Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9383. Wien, Dienstag, den 7. October 1890
[1]Hofoperntheater.
(„Der Barbier von Bagdad“, komische Oper in zwei Acten; Text und Musik von Peter Cornelius.)
0003Ed. H. Es ereignet sich hin und wieder auch im Kunst-
0004leben, daß ein erster Mißerfolg sich nach Jahren in strahlende
0005Glorie verwandelt. Kommt das Publicum im Laufe der Zeit
0006dahinter, daß einem Künstler übereiltes schnödes Unrecht
0007widerfahren, so pflegt es das ehedem Vorenthaltene hundertfach
0008zu ersetzen, die Anerkennung zur Verherrlichung zu steigern.
0009Auf die erste Periode, die des Ignorirens oder Verurtheilens,
0010folgt meistens eine Epoche der Ueberschätzung, nach welcher
0011erst eine spätere dritte Phase das richtige Gleichgewicht
0012wieder herstellt. Nach alledem, was man heute über Cornelius
0013zu lesen bekommt — es sind ganze Broschüren darunter —
0014scheint das öffentliche Urtheil sich noch in jenem zweiten
0015Stadium, dem der Ueberschätzung, zu befinden, indem es
0016den Mann, anstatt ihn einen geistreichen, feinen und
0017liebenswürdigen Künstler zu nennen, ohneweiters als
0018einen der großen Unsterblichen, als bahnbrechenden
0019Genius proclamirt. Man erinnert sich des gewaltigen
0020Lärms, mit welchem „Der Barbier von Bagdad“ in
0021Weimar zur Welt kam. Es war der Lärm Eines, der
0022mit krachendem Gepolter durchfällt. Liszt, der 1858 die
0023Erstlingsoper des jungen Cornelius liebevoll einstudirt und
0024dirigirt hatte, fühlte sich durch die rücksichtslose Ablehnung
0025derselben so tief verletzt, daß er sich sofort vom Theater
0026zurückzog. So weithin widerhallte der Sturz dieser Oper,
0027daß durch zwei Decennien jeder Theater-Director vor dem
0028„Barbier“ scheu auswich, wie vor einer gefüllten Bombe.
0029Wie sollte vor 32 Jahren eine komische Oper nicht befrem-
0030den, welche das massive, complicirte Rüstzeug Wagner’s
0031einem kleinen Lustspielstoff auflud und den Hörern die unge-
0032wohnteste geistige Anstrengung! Man könnte den „Barbier
0033von Bagdad“ fast einen schüchternen Vorläufer der zehn
0034Jahre jüngeren „Meistersinger“ nennen. Nachdem einmal
0035das Publicum mit den Meistersingern befreundet war, deren
0036Styl sich zur älteren komischen Oper verhielt wie Frescomalerei
0037zu Miniaturbildchen, da erinnerten sich die Theater-Directoren
0038auch des „Barbiers von Bagdad“. Cornelius selbst hat diesen
0039günstigen Umschwung leider nicht mehr erlebt; sein „Bar-
0040bier“ aber ist wieder lebendig geworden und treibt heute auf
0041den besten deutschen Bühnen erfolgreich sein lustiges Handwerk.
0042Auch das Wiener Hofoperntheater hat jetzt den „Barbier“
0043aufgenommen und hat recht gehandelt. Das Werk verdient
0044es um seiner selbst willen. Ueberdies war augenscheinlich
0045einem Wunsch unseres Publicums entsprochen, das sich in
0046günstigster Voreingenommenheit zu der Vorstellung einfand.
0047Mit fast befremdendem Jubel nahm es gleich die Ouvertüre
0048auf, meines Erachtens das schwächste Stück der Oper. Man
0049merkte es diesem Beifallssturm an, daß die Wagner-Partei
0050ihre Hand oder vielmehr ihre Hände im Spiel hatte.
