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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9544. Wien, Sonntag, den 22. März 1891

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Hofoperntheater.

(„Sicilianische Bauernehre“ [„Cavalleria rusticana“] von Pietro Mascagni.)


0003Ed. H. In Italien kommen alljährlich 30 bis 40 neue
0004Opern zur ersten Aufführung, im vorigen Jahre (1890)
0005gab es deren sogar 54! Die meisten von ihnen rollen laut-
0006los in ein Eckloch der Theaterstatistik, um nie wieder ans
0007Licht zu kommen. Aeußerst selten ereignet es sich, daß die
0008Erstlingsoper eines unbekannten Componisten auch nur im
0009eigenen Vaterlande seinen Ruhm begründet. Die bedeutendsten
0010Tonsetzer haben sich durch mißlungene oder halbgelungene
0011Opernversuche erst zu ihren Meisterwerken durchtasten müssen.
0012„Die ersten Hunde und die ersten Opern wirft man ins
0013Wasser,“ pflegte Karl Maria Weber zu sagen. Aber mehr
0014als eine Seltenheit, ein geradezu unerhörtes Ereigniß ist es,
0015daß der erste dramatische Versuch eines jungen Italieners
0016nicht nur in ganz Italien als Meisterwerk gefeiert, sondern
0017sofort auch auf den größten deutschen Bühnen in deutscher
0018Sprache gegeben wird. Die „Cavalleria rusticana“ von
0019Mascagni ist in der Musikgeschichte das erste Beispiel eines
0020so raschen, fast augenblicklichen internationalen Erfolges. Wie
0021lange mußten die berühmtesten italienischen Meister auf diese Ehre
0022warten! Rossini hatte ein Dutzend Opern geschrieben, bevor
0023sein „Tancred“ über die Alpen drang. Als Bellini durch seinen
0024Piraten“, Donizetti durch „Anna Bolena“, Verdi durch
0025den „Ernani“ in Deutschland bekannt wurde, standen sie längst
0026in hohem Ansehen bei ihren Landsleuten. Obendrein waren
0027ihre Opern durch die italienischen Stagiones in Wien immer
0028auf deutschem Boden schon eingeführt und erprobt, ehe sie
0029in deutscher Sprache förmliches Bürgerrecht bei uns er-
0030langten. Der „Cavalleria rusticana“ war allerdings der Um-
0031stand sehr förderlich, daß sie bei einer Preisvertheilung über
0032siebzig Mitbewerber gesiegt hat. Dramatische Preisaus-
0033schreibungen treiben meistentheils nur Mittelgut an die
0034Oberfläche; schon deßhalb, weil anerkannte Meister sich lieber
0035fernhalten, während alle Stiefkinder des Glückes und des
0036Talentes ihre sitzengebliebenen Partituren bei dieser Gelegen-
0037heit wieder offeriren. Es war eine neue originelle Idee des
0038Mailänder Musikverlegers Sonzogno, nur solche Concur-
0039renten zuzulassen, welche noch niemals etwas für das Theater
0040geschrieben haben. Pietro Mascagni, ein etwas leicht-
0041sinniger Bursche von 25 Jahren, befand sich in diesem
0042Fall. Ein großmüthiger Mäcen hatte den Bäckersohn aus
0043Livorno ins Mailänder Conservatorium gebracht. Pietro 
0044langweilt das trockene Studium; er geht durch, wandert als
0045Capellmeister einer fliegenden Operntruppe von Ort zu Ort
0046und bleibt endlich in dem Städtchen Cerignola als Dirigent
0047der dortigen Stadtcapelle hängen. Das ist wichtig für seine
0048Beurtheilung. Ohne einen täglichen praktischen Verkehr
0049mit der Bühne und dem Orchester wäre die sichere, effect-
0050kundige Technik, die sein Erstlingswerk aufweist, nicht
0051erklärlich. Aus einem Zeitungsblatt erfährt Mascagni 
0052zufällig von der Preisausschreibung für die beste einactige
0053Oper. In zwei Monaten hat er seine Partitur vollendet
0054und eingeschickt. Sie erhält den ersten Preis und wird in
0055Rom im Teatro Constanza unter unbeschreiblichem Jubel
0056am 18. Mai 1890 aufgeführt. Am selben Morgen noch ein
0057Namenloser, geht Pietro Mascagni als berühmter Mann zu
0058Bett. Noch sind kaum zehn Monate seit jener ersten Auf-
0059führung verflossen, und schon ist die „Cavalleria rusticana“
0060ein fester Bestandtheil des europäischen Repertoires.


