Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9559. Wien, Dienstag, den 7. April 1891

[1]

Concerte und Ballet.


0002Ed. H. Unter den Concertgebern der letzten Woche hat
0003Adelina Patti selbstverständlich das größte Publicum
0004herangezogen und das bedeutendste Aufsehen erregt. Volle
000532 Jahre sind verflossen, seit die Patti in Newyork zum
0006erstenmal die Bühne betrat; 28 Jahre seit ihrem ersten
0007Gastspiel in Wien. Ihre Stimme besaß damals nicht viel
0008Kraft, aber einen entzückend reinen, hellen Silberklang und
0009erstaunliche Beweglichkeit; ihr Spiel und Vortrag, noch
0010ohne gesättigte Farbe, hielt sich innerhalb leichter, deutlicher
0011Contouren. Damals schon ein Phänomen an Gesangskunst
0012und natürlichem musikalischen Schönheitsgefühl, überraschte
0013die Patti in den folgenden Jahren durch große Fortschritte.
0014Ihre Empfindung hatte sich vertieft, ihr Spiel war bezeich-
0015nender, ihr Ausdruck dramatischer geworden; in der Wahl der
0016Rollen stellte sie sich höhere, ernstere Aufgaben. Die früher
0017kindlich helle Stimme bekam eine dunklere Färbung; ver-
0018schwunden war das dreigestrichene d und es, die tiefen Töne
0019hingegen hatten an Kraft und Schönheit gewonnen. Im
0020Laufe der Siebziger-Jahre kam die Patti am häu-
0021figsten und stets zu längerem Gastspiel nach Wien; es
0022war die Zeit ihrer glänzendsten Rollen, eine Reihe
0023von Festen für Jeden, der Sinn und Verständniß hat für
0024die Schönheit vollendeter Gesangskunst. Wir erinnern an
0025ihre unübertroffenen Leistungen im „Barbier von Sevilla“,
0026Don Pasquale“, „Traviata“, „Dinorah“, „Trovatore“, an
0027ihre unvergleichliche Zerlina im „Don Juan“. Den Eindruck
0028dieser Theaterabende vermag eine Concert-Production nie zu
0029erreichen. Im Vergleich mit lebendigen Bühnenschöpfungen
0030wirkt auch das virtuoseste Absingen von drei bis vier be-
0031kannten Paradestücken kühl und nüchtern. Bei ihren letzten,
0032flüchtigen Besuchen in Wien, 1885 und jetzt, ist die Patti 
0033leider nur als Concertsängerin aufgetreten. Trotzdem war ihr
0034Erfolg glänzend, ihre Leistung eine Merkwürdigkeit. Wir
0035kennen kein zweites Beispiel, daß eine Sängerin nach zwei-
0036unddreißigjähriger Bühnenthätigkeit, eine Frau von 48 Jahren,
0037ihre Stimme und ihre Gesangskunst in annähernd gleichem
0038Maße sich erhalten hätte. Nur wer Unmögliches verlangt
0039und gegen alle Naturgesetze erwartet hatte, die Patti ganz
0040genau so an Stimme und Erscheinung wiederzufinden wie 
0041vor zwanzig Jahren, der mochte über Enttäuschung klagen.
0042In Berlin, wo die Patti zuletzt, unmittelbar vor ihrem
0043Wiener Concert aufgetreten ist, hatte man sie viel länger
0044nicht gehört, als wir in Wien, und fand sich trotzdem nicht
0045enttäuscht. Da sie dort dasselbe Programm wie bei uns ge-
0046sungen hat, so dürfte unsere Leser das Urtheil eines der ge-
0047diegensten Berliner Musikkritiker interessiren. Professor
0048Gustav Engel, der speciell als trefflicher Gesanglehrer
0049und Schriftsteller über Gesangskunst anerkannt ist, schreibt
0050in der Vossischen Zeitung: „Was wir jetzt vernommen haben,
0051war ebenso phänomenal, als der erste Erfolg des sechzehn-
0052jährigen Mädchens, den sie bei ihrem ersten Auftreten 1859 
0053in Newyork als Lucia errang; sie singt herrlich, und wenn
0054wir den strengsten uns möglichen Maßstab anlegen, so be-
0055kennen wir es offen, daß ihre Stimme noch immer ent-
0056zückend ist, ihre Coloratur-Fertigkeit bewunderungswürdig,
0057ihr Vortrag aber und ihre Feinfühligkeit durchgeistigter als
0058jemals. Nehmen wir die geringen Ausstellungen, die wir
0059etwa machen könnten, vorweg, so würden wir als die
0060wichtigste die Neigung, das empfindungsvolle, gleichsam nur
0061wie Seufzer klingende hörbare Ausathmen allzu häufig an-
0062zuwenden, nennen müssen. Die höchsten Töne, das A und
0063H, pflegt Adelina Patti, an das moderne Drama gewöhnt,
0064nur noch stark zu nehmen; auch dann sind sie meistens
0065schön, nur hin und wieder — wir erwähnen z. B. das H
0066in Gounod’s Melodie — treten sie etwas zu grell hervor.
0067Das Allegro in der Semiramis-Arie nahm Adelina Patti 
0068sehr schnell, so schnell, daß die Coloratur an einzelnen Stellen
0069die vollendete Deutlichkeit verlor, vielleicht freilich nur in Folge
0070der zerstreuenden Akustik. Das sind unsere Ausstellungen,
0071so geringfügig, daß wir bekennen, seit langer Zeit nicht einen
0072so großen Eindruck von höchster und ergreifendster Gesangs-
0073kunst empfangen zu haben. Diese herrliche Tonbildung, die
0074ebensosehr das bei den Italienern sich so leicht einstellende
0075allzu Helle vermeidet, als die besten deutschen Sänger das
0076in Bezug auf das allzu Dunkle thun, die goldene Reinheit,
0077der warme, gefühlvolle und zugleich so vornehme Vortrag,
0078der feine Geschmack in der Vertheilung des Legato und
0079Staccato, des Ritardando und Accelerando in den feinsinnig,
0080aber stets stylgemäß umgestalteten Verzierungen und Passagen,
0081das Alles war von seltener Vollendung. Und in Schubert’s
0082Ständchen“ bewies Frau Patti, daß sie nicht einmal aus-
0083schließlich auf solche Tonstücke angewiesen ist, die aus roma-
0084nischer Gefühlsweise hervorgewachsen sind; denn auch hier
0085entzückte sie durch Süßigkeit und Wärme des Vortrages.
0086Wenn jemals, so hat sie sich an diesem Abend als die
0087größte italienische Sängerin der neueren Zeit bewährt.“ Von
0088diesem Urtheil Gustav Engel’s weichen wir nur in dem
0089Einen Punkte ab, daß uns Schubert’s Ständchen (in
0090italienischer Sprache) nicht als eine glückliche Wahl erschien.
0091In allem Uebrigen können wir nur wünschen, es möchten
0092recht viele angehende Sängerinnen das Concert im Musik-
0093vereinssaale besucht und sich ein Vorbild an der Patti ge-
0094nommen haben. Für uns, die wir die Pasta, die Malibran,
0095die Catalani nicht mehr erlebt haben, bleibt Adelina Patti 
0096die vollendetste Gesangskünstlerin, die wir kennen. —