0051Die Ouvertüre, aus allen möglichen Themen der Oper zu-
0052sammengeschüttet, macht den Eindruck des Zerhackten, Form-
0053losen und Ueberladenen. Der Componist fühlt sich in dem
0054symphonischen Rahmen offenbar unbehaglich und nervös auf-
0055geregt; er wechselt seine Motive, Ton- und Tactarten jeden
0056Augenblick, wie der Vogel im Käfig die Sprossen. Sein
0057Talent verräth auch hierin eine Verwandtschaft mit Wagner;
0058wie dieser bedarf Cornelius des Wortes, womöglich der eigenen
0059Dichtung, als Anhalt für sein musikalisches Erfinden und
0060Formen. Auch Cornelius hat, gleich Wagner, sich nicht von
0061Haus aus der Musik gewidmet, sondern zwischen Dichtkunst
0062und Musik geschwankt. „Der Dichter in mir,“ schreibt er,
0063„war unter großen Wehen geboren; der Musiker war ein
0064Angstkind von jeher; da kam aber nun das Glückskind, das
0065von Beiden das Beste hatte und mit freiem künstlerischen
0066Gebahren in die Welt lachte. Das war der Dichter-
0067Musiker.“ Die Schwäche solchen Doppelwesens offenbart
0068sich in der Ouvertüre, seine Stärke in der Oper selbst.
0069Beim Aufziehen des Vorhanges sehen wir den jungen
0070Nureddin (Herrn Schrödter), von klagenden Dienern um-
0071geben, krank auf seinem Divan ausgestreckt. Er verzehrt sich
0072in Sehnsucht nach Margiana, einer ihm gegenüber wohnen-
0073den Schönen, die er nur vom Fenster aus kennt. Wahr-
0074scheinlich würde er einen erbärmlichen „Liebestod“ sterben,
0075rettete ihn nicht Margiana’s Gesellschafterin Bostana (Fräu-
0076lein v. Artner) mit der frohen Botschaft, ihre Herrin er-
0077warte ihn. Schnell läßt der Beglückte einen Barbier holen,
0078der ihn sauber herausputzen soll für diesen Besuch. Der
0079Barbier (Herr Grengg) erscheint, ein würdevoller Alter mit
0080dem weitläufigen Namen Abul Hassan Ali Ebn Bekar und
0081noch weitläufigeren Reden. Da er, anstatt zu rasiren, nur
0082unablässig schwatzt, befiehlt der ungeduldige Nureddin seinen
0083Dienern, den Alten hinauszuwerfen. Dieser jedoch jagt
0084sie, mit seinem Rasirmesser bewaffnet, sämmtlich in
0085die Flucht. Nun verlegt sich Nureddin aufs Bitten
0086und Schmeicheln und wird endlich nach Wunsch rasirt.
0087Nach gethaner Arbeit will aber der Barbier das
0088Zimmer nicht verlassen, sondern besteht darauf, Nureddin
0089zu Margiana zu begleiten. Um den Lästigen loszuwerden,
0090läßt Nureddin den Barbier auf das Ruhebett werfen, ihn
0091mit Kissen bedecken und massiren, während er selbst zu seinem
0092Rendezvous eilt. Der zweite Act spielt in der Wohnung der
0093Margiana (Fräulein Beeth). Ihr Vater, der Kadi Mustapha
0094(Herr Schmitt), der sie einem reichen alten Kaufmanne ver-
0095heiraten will, läßt eben die Brautgeschenke desselben in einer
0096großen Kiste hereintragen. Da rufen die Muezzim zum Gebet,
0097der Kadi eilt in die Moschee, und der sehnlich erwartete
0098Nureddin kann eintreten. Die beiden Liebenden sind mit ihrem
0099Duett kaum fertig, als sie Lärm und Geschrei vernehmen:
0100der Kadi ist zurückgekehrt. Nureddin, dem keine Zeit mehr
0101bleibt, zu fliehen, wird von den Mädchen in den großen
0102Koffer versteckt. Man gestatte uns hier die Bemerkung, daß
0103wir in der Oper noch niemals eine geräumige Kiste haben
0104hereintragen und behutsam niederstellen sehen, ohne daß nicht
0105bald nachher Jemand hinein versteckt worden wäre. Im
0106„Barbier von Bagdad“ wirkt also dieser Witz auch nur
0107mäßig überraschend. Abul Hassan hört, das Haus umschleichend,
0108den Lärm und glaubt, Nureddin sei von dem Kadi ermordet
0109worden und liege als Leichnam in der Kiste. Allerlei Volk
0110drängt sich herein und erhebt ein großes Geheul und Lärmen,
0111das endlich auch den Khalifen herbeilockt. Weise wie alle Opern-
0112Khalifen, geräth er auf den sinnigen Einfall, man möge die
0113Kiste öffnen, um zu sehen, was drin ist. Wirklich liegt Nureddin
0114ohnmächtig im Koffer, erholt sich aber allmälig und erhält
0115durch des Khalifen Fürwort die Hand Margiana’s.