0061Das Libretto der „Cavalleria rusticana“ gehört zu den
0062Glücksfällen des jungen Componisten. Die dramatische Kraft
0063und die außerordentliche Popularität des gleichnamigen Volks-
0064stücks von Giovanni Verga haben der Oper mächtig vor-
0065gearbeitet. Diese ist auch bezüglich des Textes ein Unicum.
0066Von einem ländlichen Singspiel in einem Act erwartet Jeder-
0067mann eine heitere oder idyllische Handlung. Die „Cavalleria
0068rusticana“ ist ein kleines Trauerspiel, eine richtige Dorf-
0069tragödie mit wilden Leidenschaften und blutigem Ausgang.
0070In einem sicilianischen Dorfe hat der junge Gastwirth
0071Turriddu, ehe er zu den Soldaten eingereiht wurde, ein
0072kokettes schönes Mädchen, Lola, geliebt. Vom Heer zurück-
0073gekehrt, findet er sie als das Weib des Fuhrmanns Alfio und
0074sucht Trost in den Armen der ihn leidenschaftlich liebenden
0075Santuzza. Lola weiß jedoch den Turriddu wieder in ihre Netze
0076zu locken. Er stößt Santuzza von sich, die nun, von Eifersucht
0077getrieben, dem Alfio das sträfliche Verhältniß seines Weibes
0078zu Turriddu verräth. Alfio rächt sich an dem Räuber seiner
0079Ehre, indem er ihn im Messerkampf tödtet. Dies Alles ge-
0080schieht am Ostersonntag im Verlauf des Gottesdienstes, vor
0081der Kirche. Die von Herrn Oskar Berggrün verfaßte
0082deutsche Uebersetzung gehört zu der schleuderhaftesten Markt-
0083waare. Daß sie auch praktisch geradezu unbrauchbar ist, be-
0084weist der nothgedrungene Vorgang der Opern-Directionen 
0085von Hamburg, Dresden und Wien, welche Berggrün’s
0086Uebersetzung total umarbeiten mußten. Hier wird thatsächlich
0087ein ganz anderer Text gesungen, als der des gedruckten
0088Librettos. Herr Berggrün hat seine Unfähigkeit als Uebersetzer
0089bereits an Samara’s Oper „Flora mirabilis“ bewiesen,
0090welche eine Blüthenlese, eine wahre Flora miserabilis an
0091Schnitzern darbietet. Herrn Berggrün’s Methode ist sehr einfach.
0092Er macht eine rohe metrische Uebertragung und schreibt nun
0093ruhig Silbe unter Note in die Partitur, unbekümmert, ob
0094der musikalische Accent dazu stimmt oder nicht. Gleich in
0095dem allerersten Worte des Einleitungschors, „Orangen“,
0096legt er auf die erste Sylbe O den Nachdruck. Es macht sich
0097reizend, wenn ein halbdutzendmal gesungen wird: „O—rangen
0098duften, die Lerche singt; jetzt ist Zeit für Jedermann, fröh-
0099lich zu singen das süße Lied!“ Eine andere classische Berg-
0100grüniade ist der Refrain: „Niemand froher sein kann
0101als ein wack’rer Fuhrmann!“ Schon seine Titel-Ueber-
0102setzung „Ländliche Ritterlichkeit“ mit dem häßlichen Gleich-
0103klang in der Mitte beider Wörter verräth den Mangel an
0104musikalischem Gehör. Daß eine Opernübersetzung erstens gut
0105deutsch und zweitens richtig musikalisch sein muß, scheint der
0106Mann nie gehört zu haben. Zum Glück kann Herr Son-
0107zogno, welcher die Theater zwingt, das Berggrün’sche
0108Deutsch“ an der Kasse zu verkaufen, nicht auch die Künstler
0109verhalten, es zu singen.


