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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9515. Wien, Samstag, den 21. Februar 1891

[1]

Hofoperntheater.

(„Die Flüchtlinge“, komische Oper in drei Acten von Bernhard Buchbinder, Musik von Raoul Mader.)


0003Ed. H. Nach einem von den Deutschen gewonnenen
0004Gefecht werden mehrere französische Officiere als Gefangene
0005fortgeführt. Zweien von ihnen gelingt es, zu entwischen. Der
0006erste, Prinz Lambignac, flüchtet sich in eine Villa, wo er
0007zwei liebenswürdige Mädchen, Bertha und Gusti, Tochter
0008und Nichte des pensionirten Obersten Bander, antrifft.
0009Sie lassen sich nach einigem Sträuben erweichen, den feind-
0010lichen Officier zu verstecken. Es ist höchste Zeit, da der
0011deutsche Sergeant Eisenrost bereits mit seiner Mannschaft
0012anrückt, um dem Entflohenen nachzuspüren. Bertha drängt
0013diesen in die Garderobe ihres auf einer Reise befindlichen
0014Vaters, von wo er in dessen Uniform und Perrücke als —
0015Oberst Bander herauskommt. Inzwischen hat der zweite
0016Flüchtling, Adjutant Dumont, sich gleichfalls in die Ban-
0017der’sche Villa gerettet. Nach Lambignac’s Beispiel bemächtigt
0018auch er sich einer Uniform und Perrücke des Alten und wird
0019schnell von den Mädchen für den Bruder des Obersten aus-
0020gegeben. Im zweiten Acte finden wir das Personal vermehrt
0021durch ein ältliches Fräulein Emma v. Gleichen und einen
0022geckenhaften Baron Lippnick, Bertha’s Verlobten. Die
0023Gesellschaft ergeht sich sehr heiter beim Kaffee im
0024Garten. Die verkleideten Officiere, Beide bereits gründ-
0025lich verliebt in die Tochter und Nichte des Hauses,
0026machen zum Scheine der alten Jungfer den Hof und
0027schlagen ihr sogar eine Entführung vor, um in ihrem
0028Wagen sicher über die Grenze zu gelangen. Gleichzeitig be-
0029reden die Mädchen den Baron Lippnick, zum Scherz auch
0030eine Uniform (die dritte!) des alten Obersten anzuziehen und
0031diesem in der spaßhaften Verkleidung entgegenzugehen. Wäh-
0032rend das Alles eiligst ins Werk gesetzt wird, erscheint un-
0033erwartet der wirkliche Oberst Bander, der nun drei Doppel-
0034gänger vor sich sieht. Im dritten Act wird dem Oberst 
0035weisgemacht, Lambignac sei sein alter Kriegskamerad Larassi,
0036der sich mit dem Adjutanten eingefunden habe, um die allein-
0037stehenden Mädchen zu beschützen. Der Sergeant Eisenrost,
0038im Grunde ein Schafskopf, hält sich für einen feinen Diplo-
0039maten — wie man den häufig gerade auf diejenigen Eigen-
0040schaften pocht, die man am wenigsten besitzt. Er hat sich
0041durch zwei Acte hindurch narren lassen und geht noch im
0042dritten in die Falle, als die beiden französischen Officiere 
0043in Bauernkleidung ihn um einen Passirschein bitten, den er
0044ohneweiters ausfolgt. Die beiden Flüchtlinge sagen eben ihren
0045Geliebten ein letztes, schmerzliches Lebewohl, da stürzt plötzlich
0046ein Soldat — wir haben ihn längst erwartet — auf die
0047Bühne und bringt die Nachricht, daß der Friede geschlossen
0048sei. Und dieser Friede verschafft uns seinerseits die beglückende
0049Aussicht auf eine Doppelheirat.


