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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9550. Wien, Samstag, den 28. März 1891

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Concerte.


0002Ed. H. Hanns Richter, dem wir in dieser Saison
0003für manche musikalische Bekanntschaft verpflichtet sind, brachte
0004auch im siebenten Philharmonie-Concert eine interessante No-
0005vität: die „Lustspiel-Ouvertüre“ von Friedrich Smetana.
0006Sie ist identisch mit der Ouvertüre zur komischen Oper
0007Prodaná nevesta“ (die verkaufte Braut), welche in Prag 
00081866 ihre erste Aufführung, im Jahre 1886 schon ihre
0009150. erlebt hat. Neben Smetana’s „Kuß“ (Hubička), der
0010nicht, wie der Doczi’sche, an einem phantastisch spanischen
0011Hof, sondern auf einem böhmischen Dorfe spielt, behauptet
0012sich die „Verkaufte Braut“ als das beliebteste Stück des
0013national-czechischen Opern-Repertoires. Die Ouvertüre dürfte
0014ihre Popularität nicht auf eigene Faust, sondern erst mit
0015und durch die Oper selbst erworben haben, denn sie wendet
0016sich mehr an ein musikalisches Elitecorps, als an das
0017„große“ Publicum. Das pfeilschnell wie über ein Wehr herab-
0018stürzende Violinthema wirkt ungemein belebend und wird
0019contrapunktisch trefflich verarbeitet. Ein leicht nationaler
0020Anflug streift nur das Seitenmotiv. Die Ouvertüre ist
0021ein breit ausgeführtes, organisch entwickeltes Musik-
0022stück, kein Potpourri. Sie könnte mit Ehren jedes
0023Shakespeare’sche Lustspiel einleiten. Bei feiner, vornehmer
0024Haltung sprüht sie doch Leben und Lustigkeit. Allerdings
0025die Lustigkeit eines geistreichen Menschen... In der Bravour-
0026Arie „Martern aller Arten“ aus der „Entführung“ haben
0027wir mehr die Gesangsvirtuosität der Lilli Lehmann 
0028bewundert, als die Composition Mozart’s. Darauf hatte er
0029selbst es ja abgesehen. Mit der ihm eigenen liebenswürdigen
0030Fügsamkeit in persönliche und locale Ansprüche sorgte er
0031hier für die Bravoursängerin Cavalieri, welche die süße
0032freundliche Gewohnheit des Glänzens auch an unpassender
0033Stelle nicht aufgeben konnte. Und unpassend, widersprechend
0034steht diese im pathetischen Prunkstyl der Opera seria
0035geschriebene Arie mitten in Mozart’s heiterem deutschen
0036Singspiel. Da zu diesem inneren Widerspruch sich oben-
0037drein der Mangel an Sängerinnen gesellt, welche der-
0038gleichen ohne Lebensgefahr ausführen können, so wird
0039die Marter-Arie fast überall in der Oper weggelassen. 
0040Jetzt hat Frau Lehmann sie mit großem Erfolg in den
0041Concertsaal verpflanzt, wohin ein Bravourstück dieser Art
0042jedenfalls besser paßt. Auch noch andere Stücke in der
0043Entführung“ verrathen, daß Mozart noch mit einem Fuß
0044in der italienischen Musik stand, als er das erste Kunstwerk
0045des deutschen Singspiels schuf. Diese Zwiespaltigkeit im
0046Style der „Entführung“, die uns durch ihren deutschen
0047Humor entzückt, durch ihren veralteten wälschen Putz ab-
0048stößt, kann man nur beklagen. Sie hat in den Bravour-
0049Arien der Königin der Nacht noch ein weiteres Seitenstück
0050bekommen und so mit doppeltem Gewicht die stylgemäße
0051Entwicklung der deutschen komischen Oper um Jahre zurück-
0052gehalten... Eine außerordentliche Leistung des philharmo-
0053nischen Orchesters ist die „Sinfonie fantastique“ von Ber-
0054lioz
. Jedesmal, wenn ich sie nach längerer Zeit wieder
0055höre, fühle ich mich einige Stufen oder Treppenabsätze
0056herabstürzen von meiner einstigen Jugendschwärmerei. Es
0057tröstet mich, daß es damit Anderen genau so geht. Den be-
0058friedigendsten Eindruck machen noch immer durch ihre geschlossene
0059Form der „Ball“ und der „Hinrichtungsmarsch“. Im ersten
0060Satze, wie im Adagio wirken wie ehemals einzelne Stellen
0061von durchbohrendem Glanz oder wehmüthiger Innigkeit —
0062aber die haltlose Zerfahrenheit dieser Sätze, die dürftige Aus-
0063führung ihrer nichts weniger als bedeutenden Themen bei
0064so unverhältnißmäßiger Ausdehnung fällt uns um so betrü-
0065bender auf. Der letzte, fünfte Satz ist einfach häßlich, mit
0066einem starken Stich ins Lächerliche. Berlioz selbst hatte seine
0067Bedenken dagegen; er brachte in Wien und anfangs auch
0068in Prag nur die ersten vier Sätze der Symphonie zur Auf-
0069führung. Erst als der hochgestiegene Enthusiasmus der Prager
0070ihn gegen jede Gefahr feite, gab Berlioz in einer späteren
0071Wiederholung auch das berüchtigte Finale. Auf einem Aus-
0072fluge nach Wien begriffen, mußte ich jenes denkwürdige Con-
0073cert opfern. Da war Berlioz so liebenswürdig, mich über
0074dieses Versäumniß mit einigen humoristischen Zeilen zu trösten.
0075Er schrieb mir aus Prag am 5. April 1846: „Henri IV 
0076écrivait: Pends toi Crillon, nous avons vaincu à Arques 
0077et tu n’y étais pas! Notre Sabbat a été exécuté mardi
0078dernier; cependant je ne vous engage pas à vous pendre,
0079car il peut allez beaucoup mieux. Mille amitiés, et revenez
0080nous vite!“ Die jüngste Aufführung unter Hanns Richter,
0081welche Berlioz gewiß nicht „beaucoup mieux“ gewünscht
0082hätte, rief mir schöne Jugendtage, aber auch die Ueberzeu-
0083gung zurück, daß der „Hexensabbath“ am besten wirkt, wenn
0084man ihn — wegläßt.