0116Es wäre eben nicht unbescheiden, wenn Jemand diesen
0117Stoff etwas mager fände für eine Oper von zwei langen Acten. [2]
0118War doch selbst Liszt mit dem Libretto nicht einverstanden.
0119Die Kunst des Componisten hat es allerdings vermocht, uns
0120größtentheils hinwegzuhelfen über die Langwierigkeit stillstehen-
0121der Scenen; größtentheils, doch nicht immer. Das geringe
0122Interesse der Handlung und die unausweichlich gewordene
0123lange Ausdehnung der einzelnen Scenen sind der wesentlichste
0124Einwand, der sich gegen das Werk erhebt. Hat aber Cor-
0125nelius den Stoff (aus „Tausend und Eine Nacht“) ohne
0126die nöthige Rücksicht auf lebensvolle Handlung gewählt, so
0127verräth er doch in dessen Bearbeitung eine schöne poetische
0128Begabung. Ueberaus glücklich weiß er die bilderreiche Aus-
0129drucksweise des Orients festzuhalten und durch sinnreiche
0130Reimspiele der Rolle des Barbiers nationale Färbung und
0131echt komische Wirkung zu geben. Dieser Barbier, Titelheld,
0132Kern- und Glanzpunkt der Oper, ist eine ganz neue, originelle
0133Figur; er erinnert in seiner drolligen Feierlichkeit an Boden-
0134stedt’s köstlichen Mirza-Schaffy, in seiner Reimvirtuosität
0135an den Abu Saïd von Rückert. Der Barbier von Bagdad
0136bildet eine Art Gegenstück zu dem Rossini’schen Barbier
0137von Sevilla. Beide sind Schwätzer: Figaro ein jugendlich
0138lustiger, Abul Hassan ein alter, lehrhafter, pathetischer. Als
0139Dichter wie als Componist hat Cornelius in der Charak-
0140teristik seines Barbiers Originalität und Humor bewiesen.