0050Die Flüchtlinge“ kann man ohneweiters eine Faschings-
0051posse nennen. Die Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüche
0052der Handlung sind so riesig, daß man trotz des Kriegs-
0053gewitters und der steten Lebensgefahr der beiden Officiere 
0054keine einzige Scene ernst nehmen kann. Die Blindheit und
0055Dummheit aller durch die Verkleidungs-Comödie Gefoppten
0056überschreitet jedes erdenkliche Maß. Die Figur des gefährdeten
0057Liebhabers, der, als alter Oberst verkleidet, über Gicht klagt
0058und hustet, man kennt sie hinlänglich aus Kotzebue’s und
0059anderen Possen. Aber auf einmal vier solche asthmatische
0060Heldengreise auf der Bühne zu sehen, das ist mehr, als
0061man billigerweise erwarten kann. Wenn wir an das Libretto
0062nur die Ansprüche einer Posse stellen, so können wir dem
0063Verfasser das Lob nicht versagen, daß er das bunte Durch-
0064einander gewandt und lustig arrangirt hat. Ausschließlich auf
0065Situations-Komik bedacht und stets auf der Jagd nach neuen
0066Ueberraschungen, konnte er sich um die Charakteristik der einzelnen
0067Personen nicht viel kümmern. Die beiden galanten Officiere,
0068der bärbeißige Oberst, die verliebte alte Schachtel, der dumm-
0069pfiffige Sergeant, der näselnde, geschniegelte Baron — es
0070sind lauter wohlbekannte Physiognomien. Die beiden Schloß-
0071fräulein rechnen wir nicht dazu, da sie eigentlich gar keine
0072Physiognomie haben. Der erste Act wirkt recht erheiternd,
0073im zweiten stockt die Handlung schon empfindlich, um im
0074dritten beinahe einzuschlafen. Ohne diese Längen würde der
0075anspruchslose Schwank einen noch größeren Lacherfolg erzielen,
0076da der Verfasser sich weislich hütet, den Zuschauer durch
0077pathetische Anwandlungen aus der einzig zweckmäßigen
0078Faschungsstimmung zu reißen.


0079Die Musik ist von Herrn Raoul Mader, einem in
0080Wien als Clavierlehrer und Gesangs-Correpetitor geschätzten, 
0081auch persönlich liebenswürdigen jungen Mann. Als Com-
0082ponisten kannte ich ihn bis heute nur durch einige Lieder,
0083die mir, offen gestanden, wenig Vertrauen einflößten. Schon
0084aus den Titelblättern dieser einzeln erschienenen Lieder strömt
0085ein eigenthümlich fader, süß-säuerlicher Geruch, welchem der
0086schmachtende musikalische Inhalt völlig entspricht. „Bei dir
0087allein
!“, Herrn Hofopernsänger Winkelmann gewidmet.
0088Wärst du mein eigen!“ Herrn Hofopernsänger
0089Sommer zugeeignet. „Dich will ich ewig lieben!“
0090Herrn Kammersänger G. Müller gewidmet. „Schläfst
0091du, Liebchen, schläfst du schon
?“ Herrn Hof-
0092opernsänger Schrödter gewidmet. Ich weiß wirklich nicht,
0093ob das Liebchen schon schläft; wenn nicht, so braucht sie
0094sich’s nur noch einmal vorsingen zu lassen. Es sind durch-
0095aus Lieder, die, mit den gewöhnlichen musikalischen Flossen
0096ausgestattet, im seichtesten Sentimentalitäts-Wasser plätschern.
0097Zeitweilig stecken etliche dankbare hohe Brusttöne ihre Noten-
0098köpfe heraus, nach dem Applaus des verehrlichen Publicums
0099auslaugend. Die sehr seltene Auszeichnung, daß vor einem
0100noch durch keinerlei größere Arbeit legitimirten jungen Com-
0101ponisten gleich die Pforten des Hofoperntheaters aufspringen,
0102mußte das Publicum natürlich mit erwartungsvoller Neu-
0103gier erfüllen. Dasselbe wird mit Befriedigung wahrgenommen
0104haben, daß Herr Mader in den „Flüchtlingen“ nur selten
0105in seinen Schlafenden-Liebchen-Ton verfällt, vielmehr sich
0106überwiegend einer bequemen Heiterkeit befleißt, einer Hei-
0107terkeit, die in ihren Höhepunkten an jene Berliner Lieute-
0108nante erinnert, die „beinahe Sect bestellt hätten“. Er scheint
0109mehr aus Rücksicht für seine Gäste lustig zu sein, als aus
0110innerem Drange. Jedenfalls verdient Herr Mader das Lob,
0111daß er zwar stellenweise sentimental, aber nicht geradezu
0112pathetisch, tragisch, wagnerisch wird; er will uns nie zeigen,
0113daß er sehr gut eine heroische große Oper schreiben könnte, was
0114er, wie ich vermuthe, auch wirklich nicht kann.


