mußten immer Nach-
0234mittags stattfinden, weil die Musiker fast sämmtlich des
0235Abends in den Theatern beschäftigt waren. Diesem Mangel
0236haben später die enthusiastischen Studenten des Harvard-
0237Collegiums abgeholfen, welche auch den ersten Impuls gaben
0238zur Pflege der Kammermusik in Boston. Es entstand
0239im Winter 1849 der „Mendelssohn-Quintett-Club“, der heute
0240noch besteht. Bei dem schwankenden Zustand der Instrumental-
0241Musik in Amerika war das häufige Erscheinen reisender
0242Orchester
doppelt werthvoll. Gungl aus Berlin, das
0243„Saxonia-Orchester“ unter Karl Echardt, die „Lombardi“
0244unter August Fries kamen nacheinander. Keine dieser Ge-
0245sellschaften blieb längere Zeit beisammen; einige ihrer Mit-
0246glieder siedelten sich in Newyork, Boston oder in einer Stadt
0247des Westens an. Glänzende Concerte gab Jullien aus
0248London, ein tüchtiger Dirigent, zu dessen Gesellschaft Anna
0249Zerr
gehörte, die erste Darstellerin der Martha im Wiener
0250Hofoperntheater. Am einflußreichsten wurde das „Germania
0251Orchestra
“. Sein Kern bestand aus Mitgliedern der
0252Gungl’schen Gesellschaft, denen andere geschickte Musiker,
0253durchaus befreundete junge Leute, sich anschlossen. Die
0254„Germania“ erfreute sich des seltenen Vorzugs, für jedes
0255Instrument einen tüchtigen Solisten zu besitzen. Sie landete
0256im September 1848 in Newyork und gab dort sechzehn
0257Concerte mit großem Beifalle, aber geringem Profit. Die
0258„Philharmonische Gesellschaft“ mußte mit einem Benefice-
0259Concert aushelfen, dessen reichlicher Ertrag den gesunkenen
0260Muth der Deutschen wieder hob. In Philadelphia wurde
0261ihre Lage verzweifelt. Mit wechselndem Glück bereisten sie 
0262nach einander viele Städte der Union, bis sie in Boston 
0263mit rasch nacheinander gegebenen zwanzig Concerten die Höhe
0264ihrer Erfolge erreichten. Für die musikalische Entwicklung
0265Amerikas war das „Germania“-Orchester, das im Laufe von
0266sechs Jahren 129 Concerte gegeben hat, von eminenter
0267Wichtigkeit. Eine überaus große Anzahl von guten und be-
0268deutenden Tonwerken ward durch die „Germania“ da zuerst
0269bekannt. Eine schwere, aber nicht vergebliche Pionnier-Arbeit!
0270Wie oft standen diese Künstler, die im Stande waren, eine
0271Beethoven’sche Symphonie perfect auswendig zu spielen, vor
0272einem Publicum, welchem feinere Orchestermusik etwas ganz
0273Neues war. Die Mühsal unausgesetzten Reisens und der
0274Wunsch, sich endlich eine bleibende Heimat zu gründen, ver-
0275anlaßte die „Germania“, 1854 auseinanderzugehen. Aber
0276selbst nach ihrer Auflösung hat sie segensreichen Einfluß fort-
0277geübt und übt ihn noch heute, indem viele ihrer Mitglieder
0278sich in Amerika bleibend niederließen und jetzt wichtige Musik-
0279ämter dort bekleiden.