0110Aus der Musik zur „Cavalleria“ spricht unverkennbar
0111ein frisches, energisches und ehrliches Talent. In unserer
0112musikalisch talentarmen Zeit konnte es nicht ausbleiben, daß
0113der Jubel über diese neue Erscheinung alle Besinnung
0114verlor und nicht selten in eine Art Messias-Anbetung aus-
0115schlug. Diese den Widerspruch herausfordernden Uebertrei-
0116bungen, von denen ein Beispiel später citirt werden soll,
0117dürfen uns trotzdem nicht irremachen. Ein so allgemeiner
0118und spontaner großer Erfolg ist niemals ohne zureichenden
0119Grund. Die Eigenthümlichkeit Mascagni’s ließe sich vielleicht am
0120kürzesten damit bezeichnen, daß er durchaus national italienisch 
0121und doch zugleich europäisch modern ist. Nirgends verleugnet er
0122den Italiener. Der Charakter seiner Melodien, ihr Vor-
0123herrschen vor der Begleitung, die sinnenfällige Rhythmik,
0124die Schlußphrasen der leidenschaftlicheren Gesänge — Alles
0125italienisch. Hingegen herrschen in der „Cavalleria“ modernere
0126Anschauungen bezüglich des Dramatischen. Die Musik ent-
0127wickelt sich streng scenisch, ohne die alte Arien-Schablone und
0128die alten, lästigen Wortwiederholungen. Durchaus einheitlich, [2]
0129aus Einem Gusse geformt, enthält sie keine bloßen Lücken-
0130büßer, keinen Passagen- und Trilleraufputz, keine wider-
0131sinnigen Effecte. Die Harmonie wie die Orchestrirung lassen
0132deutschen und französischen Einfluß durchblicken, aber keine
0133directe Nachahmung Wagner’s; den Hörer bedrückt weder
0134die Tyrannei der Leitmotive noch der unendlichen Melodie.
0135Die Sonne der Nibelungen hat auch jenseits der Alpen
0136manchen wagnerisirenden Componisten ausgebrütet, der —
0137wie Halm’s Ingomar nach dem Ausspruche von Robert
0138Prutz — „lieber ein Lump auf Griechisch ist, als ein honetter
0139Tektosage“. Mascagni gehört nicht zu diesen. Er ist eine
0140ursprüngliche Natur, wenngleich, meines Dafürhaltens, kein
0141bahnbrechendes Genie, das eine geschichtliche Furche zieht.
0142Worin sein Talent sich am stärksten und augenfälligsten zeigt,
0143das ist das unmittelbare, sichere Treffen der Stimmung in
0144jeder Scene, wie des dramatischen Ausdrucks im Einzelnen.
0145Eine starke Sinnlichkeit und leidenschaftliches Temperament
0146durchglühen die ganze Oper, welche von Anfang bis zu Ende nicht
0147blos interessirt, sondern packt. Wie düster, unheimlich drohend
0148schleicht die Fis-moll-Einleitung zu der ersten Scene zwischen
0149Santuzza und Lucia; wie schauerlich ergreifend pocht das
0150tiefe Es der Bässe bei dem Ausrufe Lola’s: „O Gott, das
0151Unglück naht!“; wie angstvoll aufgescheucht schwirren die
0152Violinen, als Turriddu vor seinem Todesgange nach der
0153Mutter ruft! Gar mancher treffliche Zug von feiner oder
0154energischer Charakteristik wäre hier anzuführen. Ja, man
0155könnte in dieser Oper vortrefflich Alles nennen, was im
0156weiteren Sinne das Gebiet der musikalischen Conversation
0157streift, mehr der aufgeregten Rede und Gegenrede angehört,
0158als dem eigentlichen Gesange. Rein musikalisch hingegen ist
0159mir die Erfindung Mascagni’s zwar ansprechend, frisch, aber
0160keineswegs reich oder originell erschienen. Melodien von jener
0161schönen, unverwischbaren Prägung, wie sie aus den besseren
0162Opern von Bellini, Donizetti, Verdi hervorglänzen, wird
0163man in der „Cavalleria“ schwerlich namhaft machen. Wenn
0164man den dramatischen Heißsporn Mascagni speciell als
0165„Melodien-Krösus“ feierte, ist man im ersten Rausche zu
0166weit gegangen. Man sehe sich die Melodien an, die als solche
0167in der Oper selbstständig auftreten und wirken: das (auch
0168in der Ouvertüre vorkommende) Andante appassionato
0169Santuzza’s: „Nein, Turriddu, o bleibe!“, die Serenade
0170Turriddu’s, Alfio’s Rache-Allegro in F-moll, das Gebet
0171„Preisen laßt uns den Herrn“ und Aehnliches — Neuheit, 
0172Originalität wird man ihnen nicht nachrühmen können. Die
0173reizendste, zugleich einfachste und natürlichste Melodie ist das
0174Stornello der Lola, ein Volkslied, wie man ihrer hundert in
0175Italien hören oder in italienischen Volksliedersammlungen
0176finden kann. Nicht viel besser als mit diesen pathetischen und
0177sentimentalen Gesängen steht es mit den lustigen — sie ent-
0178behren der Originalität, aber auch der Natürlichkeit, und
0179suchen diesen Mangel (dessen sich der Componist wahrschein-
0180lich bewußt ist) durch eine erzwungene, scharfe Charakteristik
0181zu verdecken. Das Fuhrmannslied mit seiner Molltonart
0182und den heftig rückenden Modulationen straft Alfio’s Ver-
0183sicherung: „Ich bleibe doch stets froh“, Lügen; es ist nicht
0184„froh“, sondern aufgeregt, wild, trotzig. Natürlichen, frisch-
0185quellenden Frohsinn vermisse ich auch in dem Trinklied Tur-
0186riddu’s, das erst im Refrain durch den hübschen Rhythmus
0187von drei zu drei Tacten sich wirksam aufschwingt. Und der
0188Eingangschor, athmet er wirklich die naive Sonntagslustigkeit
0189der Dorfbewohner oder nicht vielmehr den glühenden Hauch
0190einer aufgeregten Wahlversammlung?