0115So wie das Textbuch billigerweise nur als Posse zu beur-
0116theilen ist, so wird man die Musik der „Flüchtlinge“ vielleicht am
0117richtigsten zur Operette rechnen. An und für sich bedeutet das
0118durchaus keinen Tadel. Es gibt sehr gute Operetten, und ich
0119möchte für mein Theil lieber die Partitur zur „Schönen Helena“
0120geschrieben haben, als den „Tribut von Zamora“; lieber die
0121Fledermaus“ als den „Vasall von Sziget“. Das Wichtigste
0122ist immer das Talent, das sich in diesem oder jenem [2]
0123Genre voll bewährt. Die Frage, ob ein erstes Kunstinstitut
0124Operetten aufführen dürfe oder nicht, wird davon nicht be-
0125rührt. Der Begriff der Operette ist übrigens ein schwankender.
0126Manche „komische Oper“ aus unserer Väter Zeit würde
0127heute nur zu den Operetten gezählt werden, und die neuesten
0128Wiener „Operetten“ mit ihren blechgepanzerten Finales und
0129Heldentenor-Partien hätten vor fünfzig Jahren „Opern“ ge-
0130heißen. Die wesentlichsten Merkmale der Operette: eine possen-
0131haft komische Handlung, gesprochener Dialog und popu-
0132läre, in knappste Formen gefaßte Melodie, stellen sie
0133der Oper gegenüber, textlich wie musikalisch, auf ein
0134ästhetisch niedrigeres Niveau. Dieses Niveau und nicht
0135der größere oder kleinere Umfang ist entscheidend.
0136Die „Cavalleria rusticana“ ist ein einactiges Bauern-
0137stück, und doch wird Niemand sie eine Operette nennen,
0138selbst wenn sie im Carl-Theater gespielt würde. Mader’s
0139Flüchtlinge“ hingegen füllen drei Acte und beschäftigen die
0140besten Kräfte der Hofoper, dennoch sind sie Operetten-Musik.
0141Wir finden darin alle in der Wiener Operette typisch ge-
0142wordenen Effecte: fast jedes im 4/4 Tact beginnende Ge-
0143sangstück mündet in ein langsam wiegendes Walzertempo,
0144das als Refrain zum Ueberdruß wiederholt wird; die Form
0145des Strophenliedes macht sich auch in den Ensembles breit
0146u. s. w. Auf diesem Boden bewegt sich Mader als ein
0147leichtes, gut geschultes Talent, das einfache Musikformen ge-
0148schickt handhabt, dem Charakter der Personen und Situationen
0149im Allgemeinen gerecht wird, sehr stimmgemäß für den Ge-
0150sang und zweckmäßig für das Orchester setzt. Was man
0151schwer vermißt, ist die Originalität der Erfindung. Ich ent-
0152sinne mich keines einzigen Themas in den „Flüchtlingen“,
0153das mir als neu, packend, geistreich aufgefallen wäre. Eben-
0154sowenig bietet der dramatische Ausdruck oder die Structur
0155der musikalischen Formen irgend einen neuen, frappanten
0156Zug. Die Ensemble-Nummern, die einen breiter ausgeführten
0157Bau erheischen, sind größtentheils auf Lortzing’schen Scha-
0158blonen zugeschnitten. Das gibt der Musik ein etwas ver-
0159staubtes Aussehen, denn bei aller Vorliebe für Lortzing scheint
0160es mir doch bedenklich, fünfzig Jahre nach dem „Czar und
0161Zimmermann“ Lortzingisch zu schreiben. Es fehlt aber der
0162Musik Mader’s nicht blos die Originalität, es fehlt ihr auch
0163an Temperament. Von einem jungen Componisten herrüh-
0164rend, klingt diese Musik doch gar nicht jugendlich. Wie
0165schwunglos und umständlich rückt sie in stets gleichem vier-
0166tactigen Rhythmus vor, wie zaghaft im Komischen, wie flau
0167in der Liebe. Wie klebt das Alles ohne innere musikalische
0168Triebkraft an dem monotonen Metrum des Textes! Es ist
0169nichts geradezu schlecht oder häßlich in dieser Partitur, nichts
0170unehrlich, gekünstelt oder geheuchelt; aber es ist Alles —
0171Nichts. Wenn ich einige kurze Conversationsstellen, wie z. B.
0172das erste Auftreten der beiden Mädchen, ausnehme, und hin
0173und wieder einen gelungenen Anfang, wie den des Lach-
0174terzetts, so bin ich fast am Ende mit der Aufzählung der
0175Lichtblicke. Vielleicht wäre noch Einzelnes hervorzuheben,
0176aber der Stempel des Ordinären und Geistlosen, der dem
0177Ganzen aufgedrückt ist, macht es mir beim besten Willen
0178unmöglich, tiefer ins Detail einzugehen.