0141Wenn wir uns den musikalischen Verlauf der Oper
0142rasch vergegenwärtigen, so verweilen wir gleich mit Ver-
0143gnügen bei dem ersten so weich hinfließenden Chor „Sanfter
0144Schlummer wiegt ihn ein“. Weniger befriedigen uns die
0145beiden folgenden Monologe, in denen Nureddin zuerst seine
0146Verzweiflung, dann sein Liebesglück ausdrückt. Der Gesang
0147verliert sich nur zu oft in declamatorische Phrasen und
0148leidet überdies unter der rastlosen Unruhe und dem unauf-
0149hörlichen Farbenwechsel im Orchester. Sehr hübsch ist das
0150kleine, streng canonisch geführte Duett zwischen Nureddin
0151und Bostana; prächtig der Eintritt des Barbiers („Mein
0152Sohn, sei Allah’s Frieden hier, auf Erden stets beschieden
0153dir“); das komische Pathos der Melodie gewinnt durch die
0154nachschlagenden Reime eine besondere Würze. Auch in seinen
0155beiden Berichten über die sechs Brüder steckt ein ungesuchter,
0156origineller Humor. Dem Allegrosatz: „Bin Akademiker,
0157Doctor und Chemiker“ ist ein Gleiches nicht nachzurühmen;
0158er erinnert zu sehr an ältere Vorbilder. Auch in der eigent-
0159lichen Rasirscene erfreut uns der wackere Abul Hassan durch
0160manche gelungene Stelle; doch würde eine knappere Fassung
0161dieser unbarmherzig hinausgezogenen Operation gewiß zum
0162Vortheil ausschlagen. Cornelius stand hier einer überaus
0163schwierigen Aufgabe gegenüber: er hat einen gravitätischen
0164Schwätzer darzustellen, welcher den Nureddin bis zur
0165Verzweiflung langweilt und doch das Publicum nicht
0166langweilen soll. Eine weite Strecke entlang vermag
0167Cornelius dieses Problem glücklich zu lösen, aber doch
0168nicht ganz bis zu Ende. Und gerade wo er durch
0169Einschiebung großer bewegter Chorscenen einen wirksamen
0170Contrast zu der Einförmigkeit der Rasirscene zu schaffen
0171sucht, geräth er in den entgegengesetzten Fehler. Ich meine
0172die beiden Chöre der Diener, welche den Angriff auf den
0173Barbier unternehmen. In beiden Fällen ist die Musik zu
0174lärmend, spectakelhaft; ihre maßlose Uebertreibung ver-
0175kehrt die beabsichtigte Komik in Rohheit. Welches Auf-
0176gebot, um einen Barbier vor die Thür zu setzen! Die
0177feinen contrapunktischen Künste, welche der Componist hier
0178(wie auch in der Volksscene des zweiten Actes) anbringt,
0179bleiben größtentheils Augenmusik, das heißt Leckerbissen für
0180die Leser der Partitur; in der Aufführung werden sie von
0181den Lawinen des Orchesters verschüttet. Dazu kommt noch,
0182daß der zweite Chor der gegen Abul Hassan losgelassenen
0183Diener eigentlich nur ein Duplicat des ersten, eine Wieder-
0184holung derselben Situation ist und demnach ein schon un-
0185empfänglich und unaufmerksam gewordenes Publicum vor-
0186findet. Sehr hübsch beginnt der zweite Act mit einem graziösen
0187Zwiegesang der beiden Frauen („Er kommt“), welchen der
0188Hinzutritt des Kadi zum Terzett erweitert. Größtentheils als
0189Canon durchgeführt, macht es doch nirgends den Eindruck
0190des Steifen, Verkünstelten. Das Terzett übergeht in
0191eines der wirksamsten, originellsten Stücke der Oper: Drei
0192Muezzim hinter der Scene rufen aus verschiedener
0193Entfernung zum Gebet; die beiden Frauen mit dem
0194Kadi nehmen die (wahrscheinlich original arabische) Melodie
0195auf, die schließlich in noch feineren Verschlingungen vom
0196Orchester weitergesponnen wird bis zum Eintritte Nureddin’s.