0085Am 24. März hörten wir die „Johannes-Passion“ von
0086Bach. Die Charwoche ist die rechte Zeit für Aufführung
0087der Passionsmusiken, welche so eigen zwischen Kirche und
0088Concertsaal, zwischen Gottesdienst und Musikgenuß schwanken.
0089Die wunderbar großen Chöre, die frommen Choräle, endlich
0090die schlicht erzählenden Recitative machten auch diesmal
0091den tiefsten Eindruck. Wunderlich verschnörkelte und noch
0092wunderlicher instrumentirte Arien wie die in den „Laster-
0093beulen“ förmlich schwelgende „Von den Stricken meiner
0094Sünden“, oder die nächste: „Ich folge dir gleichfalls“, ent-
0095zücken wol nur solche Hörer, deren religiöse Andacht im
0096Augenblicke stark genug ist, die musikalische „zu ziehen,
0097zu schieben, zu bitten“. Fräulein Pia v. Sicherer und
0098Frau Gisela Körner bewältigten diese schwierigen Stücke,
0099ohne damit stärkere Wirkung zu erzielen. Glücklicher war
0100Herr Walter, der mit dem berühmten Recitativ vom wei-
0101nenden Petrus und mit der darauffolgenden rührenden Arie
0102einen Sturm von Beifall entfesselte. Es ist bald dreißig
0103Jahre her, daß Walter zum erstenmale den Evangelisten in
0104der „Johannes-Passion“ sang. Und noch immer ist seine
0105Macht über die Gemüther dieselbe! Die Aufführung, um
0106die sich auch die Herren Grengg und Forster bemühten,
0107war vom Director Gericke sehr sorgfältig vorbereitet
0108und geleitet.


0109Ein anderes geistliches Concert gab am nächsten Abend
0110der Wiener Männergesang-Verein unter Krem-
0111ser’s
Leitung. Drei neue Männerchöre von Döring,
0112Joseph Schwartz und Patzelt-Norini fanden leb-
0113haften Beifall. Eine neue angenehme Erscheinung begrüßte
0114das Publicum in Fräulein Paula Landau. Die junge
0115Sängerin besitzt eine wohlklingende, ziemlich kräftige Sopran-
0116stimme, spricht deutlich aus und verräth die gute Schule
0117Victor Rokitansky’s. Einige Schwankungen in der Intona-
0118tion mochten vielleicht von der Befangenheit Fräulein
0119Landau’s herrühren. Ganz vortrefflich spielte Frau Schuster-
0120Seydel
zwei Sätze aus dem Violin-Concert (A-moll) von
0121Bach und mit gleichem Erfolge Herr Georg Valker eine
0122Orgelsonate von Mendelssohn.