0179Die wohlwollende Absicht der Direction, zwei jungen
0180Wiener Talenten den Weg in die Oeffentlichkeit zu bahnen,
0181ist gewiß nicht anzufechten. Auch sei nochmals ausdrücklich
0182wiederholt, daß das Publicum des ersten Abends die „Flücht-
0183linge“ überaus günstig aufgenommen hat. Ein solcher Er-
0184folg, selbst bei einer für den Componisten liebevoll vorein-
0185genommenen Hörerschaft, bedurfte freilich der Mithilfe einer
0186so ausgezeichneten Aufführung wie die des Hofoperntheaters.
0187Große Ansprüche macht zwar die Mader’sche Oper weder
0188an die Stimmen noch an die Gesangskunst der Darsteller,
0189desto mehr aber an ihr schauspielerisches Talent, ihre Be-
0190weglichkeit, Anmuth und Laune. Welche deutsche Opernbühne
0191wäre wol im Stande, für die sechs komischen Männer-
0192Rollen dieses Stückes sechs gute Schauspieler herauszustellen,
0193wie es die Herren Schrödter, Mayerhofer, Rei-
0194chenberg
, Stoll, Horwitz und Felix sind? Dazu
0195eine köstliche komische Alte wie Frau Ida Bayer, und
0196zwei so reizende, jugendliche Sängerinnen wie Fräulein Re-
0197nard
und Fräulein Forster? Es schadet diesen Beiden
0198nichts, daß ich sie in der Eile zuletzt genannt habe; sie
0199bleiben doch die Ersten, die echten Perlen auf einer leider
0200werthlosen Krone. Da schließlich die Novität sehr hübsch
0201scenirt und von Herrn Director Jahn mit jener hingeben-
0202den Sorgfalt dirigirt ist, die er jedem von ihm protegirten
0203Werke zuwendet, so muß die Aufführung der „Flüchtlinge“
0204zu den allerbesten des Hofoperntheaters gezählt werden.