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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9470. Wien, Dienstag, den 6. Januar 1891

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Concerte.


0002Ed. H. Die „Peer Gynt“ betitelte Orchester-Suite von
0003Grieg ist nicht in dieser Form und Absicht entstanden.
0004Ursprünglich theatralischem Zwecke dienstbar, sollte sie —
0005wie Beethoven’s Egmont- und Weber’s Präziosa-Musik —
0006das dramatische Gedicht von Ibsen, „Peer Gynt“, illustriren.
0007Eine Bühnenaufführung dieses im Grunde unmöglichen
0008Dramas soll in Christiania oder Kopenhagen wirklich ver-
0009sucht worden sein. Grieg hat sich rechtzeitig beeilt, seine
0010Musik durch eine Concert-Bearbeitung vor dem voraussicht-
0011lichen Schicksal des Stückes zu retten. Die Musik kennt nicht
0012den anständigen Scheintod eines „Buchdramas“; eine
0013Partitur, die blos gelesen und nirgends aufgeführt wird, ist
0014und bleibt wirklich todt. Vielleicht wird in nicht langer Zeit
0015Ibsen’s „Peer Gynt“ nur noch in der Grieg’schen Compo-
0016sition fortleben, die nach meiner Empfindung in jedem ihrer
0017Sätze mehr Poesie und Kunstverstand birgt, als das ganze
0018fünfactige Ungeheuer Ibsen’s. Es ist dies eines der ab-
0019stoßendsten Bündnisse, das phantastisch ausschweifende Will-
0020kür mit innerer Herzenskälte, modernster Pessimismus mit
0021abergläubiger Mystik geschlossen haben. Wer ist Peer (Peter)
0022Gynt? Zu Anfang des Stückes ein zwanzigjähriger norwe-
0023gischer Bauernjunge, der durch Verlogenheit und Rauflust seine
0024alte Mutter zu Tode kränkt, überall Unfrieden und Schrecken
0025verbreitet, so daß im Dorfe Alles scheu vor ihm ausweicht.
0026Ungebeten drängt er sich zur Hochzeitsfeier der schönen
0027Ingrid, die einen solideren Freier ihm vorgezogen, bemächtigt
0028sich gewaltsam der Braut und trägt sie „wie ein Kalb“
0029eiligst über die Berge. Nach einer wilden Hochzeitsnacht mit
0030ihr verstößt er die Jammernde hohnlachend. Ein anderes
0031Mädchen, Solveig, das ihn trotz seiner Verwilderung liebt,
0032verläßt er gleichfalls, nachdem er eine auf der Straße auf-
0033gelesene „Troll-Prinzessin“ verführt hat. Auf einem wilden 
0034Eber reitet er mit dieser in die Höhle ihres Vaters, wo die
0035Gnomen und Erdmännchen allerlei häßlichen Aberwitz mit
0036ihm treiben und ihn schließlich zur Höhle hinausprügeln.
0037So wechseln Wirklichkeit und Märchenspuk unaufhörlich in
0038Ibsen’s Stück. Peer Gynt, der nach dem Zeugnisse der eigenen
0039Mutter „nur Lügen spann, wo er ging und stand, der nie-
0040mals ein tauglich Werk vollendet“, hat blos Eines im
0041Kopf: zur höchsten Macht zu gelangen. Er will Kaiser
0042werden, „Kaiser der ganzen Welt“! Von Norwegen 
0043versetzt uns der Dichter ganz plötzlich an die Küste —
0044von Marokko. Hier sehen wir unseren Peter als einen
0045„hübschen Herrn von mittlerem Alter, elegant gekleidet, eine
0046goldene Lorgnette auf der Brust“. Er gibt ein Diner im
0047Palmenhain; ein Franzose, Monsieur Ballon, ein Deutscher,
0048Herr v. Eberkopf, ein Engländer, Mr. Cotton, und ein
0049Schwede, Trumpeterstrale, sind seine Gäste — witzlose
0050Caricaturen der vier Nationen. Peer Gynt, der plötzlich aus
0051dem Naturburschen ein blasirter moderner Speculant gewor-
0052den ist und über Alles mit naserümpfender Ironie und
0053Selbstgefälligkeit aburtheilt, hat durch Sklavenhandel Reich-
0054thümer gewonnen. Er plant neue schändliche Unternehmungen
0055und vertraut sie seinen vier Freunden. Diese haben nichts
0056Eiligeres zu thun, als heimlich mit seinem Schiff und seinem
0057Gelde abzusegeln. Peer Gynt bleibt arm und hilflos allein.
