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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9340. Wien, Sonntag, den 24. August 1890

[1]

Nach dem Sängerfest.


0002Ed. H. Während das Sängerfest sich in Wien ab-
0003spielte, geschah es, daß ein Wiener Musikkritiker unversehens
0004von Bekannten in einem Gebirgsdorf aufgestöbert wurde.
0005Man sieht ihm erstaunt und etwas vorwurfsvoll ins Gesicht.
0006„Wie? Sie sind nicht beim Sängerfest? Sie schreiben nicht
0007darüber? Freuen Sie sich denn etwa nicht des jubelnden
0008Empfanges unserer singenden deutschen Armee?“ Worauf der
0009Flüchtling ungefähr Folgendes antwortete: Gewiß freue ich
0010mich von ganzem Herzen und juble mit, wo immer das
0011treue Zusammenstehen Deutsch-Oesterreichs mit dem Mutter-
0012lande in tausendstimmigem Rufe sich kundgibt. Ich gestehe
0013sogar, daß jede begeisterte Kundgebung einer großen Volks-
0014menge, ja die bloße Lectüre der Zeitungsberichte mich aufs
0015tiefste ergreift und rührt. Aber, meine werthen Freunde, Sie
0016interpelliren mich ja nicht als Menschen, nicht als Deutsch-
0017Oesterreicher, sondern als Musikkritiker. Und in dieser Eigen-
0018schaft kostet es mich wirklich einige Anstrengung, herauszu-
0019finden, was denn eigentlich an so einem Sängerfest musi-
0020kalisch
wichtig und bedeutend sei? Verfolgen wir den Her-
0021gang des Festes, wie ihn unsere Blätter so lebendig und
0022warm geschildert haben. Zuerst jubelnder Empfang der an-
0023kommenden Sänger auf den Bahnhöfen, herzliche Ansprachen
0024und Erwiderungen. Sodann der imposante Aufmarsch, ein
0025drei Stunden langer Triumphzug, umbraust von Hochrufen,
0026umflattert von wehenden Taschentüchern und fallenden Blumen.
0027In der Festhalle endlich ein Bankett mit schmetternden
0028Toasten und Fanfaren. Dies Alles ist freudvoll und erhebend,
0029aber gewiß nicht musikalisch, sowenig musikalisch, daß es sich gleich
0030geblieben wäre, wenn wir statt der deutschen Sänger deutsche
0031Schützen begrüßt hätten. Gehen wir so weit, uns vorzustellen, es sei
0032mit diesem glänzenden ersten Tage das Fest zu Ende gewesen;
0033jedenfalls war es der ergreifendste Theil, der stärkste Ein-
0034druck des Festes. Und doch hat die Musik nichts dazugethan.
0035Die moralische Wirkung, die wichtigste dieses Sängerbesuches,
0036stand am ersten Tage auf ihrer Höhe; das tausendstimmige
0037Hoch- und Hurrah-Rufen ersetzte und übertraf jede
0038andere Musik.