0280Die übrigen Städte Amerikas kommen musikalisch neben
0281Boston und Newyork kaum in Betracht. Philadelphia ist
0282in musikalischer Hinsicht eine Art Vorstadt von Newyork 
0283und wird von da mit Opern und Virtuosen versorgt. Bei
0284der Weltausstellung vom Jahre 1876 spielte die Musik eine
0285schlechte Rolle; die Philadelphier hatten nicht dafür gesorgt,
0286und die Fremden achteten nicht darauf. Was die musikalische
0287Cultur des Westens betrifft, so haben zwei westliche Städte,
0288Milwaukee und Cincinnati, darauf einen ähnlichen
0289Einfluß geübt, wie Boston und Newyork auf die übrigen
0290Städte des Ostens. Das musikalische Leben in Milwaukee 
0291stand anfangs ganz unter deutscher Einwirkung. Eine
0292große Emigration von gebildeten Deutschen hatte sich hier
0293früh angesiedelt und ist namentlich in Folge der Revolution
0294von 1848 durch zahlreiche neue Einwanderer vermehrt wor-
0295den. Sie brachten Liebe für Musik und Poesie mit und
0296gründeten eifrig Singvereine. Hanns Balatka, einer dieser
0297deutschen Achtundvierziger, trat an die Spitze des Milwaukee-
0298Musikvereins, eines des ältesten und einflußreichsten im
0299Westen. Er brachte schon vor fünfzehn Jahren das deutsche 
0300Requiem und die beiden ersten Symphonien von Brahms 
0301zur Aufführung. In Cincinnati und Chicago sind es
0302gleichfalls vorzugsweise die Deutschen, welche Gesangvereine
0303gebildet haben und Musikfeste veranstalteten. In St. Louis 
0304gründete 1859 Ed. Sobolewsky, ein geborener Königs-
0305berger und Schützling Liszt’s, eine Philharmonische Gesell-
0306schaft, welche viele der besten neueren Orchesterwerke zum
0307erstenmale dort bekannt machte. Er starb 1872 in St. Louis.
0308Im Allgemeinen verwenden die westlichen Städte ihre musi-
0309kalischen Anstrengungen auf die Veranstaltung jährlicher
0310Musikfeste, deren guter Einfluß unzweifelhaft und um so
0311wichtiger ist, als dort, wo stabile Orchester fehlen, regel-
0312mäßige große Instrumental-Concerte nicht herzustellen sind.
0313Die älteste und bedeutendste Vereinigung für solche Musik-
0314feste ist der „Nordamerikanische Sängerbund“,
0315bestehend aus den deutschen Musikvereinen verschiedener
0316Städte des Westens. Anfangs blos auf Männergesang be-
0317schränkt, erschien der Bund bei dem Sängerfest in Chicago 
0318(1868) mit einem Orchester von 100 Mann und wirkt seit-
0319her auf breiterer Grundlage.


0320Nationalgesang ist im amerikanischen Volk nicht
0321zu finden. Der amerikanische Pächter, Schäfer, Handwerker
0322singt niemals, außer als Mitglied eines Kirchenchors.
0323Darum ist die amerikanische Landschaft stumm und unbelebt
0324und macht, trotz ihrer Naturschönheiten, einen melancholischen
0325Eindruck. Die beseelenden, erfrischenden Klänge der mensch-
0326lichen Stimme fehlen vollständig. Das Gefühlsleben der
0327Menschen, welche hier das Land bebauen, scheint tief in ihre
0328Brust zurückgedrängt oder nicht existirend. Nur einmal im
0329Jahr klingen menschliche Stimmen durch die Landschaft:
0330wenn die Sommerparteien kommen, die Städter, welche mit
0331ihren abgeschmackten, trivialen Minstrel-Balladen die Sing-
0332vögel verscheuchen. Wie sollen wir uns diese gänzliche Ab-
0333wesenheit von Volksgesang erklären? Professor Tyler sagt in
0334seiner Charakteristik der ersten Ansiedler in Neu-England: „Ihnen
0335war das Leben eine ernsthafte Arbeit, ja ein harter Kampf. Außer
0336und über diesem war es nur die Religion, was ihre ganze
0337Intelligenz und Empfindung absorbirte. Religion, sagten sie, [4]
0338ist die Hauptsache; sie glaubten es, sie handelten danach.
0339Die Wirkung war furchtbar. In Plymouth wird eine brave
0340Dienstmagd Samuel Gordon’s wie eine Landstreicherin aus
0341der Gemeinde ausgestoßen, weil sie — in der Kirche gelächelt
0342hat. Ein hochgeachteter Geistlicher, der einige junge Leute im
0343Erdgeschoß herzlich lachen hört, steigt sofort zu ihnen her-
0344unter mit der Ermahnung: „Mitbrüder, ich staune, daß ihr
0345so heiter sein könnt, da ihr doch eurer ewigen Seligkeit nicht
0346gewiß seid!“ Aus dem Gemüth eines solchen Volkes kann
0347ein unbefangener herzlicher Gesang nicht erblühen. Diese
0348düstere Verschlossenheit ist bis auf den heutigen Tag der
0349Grundzug der Majorität des Volkes geblieben. Allerdings
0350geschah während des Unabhängigkeitskrieges der Versuch, einige
0351patriotische Lieder zu schaffen, aber nach dem Krieg waren
0352sie auch schon vergessen; der groteske, lächerliche „Yankee-
0353doodle“ — obendrein ein fremdländisches Product — hat
0354sie alle aus dem Feld geschlagen. Daß ein so ernsthaftes
0355Volk diesen Gassenhauer zum Ausdruck seiner patriotischen
0356Gefühle erwählen konnte, gehört zu den psychologischen
0357Räthseln.