0123Das letzte Concert des „Schubertbundes“ feierte
0124vornehmlich den verdienstvollen Chormeister des Vereines,
0125Herrn Franz Mair, der soeben mit seinem 70. Jahre [2]
0126auch den Dirigentenstab zurückgelegt hat. Während des Con-
0127certes selbst wurde der Jubilar durch eine Anrede und
0128Ueberreichung einer Dankadresse geehrt — Ovationen, in
0129welche das zahlreiche Publicum sehr herzlich einstimmte. Der
0130als Chormeister, Componist und Schuldirector rastlos thätige
0131wackere Mann hat diese Ehren redlich verdient. Er besitzt
0132die Achtung und Liebe Aller, die mit ihm gearbeitet und
0133verkehrt haben; der beste Schatz, den ein Jubilar in die
0134Beschaulichkeit des Ruhestandes mitnehmen kann. Ihn als
0135Tondichter zu feiern, brachte der „Schubertbund“ sein um-
0136fangreiches neuestes Werk, „Der Beduine“, eine „Phanta-
0137stische Wüstenscene“, zur Aufführung. Ein alter Beduine
0138betet in der Wüste, der Himmel möge ihn durch einen
0139Blitzstrahl tödten, was auch pünktlich geschieht. Aber nicht
0140so schnell, als der Leser vielleicht glaubt. Zwischen das Gebet
0141und dessen Erhörung schieben sich unabsehbare Gesänge der
0142„Wolkenstimme“, „Chöre der Luftgeister“, „Chöre der
0143Wüstengeister“, „Stimmen der Stürme“ und ähnliche
0144grandiose Offenbarungen, bei denen uns der Verstand stille
0145steht. Der Componist hat für die unglückliche Wahl dieses
0146Gedichtes zu büßen. Es zwingt ihn, sich krampfhaft über
0147sein natürliches Maß zu strecken, alles Dissonanzen-Gewürz,
0148Orchestergetöse und tonmalerischen Witz aufzubieten, um doch
0149schließlich im Gemüthe des Hörers nichts Anderes zu er-
0150wecken, als — den Wunsch des alten Beduinen. Der
0151„Schubertbund“ würde den Componisten weit besser durch einen
0152der vielen nicht „phantastischen“, aber gemüthvollen und
0153musikalisch gesunden Chöre gefeiert haben, welche Franz
0154Mair so zahlreich und wirksam geschrieben hat. Gewiß koste-
0155ten ihm diese nicht halb so viel Studium und Anstrengung,
0156wie dieser Blitzbeduine; aber die Menge der Schweißtropfen
0157entscheidet nimmermehr für den Werth eines Kunstwerkes. Ein
0158ähnliches Stück in handlicherem Formate ist die „Wetter-
0159tanne“, ein Männerchor mit großem Orchester, von Joseph
0160Pembauer in Innsbruck. Das Gedicht (von Adolph
0161Pichler) ist Reflexions-Poesie, und in Musik schwer
0162auflösbar. Der Dichter sieht in der dem Sturme
0163trotzenden Tanne das Bild des eigenen stolzen Her-
0164zens. Dieses kurze Gedicht wird mit einem unbe-
0165greiflichen Aufwand von Orchestermalerei und Instru-
0166mentallärm, von Wortwiederholungen und Unterabtheilungen
0167zu einer großen Opernscene auseinandergezerrt, welche sogar
0168der Ouvertüre („Ahnung des Sturmes“) nicht ermangelt. 
0169Herr Pembauer ist ein begabter und tüchtig geschulter Mu-
0170siker, aber die leidige Großmannssucht, das Beethoven- und
0171Wagnerspielen in der Liedertafel betrügt ihn um die Früchte
0172seines Talentes. Zwischen diesen beiden „Stürmen“, dem
0173egyptischen und dem tiroler, wirkte doppelt erfrischend ein
0174schlichter, warm empfundener a capella-Chor von Heu-
0175berger
(„Volksweise“). Als ausübender Künstler hat sich
0176der „Schubertbund“ (unter Leitung des Herrn Ernst Schmid)
0177rühmlich bewährt und namentlich in dem fein schattirten
0178Vortrag der Chöre „Es muß ein Wunderbares sein“ von
0179Kirchl und „Sandmännchen“ ganz Ausgezeichnetes geleistet.
0180Willkommene Abwechslung bot der Kammervirtuose Herr
0181Alfred Grünfeld. Nach dem Vortrag von Beethoven’s
0182F-dur-Andante und einer Transscription von Saint-Saëns 
0183ward er von stürmischem Applaus nochmals ans Clavier
0184genöthigt und mußte seine „Ungarischen Tänze“ zugeben.
0185Sie gehören zu Grünfeld’s glänzendsten Specialitäten und
0186überraschen insbesondere durch die täuschende Nachahmung
0187des Cymbaltones.