0058Auf einem Baume kämpft er mit wilden Affen. Dann
0059stiehlt er ein Pferd und ein türkisches Festgewand und spielt
0060sich vor den Arabern auf den Propheten auf. Die Tochter
0061eines Beduinenhäuptlings, Anitra, erregt sein Wohlgefallen
0062und, wie es scheint, seine Literaturkenntniß, denn er citirt
0063in deutscher Sprache Goethe’s Vers vom Ewig-Weiblichen.
0064Anitra reitet mit ihm auf demselben Schimmel durch die
0065Wüste; sie schmeichelt ihm seine Kostbarkeiten und Waffen
0066ab und jagt mit seinem Roß davon. Nun kann der über-
0067listete Peter wieder einen langen pessimistischen Monolog halten.
0068Am Nil, wo die Memnonssäule ihm eine Strophe vorsingt
0069— „Vergangenheitsmusik“, wie er in sein Taschenbuch notirt
0070— begrüßt ihn der Director eines Irrenhauses, Herr Be-
0071griffenfeld, führt ihn in seine Anstalt und sperrt ihn ein. 
0072Man macht sich keine Vorstellung von der breiten, witzlosen
0073Abgeschmacktheit dieser Scene, in welcher der verrückte Director 
0074die Hegel’sche Philosophie persiflirt und ein Wahnsinniger die
0075nationalen „Sprachstreber“ in Norwegen. Die nächsten
0076Scenen spielen auf einem Seeschiffe; ein furchtbarer Sturm
0077bricht los, Peter Gynt rettet sich auf einem Nachen, von dem
0078er einen armen Teufel herabgestoßen, und landet als achtzig-
0079jähriger Greis in Norwegen. Die treue Solveig erwartet ihn
0080in derselben Hütte, wo er sie vor sechzig Jahren schnöde ver-
0081lassen, und schlummert ihn mit einem Wiegenliede ein.
0082Wahrscheinlich bedeutet das Peter’s Tod, denn das Stück ist
0083hier zu Ende.


0084Anfangs eine Art bäuerlicher Siegfried ohne freie Heiter-
0085keit, dann ein Stück Manfred ohne geistige Macht, ein Stück
0086Don Juan ohne Poesie und Schönheitssinn, ein Stück
0087Mephisto ohne Humor, schließlich ein erbärmlicher moderner
0088Geldmensch ohne einen Funken von Gemüth — das
0089ist der Held der größten dramatischen Dichtung Ibsen’s.
0090Um diesen Mittelpunkt der Handlung, welche uns die Folgen
0091des „Uebermaßes von Phantasie“ veranschaulichen soll, wirbeln
0092wie körperlose Schneeflocken eine Menge unverständlicher
0093Figuren und grotesker Episoden hin und her. Der Leser
0094greift sich zeitweilig an den Kopf, ob er verrückt geworden
0095sei. Der deutsche Uebersetzer, L. Passarge, der noch in der
0096Vorrede zur ersten Auflage über die unlösbaren Räthsel
0097dieses Stückes geklagt, erzählt zur zweiten Auflage, erst sieben
0098Jahre später habe Ibsen selbst ihm einige dieser Räthsel
0099aufgelöst, vor Allem das wichtigste: „Peer Gynt ist der
0100Repräsentant des norwegischen Volkes
!“ Ein
0101angenehmes Drama, das solch authentischer Auslegungen
0102bedarf, und ein schönes Compliment für das norwegische
0103Volk. Ganz merkwürdig ist die Verschiedenheit des „Peer
0104Gynt“ von den übrigen bekannten Stücken Ibsen’s. Während
0105diese eine fast pedantische Einheit von Zeit und Ort ein-
0106halten und sich nicht aus den vier Wänden des bürgerlichen
0107Lebens herauswagen, treiben im „Peer Gynt“ die Jahr-
0108zehnte und die Welttheile phantastisch durcheinander. In allen