0191Daß den Hörer manche Melodie entzückt, die an sich
0192weder besonders neu noch vornehm ist, kommt großentheils
0193auf Rechnung der wirksamen Instrumentation. Mascagni 
0194ist ein Meister der Orchestrirung; er übt diese Meisterschaft
0195in der Regel als echter Künstler, mißbraucht sie aber auch
0196häufig zu rein materiellen Effecten. Gleich die Ouvertüre
0197gewinnt uns durch ihre Klangschönheit. Leider hat der Com-
0198ponist sich durch Meyerbeer’s Beispiel (in „Dinorah“) zu
0199dem falschen Effecte verleiten lassen, mitten in der Ouver-
0200türe, hinter dem Vorhange, Turriddu seine Serenade singen
0201zu lassen. Die Serenade gehört auf die Bühne, vor Lola’s
0202Fenster. Durch Klangschönheit entzückt auch das berühmte
0203Orchester-Intermezzo, in welchem ein mächtig anschwellendes
0204Unisono der Violinen sich mit Harfen-Accorden und Orgel-
0205tönen zu einer Art Sphärenmusik verflößt. Vor-
0206trefflich versteht sich Mascagni auf die Beredtsam-
0207keit der einzelnen Instrumente. Er bringt da mit-
0208unter auch seltenere, vornehmere Instrumental-Effecte, womit
0209nicht gesagt sein soll, daß er sie zuerst erfunden hat. Die
0210wiederholten leisen Schläge auf die große Trommel (im
0211Finale, gleich nach der Herausforderung) hat Verdi für
0212den Ausdruck schwüler Beklemmung bereits in der Sterbe-
0213scene der Desdemona verwendet, ja früher schon im „Rigo-
0214letto“. Der schöne Effet der vereinzelten tiefen Harfentöne, 
0215welche in dem „Intermezzo“ die Dominante und Tonika (g, c)
0216anschlagen, stammt von Boito aus dem Duett Faust’s mit
0217Gretchen. Die bedenkliche Seite von Mascagni’s Instrumen-
0218tirung ist das Getöse, der betäubende Lärm, in dem er sich
0219häufig gefällt. Darin geht er über Verdi hinaus und ver-
0220kehrt den Frohsinn lustiger Dorfbewohner in den Aufruhr
0221einer Revolutions-Scene. Um das „Fuhrmannslied“ zu
0222accompagniren, arbeiten alle Blechinstrumente, Pauken, große
0223und kleine Trommel und Becken eifrig zusammen. Geschmack-
0224los ist das häufige Verdoppeln der Gesangsmelodie durch
0225Posaunen, noch geschmackloser die Nothzüchtigung der Po-
0226saunen zu raschen, figurirten Stellen, wie in dem ersten Chor
0227und in Alfio’s Lied. Unsere Hoffnung, Mascagni’s viel-
0228gerühmtes reformatorisches Verdienst werde sich auch in einer
0229Veredlung und Mäßigung des unerträglich angewachsenen
0230Orchesterlärms äußern, ist getäuscht worden.