0188Unter den Pianistinnen haben zuletzt die Kammer-
0189virtuosin Frau Frankl-Joël und Fräulein Anna Bau-
0190meyer
den lebhaftesten Zuspruch und Beifall gefunden.
0191Beide Damen sind ihrem heimischen Publicum längst nach
0192Verdienst bekannt. Fräulein Baumeyer erfreute ihre Hörer
0193besonders durch den klaren und kraftvollen Vortrag von
0194Brahms’ neu bearbeitetem H-moll-Trio. Ein neues, sehr
0195anregendes Intermezzo lieferte das „Oesterreichische Damen-
0196quartett“. Die Damen (drei Schwestern Tschampa und
0197ein Fräulein Perner) singen mit richtiger Phrasirung,
0198gutem Vortrag und bewunderungswürdiger Reinheit. Aus
0199der Reihe der concertirenden Sänger brauchen wir das ver-
0200dienstvolle Ehrenmitglied unserer Hofoper, L. v. Bignio,
0201und den sympathischen schwedischen Bariton, Filipp Forstén,
0202unseren Lesern nicht erst vorzustellen; Beide haben mit dem
0203günstigsten Erfolg sich wieder hören lassen. Zum erstenmale
0204hingegen erschien vor dem Wiener Publicum die Coloratur-
0205Sängerin Fräulein Louise Heymann aus Amsterdam,
0206eine Schwester des genialen Pianisten Karl Heymann.
0207Fräulein Heymann, eine der jüngsten und talentvollsten
0208Schülerinnen der Marchesi, hat sich bereits auf italienischen
0209Bühnen als Lucia, Rosina, Sonnambula mit Glück versucht.
0210Hier ist sie mit außerordentlichem Erfolg als Concertsängerin
0211aufgetreten. Ihre kleine Stimme, ein Sopran von seltener 
0212Höhe und Geläufigkeit, ist vortrefflich geschult und glänzt in
0213allen Künsten der Virtuosität, ganz besonders im Staccato.
0214Diese Specialität triumphirte in den bekannten Proch’schen
0215Variationen; wir unterdrücken deßhalb jeden Vorwurf über
0216die Wahl dieser bösen Composition. Fräulein Heymann’s
0217Vortrag von Schubert’sHaideröslein“ und Brahms’ 
0218Wiegenlied“, klang uns nicht schlicht und natürlich genug,
0219während Taubert’s „Vogel im Walde“ eigens gemacht schien
0220für diese leicht bewegliche Vogelstimme. In Fräulein Hey-
0221mann’s Concert spielte ein Herr Joseph Mayer mehrere
0222Clavierstücke. Bekanntlich gibt es außerordentlich viele
0223„Mayer“ und darunter wahrscheinlich nicht wenige, die
0224ebenso gut Clavier spielen, wie Herr Joseph Mayer.


0225Die Quartett-Abende der Herren Julius Winkler,
0226Finger, Wahle und Fimpel haben in dieser Saison
0227neuerdings ihr treues Stammpublicum vollzählig versammelt.
0228Diese Productionen werden mehr besucht, als öffentlich be-
0229sprochen, was jedenfalls dem umgekehrten Verhältniß vor-
0230zuziehen ist. Julius Winkler, ein ebenso bescheidener wie
0231tüchtiger und begeisterter Musiker, hat eine wahre Leiden-
0232schaft, nicht von sich reden zu machen. Trotzdem ist er im
0233Laufe weniger Jahre dahin gelangt, sich inmitten zahlreicher,
0234zumeist älterer Quartettvereine eine sehr geachtete Stellung,
0235ja eine werthvolle Specialität zu schaffen. Diese besteht in
0236der vorzüglichen Pflege Haydn’s. Man weiß, daß die
0237wenigen hier öffentlich gespielten Quartette von Haydn stets
0238aus der kleinen Auswahl geschöpft sind, welche in der
0239Peters’schen Ausgabe als die „Quatuors célèbres“ figuriren.
0240Herr Winkler hat in den letzten Jahren etwa zwölf Haydn’sche
0241Quartette aufgeführt, die hier so gut wie verschollen gewesen
0242und doch durch irgend eine reizende Eigenthümlichkeit den be-
0243rühmtesten des Meisters gleichstehen. Haydn behauptet den
0244Ehrenplatz in jedem Programme Winkler’s und wird mit
0245feinstem Verständniß gespielt. An ihn reihen sich zunächst
0246Mozart, Schubert, Mendelssohn, der jüngere und mittlere
0247Beethoven. Moderne Meister sind darum keineswegs ver-
0248gessen; zählten doch Schumann’s G-moll-Trio und
0249Brahms’ Clavierquartett in A-moll (beide unter Mit-
0250wirkung des vorzüglichen Pianisten Hugo Reinhold) zu
0251den erfolgreichsten Stücken dieser Saison. Das Winkler’sche
0252Quartett verfolgt eine edle, ihm eigene Richtung und hat
0253ein Recht auf die Theilnahme des Publicums.