0197Die Liebeserklärung dieses feurigen Anbeters und sein Duett
0198mit Margiana haben mich etwas enttäuscht; es fehlt ihnen
0199der starke Duft der Leidenschaft, die Kraft und Neuheit der
0200Melodie. Hier, wo Cornelius, auf complicirte Begleitung
0201verzichtend, rein durch den melodischen Gedanken wirken will,
0202verliert er alle Originalität. Als er vollends die beiden Lie-
0203benden über 40 Tacte lang unisono singen läßt, ver-
0204liert er sich selbst und der Zuhörer die Aufmerksamkeit. Die
0205Klagen Abul’s und des Männerchors, welche durch Hinzu-
0206tritt der Klageweiber zum schneidendsten Jammer anwachsen,
0207überschreiten für meine Empfindung alles Maß, wie auch
0208die Balgerei um die endlos hin und her gezerrte Kiste. Zum
0209Glücke krönt die lang hinausgeschobene Entwicklung ein
0210Schlußgesang, der, zum Style des ersten Actes zurückgrei-
0211fend, uns in der rechten Stimmung und mit dem günstigsten
0212Eindrucke entläßt: Abul’s Huldigung an den Khalifen:
0213„Heil diesem Hause, denn du trat’st ein, Salamaleikum!“
0214Das Stück, geistreich und stimmungsvoll, überrascht ins-
0215besondere durch den reichen Wechsel der Harmonisirung in
0216dem jedesmal vom ganzen Chor aufgenommenen Refrain
0217„Salamaleikum!“
0218Wenn Cornelius in einem Briefe äußert, daß seine
0219Melodien-Bildung „auf dem Wagner’schen Wege geht, ohne
0220platte Nachahmung zu sein“, so entspricht dies der Wahrheit.
0221Er schließt sich an Wagner nur um ein Geringes näher an, als
0222Hermann Götz in der „Widerspenstigen“. Manche Stücke im
0223„Barbier“ stehen völlig auf dem Boden der alten Oper, wie
0224z. B. das Terzett „Er kommt“. Wagnerisch ist hingegen die
0225declamatorische Behandlung aller nicht rein lyrischen Stellen,
0226die Vorliebe für Enharmonik und kühnes Moduliren, vor
0227Allem aber die Behandlung des Orchesters, das eine überaus
0228wichtige, oft die wichtigste Rolle spielt im „Barbier“. Die
0229Instrumente sind fortwährend in eifrigstem Gespräch, weiter
0230ausführend, erklärend, malend, bestreitend, was oben gesungen
0231wird. Der musikkundig folgende Hörer wird von diesem reichen
0232wechselvollen Orchester-Detail unausgesetzt beschäftigt und ange-
0233regt, falls ihn nicht plötzlich einmal die Idee überkommt, er sitze
0234auf einem geistreichen Ameisenhausen. Der „Barbier von [3]
0235Bagdad“ enthält keine directe „Reminiscenz“ aus Wagner,
0236aber er ist durchaus Ein großes Erinnern an Wagner. Die
0237ganze Partitur ist gleichsam mit Wagner imprägnirt, mit
0238Wagner und Berlioz, dessen „Römischer Carneval“ in der
0239Ouvertüre unverkennbar, stellenweise sogar wortgetreu nachklingt.
0240Mit Berlioz trifft Cornelius auch in der Art der Wirkung
0241insofern zusammen, als der „Barbier“, ähnlich wie „Beatrice
0242und Benedict“, mehr den Musiker interessirt, als das große
0243Publicum befriedigt, mehr geistreiche Anregung bietet, als
0244eine unmittelbar packende Wirkung. Hätten wir von Berlioz,
0245dessen Bedeutung in der symphonischen Musik liegt, nichts
0246als seine Opern, wir müßten Cornelius ihm mindestens
0247gleichstellen. Gegen „Beatrice“ gehalten, erscheint mir der
0248„Barbier von Bagdad“ als die bessere komische Oper. Ein
0249starkes, ursprüngliches Musikgenie vermag ich, wie gesagt, in
0250Cornelius nicht zu erkennen, am wenigsten ein in der
0251Melodie originelles und erfindungsreiches; wol aber ist er
0252ein zart empfindender, feiner und beweglicher Geist, der auch
0253einen gewöhnlichen Gedanken aufzuschmücken weiß durch
0254pikante Rhythmik, interessante Orchestration und eine nicht
0255gewöhnliche harmonische und contrapunktische Kunst. Von
0256scharfem Gewürz, wozu wir auch den sehr häufigen Tact-
0257wechsel zählen, nimmt er gern eine volle Hand; Bizarres
0258und Uebertriebenes bringt er häufig, geradezu Triviales
0259niemals. Die Perlen der Oper haben wir nach Gebühr
0260hervorgehoben; was uns noch werthvoller scheint, ist der
0261Zug von Lebenswürdigkeit und guter Laune, welcher das
0262Ganze einheitlich durchströmt.