0039„Aber die Gesangsproductionen am zweiten und dritten
0040Tag! — diese lieferten doch reiche Ausbeute für die musi-
0041kalische Kritik ?“ Ich glaube nicht. Was ist denn in diesen
0042Concerten gesungen worden, das wir nicht schon oft und
0043vortrefflich gehört? Die Literatur des vierstimmigen Männer-
0044gesangs ist ja arm an werthvollen Compositionen. Die
0045schlichten Chorlieder, welche die Stifter der ersten Lieder-
0046tafeln — Zelter in Berlin und Nägeli in Zürich —
0047für ihre kleine Schaar componirt haben, sind längst veraltet.
0048Mozart und Beethoven haben diese Kunstform nur
0049ausnahmsweise als Operncomponisten gestreift in der Zauber-
0050flöte und im Fidelio. Erst mit Weber, Marschner,
0051Conradin Kreutzer beginnt die Frühlingszeit des
0052mehrstimmigen Männergesangs; auch von ihren Blüthen
0053sind gar viele rettungslos verwelkt. Mit den Liedertafeln
0054und durch dieselben vermehrten sich die Compositionen für
0055Männerchor; die Mittelmäßigkeit und der Dilettantismus
0056ergossen sich in breiten Fluthen darüber. Mendelssohn 
0057und Schumann sind die letzten großen Meister, welche
0058den Liedertafeln einige Perlen, nur wenige, geschenkt haben.
0059Große Chorcompositionen mit schwieriger Orchesterbegleitung,
0060wie Wagner’sLiebesmahl“, Brahms’Rinaldo“
0061kommen hier nicht in Betracht; die fremden Sänger bringen
0062keine Orchester mit, noch haben sie die Zeit, solche Werke
0063mit einem Wiener Orchester erst einzustudiren. Uebrigens
0064kennen wir in Wien das Wichtigste, was die neuesten Ton-
0065dichter an solchen größeren Chorwerken mit Orchester gelie-
0066fert haben — Tschirch, Heinrich Hofmann, Liszt, Hans
0067Hueber, Bruch, Gernsheim etc. — Sachen, welche bei aller
0068virtuosen Technik überwiegend den Eindruck des Uebertrie-
0069benen, künstlich Aufgebauschten zurücklassen. Mit unserem
0070Engelsberg scheint der letzte naive, melodienreiche Com-
0071ponist von Männerchören dahingegangen zu sein. Wie gerne
0072kehren wir zurück zu seiner liebenswürdigen Anspruchslosig-
0073keit von jenen bombastischen Stücken mit großem Orchester,
0074welche die bescheidenen Vorzüge des vierstimmigen Männer-
0075chors unnatürlichen und unerreichbaren Aspirationen opfern.
0076Eine Quelle, aus welcher die Männergesang-Vereine
0077noch reichlich schöpfen könnten, sind die Volkslieder
0078die deutschen zunächst, dann die italienischen und nordischen.
0079Wie viel Köstliches läßt sich da, am besten in dreistimmigem
0080Satz, noch bearbeiten!


0081In den Wiener Festconcerten wechselten Einzelproduc-
0082tionen der verschiedenen Vereine mit Gesammtvorträgen der
0083ganzen Sängermasse. Beide hatten gegen die akustischen
0084Hindernisse des riesigen Locals zu kämpfen. Unmöglich, daß
0085in einer luftigen, zwanzigtausend Personen fassenden Halle
0086Pianostellen und zarte Details überall vernehmlich, geschweige
0087denn wirksam herauskommen. Ebensowenig erreicht in der
0088Regel das Forte der zusammenwirkenden großen Masse den
0089erwarteten außerordentlichen Effect. Wir konnten in Wien 
0090diese Erfahrung machen, als Herbeck vor fünfundzwanzig
0091Jahren sämmtliche Männergesang-Vereine Wiens, zwölf-
0092hundert Mann stark, in der kaiserlichen Winter-Reitschule zu
0093einer Monstre-Production vereinigte. Die Steigerung der
0094Tonstärke hat ihre akustische und ästhetische Grenze; das heißt
0095die Wirkung wächst mit der Quantität der ausführenden
0096Kräfte nur bis zu einem gewissen Punkt, der ungefähr dem
0097chemischen Begriff der „Sättigung“ entspricht: über diesen
0098hinaus bleibt die akustische Wirkung stehen und geht die
0099ästhetische sogar zurück. „Was ungeheuer, ist darum nicht
0100groß,“ heißt es bei Grillparzer. Bei dem Pariser Aus-
0101stellungsfest, das 1867 in dem 20,000 Menschen fassenden
0102Industriepalast stattfand, wirkten 6000 Sänger und ein
0103Riesen-Orchester zusammen; trotzdem verpuffte die Musik
0104ohnmächtig wie ein Löffel voll Wasser auf einer glühenden
0105Platte. Musikproductionen in einem übergroßen Raum
0106bieten niemals einen musikalisch reinen, ungetrübten Genuß.
0107Meistentheils ist der überwältigende Eindruck, den das
0108Publicum von so einem Monstre-Festconcert empfängt, mehr
0109eine Wirkung auf das Auge, als auf das Ohr.