0358Volksgesang von sehr origineller Form existirt nur in
0359den südlichen Staaten der Union: die Lieder der farbigen
0360Race. Die Farbigen des Südens sind sprichwörtlich musika-
0361lisch; man könnte sie ein Troubadourvolk nennen. In einigen
0362ihrer Melodie-Typen besteht Alles, was man eigentlich
0363amerikanische Musik nennen kann; alles Uebrige ist mehr
0364oder minder vollständig das Echo europäischer Musik. Natür-
0365licher, naiver Gesang war das Einzige, was den armen
0366unterdrückten Sklaven in Zusammenhang mit seinem Volke
0367erhielt. Die gleichförmig düstere Geschichte des ehemaligen
0368Negersklaven zeigt ihn uns als ein Wesen von geringer
0369Intelligenz, nur im Besitz einiger wörtlich eingelernten reli-
0370giösen Vorschriften und eines angeborenen musikalischen
0371Talents. Seine Nationallieder, größtentheils in Dur, zeigen
0372einen lebhaften Sinn für originelle Melodie und Rhythmik,
0373auch für eigenthümliche Harmonisirung des vom Chor ge-
0374sungenen Refrains. Der Neger der Vereinigten Staaten ist
0375derzeit ein freier Mann und genießt die Vortheile einer 
0376höheren intellectuellen Erziehung. Nicht wenige Farbige,
0377Männer wie Frauen, haben sich bereits ausgezeichnet als
0378Sänger und Instrumentalisten, ja sogar durch Proben von
0379Compositions-Talent. Schade, daß Dr. Ritter nicht einige
0380dieser von ihm so sehr gepriesenen Negerlieder in Noten bei-
0381gefügt hat; sie wären den Lesern willkommener gewesen, als
0382die im Anhang abgedruckten alten Psalm-Melodien. Bemerkens-
0383werth ist, daß die Weißen in Amerika, gleichgiltig und passiv in
0384Erfindung von Original-Melodien, sich gegenwärtig die
0385charakteristischen Rhythmen und Modulationen der Neger gern
0386aneignen, um ihren „Balladen“ eine Localfarbe zu geben.
0387Diese Balladen werden insbesondere durch die speciell ameri-
0388kanischen Productionen der Negro-Minstrels populär und
0389haben das Talent manches amerikanischen Componisten ab-
0390sorbirt. Der Begabteste unter ihnen ist Stephen Foster,
0391ein Amerikaner irländischer Abkunft, der in Newyork 1864 
0392starb, nachdem er eine Menge volksthümlich gewordener, in
0393ihrer Einfachheit rührender Balladen geschrieben. Er kann
0394par excellence „der Componist des amerikanischen Volkes“
0395genannt werden.


0396Wir schließen unsere Mittheilungen aus Dr. Ritter’s
0397werthvollem Buche mit dem Wunsche, es möchte die nächste
0398Auflage drei Versehen gutmachen, die uns besonders aufge-
0399fallen sind. Fürs erste fehlt unter den zahlreichen, von Dr.
0400Ritter aufgezählten Sängerinnen der Name Pauline
0401Lucca
. Diese Künstlerin, deren Namen man ebensowenig
0402übersehen, als ihre genialen Leistungen vergessen kann, hat
0403durch drei Jahre in Amerika geglänzt. Ferner vermissen wir
0404den Namen Wilhelm Gericke’s, der in den letzten fünf
0405Jahren die Bostoner Symphonie-Concerte mit größter Hin-
0406gebung und glänzendem Erfolge geleitet hat. Endlich erwähnt
0407der Verfasser nur ganz beiläufig der Brüder Steinway 
0408als Erbauer der „Steinway-Hall“, ohne deren epochemachende
0409Erfindungen und Leistungen im Clavierbau zu berühren,
0410die in allen Weltausstellungen den Sieg über die europäische
0411Fabrication davongetragen haben. Wenn ein Name die musi-
0412kalische Reputation Amerikas in Europa hoch gesteigert, ja
0413geschaffen hat, so ist es der Name Steinway.

Fußnoten
  • *)Vergl. die Feuilletons vom 24. und 25. Juni d. J.