0231Wie verhält sich die neue Oper zu Verdi? In einer
0232eben erschienenen und nach allen Seiten hin verschickten
0233Broschüre: „Zur Erklärung der Cavalleria rusticana“ wird
0234jeder musikalische Zusammenhang Mascagni’s mit Verdi 
0235rundweg geleugnet. Der Verfasser, ein Herr Pudor, dessen
0236Aufsätze sich durch einen sehr starken Ton des Selbstgefühls
0237auszeichnen, nennt die Cavalleria rusticana „das erste
0238Werk der neuen Zeit
“, „die erste musikalische
0239Offenbarung
“, „ein Werk, das noch die ganze musi-
0240kalische Welt erschüttern
wird“! An diese kleinen
0241Schmeicheleien knüpft Herr Pudor die Behauptung, Mascagni 
0242habe mit Verdi gar nichts gemein. Bei Verdi sei
0243Alles nur „Gefühls-Raffinement, Gefühls-Renommage, Ge-
0244fühlsheuchelei, seine Musik pomphaft, aber innerlich hohl etc.“
0245Nur Jemand, der Verdi nicht kennt, kann so sprechen. Verdi 
0246war niemals ein Gefühlsheuchler; auch was uns in seinen
0247Opern übertrieben und roh erscheint, hat er aufrichtig so
0248empfunden und unbefangen herausgesagt. Ob Mascagni ihn
0249übertreffen werde, das mögen seine künftigen größeren Werke
0250darthun; in der „Cavalleria“ erreicht er keineswegs die
0251Melodienfrische, die Originalität, die unerschöpfliche Erfindung
0252Verdi’s. Er enthält sich nur mancher Geschmacklosigkeiten des
0253früheren Verdi, und dies verdankt er der Zeit, den musikalisch
0254veränderten Anschauungen der Zeit, in welcher er aufwuchs;
0255er verdankt es zum großen Theile Verdi selbst, dessen „Aïda“
0256und „Otello“ ihre Spuren in die „Cavalleria“ unver-
0257kennbar eingedrückt haben. „On est toujours le fils de [3]
0258quelcun,“ sagt Beaumarchais. Auch Mascagni ist nicht vom
0259Himmel gefallen, und als sein musikalischer Vater kann
0260schlechterdings nur Verdi bezeichnet werden. Von Verdi hat
0261die italienische Oper, hat speciell Mascagni die leidenschaft-
0262liche Spannung, die mächtigen Steigerungen, die Musik
0263„welche Blut zieht“. Von dem jungen Verdi hat er die
0264lodernde Sinnlichkeit, von dem alten die declamatorische Prä-
0265gung. Und wie so manche melodische und harmonische Wen-
0266dung dazu? Klingt nicht gleich die Serenade in der Ouvertüre
0267Verdisch? Ist nicht Turriddu’s A-moll-Satz: „Lass’ mich,
0268Santuzza!“ mit seinem Triolengeklopfe Verdisch? Und
0269Alfio’s wüthendes F-moll-Allegro (im Duett mit Santuzza),
0270und die banalen Unisonos in dem Duett zwischen Turriddu 
0271und Santuzza — sind sie nicht Verdisch?


0272Ueber die enthusiastische Aufnahme der neuen Oper und
0273die von Director Jahn so meisterhaft geleitete vorzügliche
0274Aufführung wurde bereits gestern in Kürze berichtet. Herr
0275Müller hat als Turriddu einen wohlverdienten großen
0276Erfolg erzielt. Er darf diese schwierige und anstrengende
0277Rolle zu seinen allerbesten zählen. In Maske, Mimik und
0278Action verkörperte er vollständig den durch inneren Zwist
0279verstörten, leidenschaftlichen Sicilianer. Die Gewalt der Si-
0280tuation und der Musik riß Herrn Müller zu lebendigerem
0281Spiele hin, als wir in der Regel an ihm gewohnt sind;
0282den rührenden Abschied von der Mutter sang und spielte er
0283mit ergreifender Wirkung. Gleich stürmischen Beifall fand
0284Fräulein Schläger als Santuzza. Sie war voll Feuer und
0285Leidenschaft; leider verleitet sie die Rolle zu häufiger Ueber-
0286anstrengung ihrer Höhe, die also forcirt nicht mehr gut klingt.
0287Auch würde es ihre im Ganzen so gelungene Leistung
0288noch verschönern, wenn sie das kreischende Parlando bei
0289Turriddu’s Abgang in die Kirche mäßigen und das zwei-
0290malige, sehr unschöne Hinfallen vermeiden möchte. Einmal
0291am Schluß der Oper, wäre uns dieser Anblick ganz genügend.
0292Ein Sonnenstrahl in dem düsteren Gewölk dieser Tragödie
0293ist die Lola von Fräulein Forster; man kann für Auge
0294und Ohr nicht schöner sorgen. Vortrefflich bewährt sich Herr
0295Neidl als Alfio, sehr tüchtig, wie immer, Frau Kaulich 
0296in der kleinen Rolle der Lucia. Nachdem auch von Seite des
0297Orchesters und des Chors, wie der scenischen Ausstattung
0298die höchsten Ansprüche erfüllt waren, konnte der große Erfolg
0299der „Cavalleria rusticana“ auch in Wien nicht zweifelhaft sein.