0110Anfangs eine rein gesellige Unterhaltung, hat das Lieder-
0111tafelwesen mit der Zeit eine höhere Vollendung angestrebt [2]
0112und ist mit Erfolg aus dem Club in die Oeffentlichkeit auf-
0113gestiegen. So lange der Männergesang irgendwo mit dem
0114Reiz der Neuheit auftritt, übt er, auch auf das Concert-
0115Publicum, einen eigenthümlichen Zauber. Man glaubt, an dem
0116reinen, scharfen Zusammenklang frischer Männerstimmen sich
0117nicht satthören zu können und gibt sich anfangs mit der Dutzend-
0118waare von Trink-, Scherz- und Liebesliedern zufrieden. Später
0119macht sich allmälig das Enge und Dürftige des Männergesanges
0120immer fühlbarer, und selbst die virtuoseste Ausführung will nicht
0121mehr recht über die Spärlichkeit des geistigen Gehalts hinweg-
0122helfen. Chormeister von besserer Bildung und stärkerem Ehr-
0123geiz, wie unser Herbeck, waren mit Erfolg bemüht, die
0124Grenzen des Repertoires zu erweitern und die Liedertafel
0125auf ein künstlerisches, concertmäßiges Niveau zu heben. Der
0126Männergesang trat in eine zweite Periode, in die der höheren
0127Ziele und ernsteren Würdigung. Aber auch auf diese ist
0128bereits die Ernüchterung gefolgt, ja mitunter bis zu der
0129freundlichen Mahnung vorgeschritten, es möchte der vier-
0130stimmige Männergesang aus den Concertsälen allmälig
0131wieder in den Burgfrieden der Geselligkeit und des Vereins-
0132wesens zurückkehren. Namentlich die letzten zehn bis fünfzehn
0133Jahre haben uns übersättigt am Männerchor, der, monoton
0134und von beschränktem Umfang, bei aller technischen Vervoll-
0135kommnung doch selbstständig nur geringe musikalische Werthe
0136zu produciren vermag. Die Ueberschätzung erzeugte den Rück-
0137schlag. Und wie weit diese Ueberschätzung gediehen war, kann
0138man aus der Thatsache ersehen, daß die deutschen Gesang-
0139vereine dem Liedertafel-Componisten Franz Abt in Braun-
0140schweig ein Monument gesetzt haben. Nicht etwa eine Ge-
0141denktafel an seinem Geburtshaus, nein, ein großes Stand-
0142bild, wie es Mozart und Beethoven, Schiller und Goethe 
0143haben. Selbst wenn man, geziemenderweise, zuvor an ein
0144Monument für Kreutzer und Lortzing gedacht hätte —
0145es wäre, glaube ich, noch lange nicht die Reihe der Ver-
0146ewigung an Abt gekommen, von dem man wahrscheinlich
0147in zehn Jahren keine Note mehr singen wird.


0148Dem Liedertafelwesen eignen viele unbestreitbare Vor-
0149züge, die nicht mit dem eigentlich musikalischen Kunstgewinn
0150zusammenfallen. Seine erfrischende und veredelnde gesellige 
0151Bedeutung brauche ich kaum hervorzuheben. Nur ist dabei
0152der eine Nachtheil nicht ganz zu übersehen, daß diese Vereine
0153den deutschen Trieb zur Absonderung befördern und die
0154Bildung von „gemischten“ Chören sehr erschweren. In
0155Amerika lösten sich fast alle Männergesang-Vereine auf, so-
0156bald sie zur Vervollständigung ihrer musikalischen Leistungen
0157Frauen herbeizogen. Und doch bleibt der aus Männer- und
0158Frauenstimmen gebildete — der ganze — Chor die un-
0159gleich vollkommenere künstlerische Form, zu welcher sich der
0160Männerchor verhält wie der Theil zum Ganzen. Noch
0161möchte ich eine andere, höchst werthvolle Wirkung des Männer-
0162gesangs hervorheben: seinen sittlich bildenden Einfluß auf
0163die arbeitenden Classen. In Frankreich und Belgien 
0164kann man sich davon überzeugen. Die französischen Gesang-
0165vereine (orphéons) recrutiren sich (in Paris fast ausschließ-
0166lich, in der Provinz größtentheils) aus den arbeitenden
0167Classen; bei uns bestehen sie überwiegend aus musikalisch
0168geschulten Dilettanten des Mittelstandes. Daraus erklärt sich
0169der ungleich höhere künstlerische Werth der deutschen
0170Gesangvereine, andererseits die weit größere sociale 
0171Wichtigkeit der französischen. Diese Pariser Arbeiter singen
0172oft herzlich schlecht — kennen doch viele keine Noten —
0173aber die regelmäßige, liebevolle Beschäftigung mit der Musik
0174haucht unfehlbar ein Element der Veredlung und Ver-
0175feinerung in ihr Leben und vermittelt ihnen zugleich ein
0176wohlthuendes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Die Re-
0177gierung hat an der Gründung dieser Gesangvereine und
0178Gesangschulen ein außerordentliches Verdienst; die meisten
0179sind geradezu ihre Schöpfung. Sie sorgt für den Gesang-
0180unterricht, überwacht die Prüfungen, schreibt Concurse aus,
0181vertheilt Preise. Auch die Soldaten verdanken der französischen
0182Regierung die Einführung des Chorgesangs; vor 20 Jahren
0183zählte die französische Armee schon mehr als 70 Regiments-
0184Gesangschulen, und die allgemeine Einführung des Chor-
0185gesangs in der ganzen Armee ist dort längst beschlossen. Von
0186diesen wohlthätigen Einrichtungen zur Pflege des Chorgesangs
0187weiß man leider nichts in Oesterreich, und doch ist dies ein
0188Punkt, an dem ein mächtiger Hebel zur Volksbildung und
0189 Veredlung einzusetzen wäre.