0109zur Aufführung gelangten Schauspielen Ibsen’s herrscht der [2]
0110scharfe, unbarmherzig logische Verstand, welchen der Dichter
0111wie einen Spürhund ausschickt, um herauszuwittern, wo
0112irgend eine Falschheit, Verworfenheit, Lüge und Fäulniß
0113vergraben liegt. Im „Peer Gynt“ hat dieser strenge, ordnende
0114Verstand zu Gunsten einer zügellosen Willkür abdicirt
0115und gleicht einem der kleinen Luftballons, dem man aus
0116Spaß den Faden abgeschnitten hat. Die Schlußmoral bleibt
0117freilich immer dieselbe: was besteht, ist werth, daß es zu Grunde
0118geht. Georg Brandes, der geistvolle Literatur-Historiker
0119und gewiß beste Kenner seines Volkes, sagt einmal: „Die
0120dänischen Schriftsteller haben in der Regel den Vorzug, die
0121Ausschweifungen des Geschmacks und der Phantasie zu ver-
0122meiden, in welche die deutschen häufig verfallen. Sie haben
0123das Sicherheitsgefühl, welches angeborenes Gleichgewicht und
0124angeborenes Phlegma verleihen; sie sind niemals verwegen,
0125cynisch, rebellisch, wild phantastisch, rein abstract oder rein
0126sinnlich; sie stürmen nie den Himmel, sie fallen nie in einen
0127Brunnen. Das ist’s, was sie bei ihrer Nation so populär
0128macht.“ Von alledem ist Ibsen’s „Peer Gynt“ das gerade
0129Gegentheil. Man sieht, wie Vieles sich auch im Charakter
0130der dänischen Literatur verändert hat.


0131Nun zu Grieg’sMusik. Sie besteht aus vier Tanz-
0132stücken und je einem Vorspiel zu den fünf Acten des Dramas.
0133Im Philharmonischen Concert bekamen wir nur vier von
0134diesen neun Stücken zu hören. 1. Das Vorspiel zum vierten
0135Act, „Morgenstimmung“, eine freundliche Idylle, mit tanzen-
0136den Lichtern von Flötentrillern auf der leichten, gleichmäßigen
0137Wellenbewegung. 2. Der zierliche Tanz der schlanken
0138Beduinentochter Anitra; reizend in der Erfindung und
0139zauberhaft instrumentirt. 3. Ein wehmüthig stilles Adagio 
0140in A-moll auf den Tod von Peer Gynt’s Mutter; die
0141schlichte, liedmäßige Weise durch einige geistreiche Harmonien
0142gehoben. Endlich 4. der ungemein charakteristische, schwer-
0143fällig barocke Tanz der Zwerge in der Höhle der „Troll-
0144Prinzessin“. Die übrigen Stücke, die durchaus interessant,
0145doch überwiegend von zerrissener Form sind (wie der
0146Seesturm“, die Scene zwischen der flehenden Ingrid 
0147und dem unerbittlichen Peer Gynt, das Vorspiel zum „Hoch-
0148zeitshof“) hat man, als für sich schwer verständlich, von der
0149Concert-Aufführung ausgeschlossen. Letztere gehört zu den
0150feinsten Cabinetsstücken, welche die Kunst Hanns Richter’s 
0151und seiner Philharmoniker uns geliefert hat. Das Publicum
0152wollte nicht aufhören, zu applaudiren, und schien ein da capo
0153erzwingen zu wollen. So gern wir die Grieg’sche Suite wie-
0154der hören möchten, dem Dirigenten können wir nur beistimmen,
0155wenn er seinem Grundsatze, nicht zu wiederholen, treu bleibt.
0156Die Zuhörer hatten sich für Grieg an Beifall so verschwende-
0157risch ausgegeben, daß uns für das Schicksal der darauffolgenden
0158Novität, einer Symphonie von Dvořak, beinahe bang wurde.