0263Wenn die Wiener Aufführung der Novität als vor-
0264züglich gerühmt wird, so wiegt einer so schwierigen Aufgabe
0265gegenüber dieses Lob doppelt schwer. Es ist bezeichnend, daß
0266Director Jahn von dieser kleinen komischen Oper mehr
0267Proben abhalten ließ, als von Rubinstein’s fünfactigem
0268„Nero“. Die Orchesterpartie, welche, wie erwähnt, zu den
0269complicirtesten und häkeligsten gehört, wurde unter Hanns
0270Richter’s Leitung glänzend ausgeführt. Außerordentlich
0271hielten sich die Chöre; noch nie haben wir von einem
0272Theaterchor ein so weiches Piano, so zartes An- und Ab-
0273schwellen vernommen, wie hier in der Introduction „Sanfter
0274Schlummer“. Von den Solosängern ist zwar keine besondere
0275Kraftanstrengung oder Bravour gefordert, aber, was noch
0276seltener zu finden, der allergenaueste und doch freie Vortrag in
0277einem ihnen ungewohnten Gesangsstyl. Eine äußerst empfind-
0278liche Declamation, unbequeme, gefährliche Eintritte und In-
0279tonationen, die widerhaarigen 5/4- und 7/4-Tacte, eine
0280haarscharfe Congruenz von Gesang, Sprache und Action
0281in jeder Phrase — das sind Dinge, mit welchen die Schwie-
0282rigkeiten mancher großen Heldenoper sich nicht messen
0283können. Und diesen Anforderungen ward in überraschender
0284Weise genügt. Ganz voran müssen wir Herrn Schrödter
0285nennen. Er darf als Sänger und Schauspieler den
0286Nureddin zu seinen allerbesten Rollen zählen, und man
0287weiß, wie groß die Zahl seiner besten ist. Mit rühmlichem
0288Fleiß und Erfolg sangen Fräulein Lola Beeth und
0289Fräulein v. Artner die nicht eben dankbaren Frauen-
0290rollen. Die schwierigste Aufgabe fällt auf den Darsteller der
0291Titelrolle. Der Barbier soll entschieden komisch wirken und
0292uns doch durch sein Greisenalter, seine kindliche Naivetät,
0293seine Hingebung für Nureddin sympathisch bleiben. Die
0294Rolle erfordert eine bedeutende Gesangstechnik und überdies
0295ein hoch ausgebildetes Schauspielertalent. Herr Grengg
0296erfüllt diese Ansprüche zwar nicht so vollkommen, wie Herr
0297Gura in München, dessen Abul Hassan classisch heißen
0298darf, aber er bringt für die Rolle ein großartiges Kapital
0299an Stimme mit und singt die wesentlichsten Stellen mit
0300voller Wirkung. Die nicht immer zusammenstimmenden
0301Einzelheiten seiner Auffassung (von denen wir beispielsweise
0302die zu häufigen, zu jugendlichen und heftigen Bewegungen
0303ankreiden wollen) wird Herr Grengg im Laufe der nächsten
0304Wiederholungen wol in ein einheitliches Charakterbild zu
0305verschmelzen wissen. Das Publicum spendete der Oper und
0306sämmtlichen Mitwirkenden die wärmste Anerkennung. Wie
0307traurig, daß Cornelius diese Aufführung, diesen Erfolg nicht
0308mehr erleben sollte! Wer ihn persönlich gekannt, den liebens-
0309würdigen, gemüthvollen Mann, den sein Enthusiasmus für
0310Wagner niemals unbillig, niemals gehässig gegen Anders-
0311denkende gemacht hat, der mochte sich gestern sagen, daß
0312diesem schönen Abend eigentlich das Beste fehlte.