0190Die politische Macht der Männergesang-Vereine,
0191wovon jetzt auch häufig gesprochen wird, kann ich nicht hoch
0192anschlagen. Es war etwas Anderes in vormärzlicher Zeit,
0193wo diese Vereine als ein „aus Deutschland importirtes Gift“
0194von Metternich verboten und verfolgt worden sind. Diese
0195bureaukratische Unterdrückung machte sie thatsächlich zu
0196Trägern des liberalen Geistes, obgleich sie sich nicht unter-
0197fingen, einen liberalen Text zu singen. Seitdem die Männer-
0198gesang-Vereine nicht mehr unter die Gifte classificirt werden,
0199sind sie politisch Milch geworden. In den Freiheitskriegen
0200entflammten noch die Lieder von Körner, Arndt und
0201Schenkendorf den Patriotismus daheim und im Feldlager.
0202Das dritte Bataillon Lützow besaß zuerst einen eigenen
0203Sängerchor, von dem der alte Jahn Wunder erzählte. Auch
0204diese Rolle ist ausgespielt.


0205Mit dem „politischen“ Einfluß wolle man aber die
0206nationale Bedeutung des deutschen Männergesangs nicht
0207verwechseln. Letztere ist unbezweifelt und von starkem mora-
0208lischen Werth. Wie ein schwarz-roth-goldenes Band verbindet
0209das heimatliche Lied alle die über ganz Amerika verstreuten
0210Deutschen. Männer aus Boston, Chicago, Philadelphia haben
0211die weite Meerfahrt nicht gescheut, um in Wien mit All-
0212Deutschland zusammenzutreffen. Mit welchem Jubel wurden
0213sie begrüßt, sie und die Sänger aus Bayern, Preußen,
0214Schwaben! Sie haben einander nie zuvor gesehen und fühlten
0215sich doch sofort verwandt und treu verbunden — durch das
0216deutsche Lied. Das sind Gefühle von idealem Gehalt und
0217unvergänglicher Kraft. Aber Gefühle sind nicht Kunst, natio-
0218nale Sympathien sind nicht Musik. Das Sängerfest in Wien 
0219war allen Berichten zufolge fleckenlos herrlich, eine Freude
0220für alle Mitwirkenden und Mitgenießenden, ein reicher Stoff
0221für die schildernde Feder — aber kein Ereigniß von eminent
0222musikalischem Interesse. Jede neue Oper, jede neue Cantate
0223oder Symphonie ist uns musikalisch wichtiger, als das ganze
0224dreitägige Sängerfest im Prater. Und darum — so schloß
0225der aus der Sommerfrische aufgescheuchte Kritiker — darum
0226glaube ich durch mein Fernbleiben wol ein erhebendes
0227Schauspiel, nicht aber eine Pflicht versäumt zu haben.