0159Als letzte Nummer auf den gefährlichsten Platz gestellt, hat
0160sie trotzdem mit den echtesten Mitteln gesiegt. Das Werk,
0161von Anfang bis zum Ende unverkennbarer Dvořak, ist
0162doch grundverschieden von seinen beiden ersten, in Wien be-
0163kannten Symphonien. Sie klingt freundlicher, klarer, popu-
0164lärer als die erste, pathetische in D-dur und die zweite 
0165wildromantische in D-moll. Die (noch ungedruckte) neue
0166Symphonie, op. 88, steht in G-dur; der Hörer dürfte füglich
0167auch G-moll sagen, denn in dieser Tonart beginnt der erste
0168Satz (Allegro con brio) und verweilt darin volle sechzehn
0169Tacte lang; dann erst intonirt die Flöte das allerliebste
0170Thema in G-dur. Und doch sind jene sechzehn Moll-Tacte
0171wieder mehr, als eine bloße Introduction, sie bilden ein
0172gesangvolles Thema für sich, das nach dem Seitenthema in
0173H-moll vollständig wiederkehrt. Dvořak liebt es, mit vielen
0174Motiven zu arbeiten, was eine Fülle von Ideen, aber
0175häufig auch eine eigenthümliche Unruhe in seine Stücke
0176bringt. Das erste Allegro, sowie das Adagio seiner
0177neuen Symphonie fließen zwar in Einem Zug
0178ohne Tact- oder Tempowechsel dahin, haben aber trotzdem
0179durch den Wechsel verschiedenartiger Empfindungen etwas
0180Rhapsodisches. Originell wie der erste Satz in seiner jugend-
0181lichen Frische ist auch das Adagio in seiner sanften Beschau-
0182lichkeit. Auch hier gibt es für den Hörer etwas zu rathen.
0183Das Adagio beginnt mit einer Melodie in Es-dur, deren
0184Ende erst in die Haupttonart C-moll einbiegt; überwiegend
0185bewegt sich aber das Stück in C-dur und schließt auch so. 
0186Reizend wirkt das zweite Thema, eine getragene Melodie der
0187Flöte, welche die Geigen in rasch absteigenden Sext-Accorden
0188staccato begleiten. Dann werden die Rollen gewechselt: die
0189Violinen bringen den Gesang, Flöten und Clarinetten die
0190begleitende Staccato-Figur. Im Scherzo, einem Allegretto in
0191G-moll, herrscht weniger Frohsinn oder Humor, als viel-
0192mehr die ruhige Grazie des Menuetts. Nach dem Trio wird
0193herkömmlicherweise das Scherzo wiederholt, aber anstatt da-
0194mit zu schließen, stürzt sich der Componist — „der Wenzel
0195kommt!“ — kopfüber in einen polkaartigen derben Bauern-
0196tanz. Dvořak hätte vielleicht wohlgethan, diese überflüssige
0197Coda, die mehr böhmisch als schön ist, ganz zu unterdrücken.
0198Der einheitlichste und wirksamste Satz ist das Finale. Von
0199einem Trompetensignal angekündigt, das gleichsam Habt Acht!
0200ruft, tritt ein anmuthiges, gebundenes Thema auf den Plan,
0201eine liedartige Melodie in zwei achttactigen Theilen, deren
0202jeder repetirt wird. Man merkt, daß es auf Variationen ab-
0203gesehen ist, und in der That folgen solche in gleichem sym-
0204metrischen Rahmen. Das Thema, in den drei Tönen des
0205G-dur-Dreiklangs aufsteigend, ist aus dem Hauptmotiv des
0206ersten Satzes gebildet. Mit rauschendem Jubel bricht es zeit-
0207weilig im Fortissimo des ganzen Orchesters los, eine Art
0208glänzendes „Tutti“ von packender Gewalt. Das ganze Finale
0209ist trotz seiner feinen harmonischen und contrapunktischen
0210Arbeit von unmittelbarer Wirkung. Ueberhaupt läßt sich auch
0211diesem Werke Dvořak’s, das zu seinen allerbesten zählt,
0212nachrühmen, daß es nirgends pedantisch ist und doch in seiner
0213Ungebundenheit nichts weniger als naturalistisch. Dvořak ist
0214ein ernsthafter Künstler, der viel gelernt hat und doch über
0215dem Gelernten seiner Naivetät und Frische nicht verlustig
0216geworden ist. Aus seinen Werken spricht eine originelle Per-
0217sönlichkeit, und aus dieser Persönlichkeit weht der erfrischende
0218Athem des Unverbrauchten und Ursprünglichen. Sie sind
0219bald üppiger, bald unscheinbarer, bald höher, bald niedriger
0220gewachsen, aber gewachsen sind sie alle. Und dieses natürliche
0221blühende Wachsthum ist es, was in unserer Zeit der vor-
0222herrschenden Reflexion uns rasch gewinnt und willig festhält.