0097Das Berliner Sänger-Ehepaar Eugen und Anna 
0098Hildach gab am vorigen Samstag einen sehr beifällig
0099aufgenommenen Liederabend. Herrn Hildach kennen wir be-
0100reits als guten Oratoriensänger; er hat vor mehreren Jahren
0101hier den Schumann’schen „Faust“ und den Christus in der
0102Matthäus-Passion mit Erfolg gesungen. Im Lieder- und
0103Balladenvortrag entfaltet er werthvolle Eigenschaften: eine
0104kräftige, wohlgeschulte Baritonstimme, deutliche Aussprache,
0105correcte und ausdrucksvolle Declamation. Frau Anna Hildach 
0106zeigt sich in allen Vorzügen einer gut musikalischen, un-
0107fehlbar festen und verständigen Sängerin ihrem Gatten eben-
0108bürtig. Ihre Stimme, ein tiefer Mezzosopran, besitzt zwar
0109nicht mehr den Blüthenduft der Jugend, wol aber aus-
0110reichende Kraft und in den tieferen Chorden auch Wohllaut.
0111Für leichte, naive Lieder, wie Haydn’sPastorelle“, klingt
0112ihre Stimme zu schwer und dunkel; ernste, pathetische Ge-
0113sänge hingegen, wie Schubert’sMemnon“, gelingen ihr
0114vollkommen. Man sieht schon aus diesen zwei Beispielen,
0115daß die Hildachs ihr Augenmerk auf weniger bekannte Com-
0116positionen richten, wofür ihnen aufrichtiger Dank gebührt.
0117Auch von Brahms war keines der stereotyp gewordenen
0118Concertlieder gewählt. Eine willkommene Bereicherung des
0119Programms, zugleich eine Specialität des Ehepaares sind
0120seine genau und fein zusammengestimmten Duettvorträge,
0121unter denen das volksthümlich schlichte „Heimatgedenken“
0122von P. Cornelius, dann „Stille in der Nacht“ von
0123Goetze und „Kein’ Sorg’ um den Weg“ von Reinecke 
0124besonders gefielen. Für ihr zweites Concert wünschen wir
0125Herrn und Frau Hildach ein zahlreicheres Publicum, selbst
0126auf die Gefahr hin, daß ihre Stimmen dann nicht so über[2]-
0127kräftig schallen würden, wie in dem halbleeren Saal vom
01284. April.


0129Das achte und letzte „Philharmonische Concert
0130brachte uns nach der „Tragischen Ouvertüre“ von Brahms 
0131eine Novität: die Serenade für Streichorchester op. 48 von
0132P. Tschaikowsky. Sie verräth keine starke schöpferische
0133Kraft, wol aber ein feines, eigenartiges und geschickt han-
0134tierendes Talent, das seine Anregung aus russischer National-
0135musik, seine Bildung aus deutscher Schule holt. Für die
0136besten Sätze halten wir das erste, geistreich beflügelte Allegro,
0137von dem wir nur das einleitende und zum Schluß leider
0138wieder auftauchende schwerfällige Andante fortwünschten; dann
0139den behaglich hinschlendernden graziösen „Walzer“ in G-dur.
0140In beiden Sätzen erprobt der Componist seine Gewandt-
0141heit, ziemlich unbedeutende Themen durch Abwechslung der
0142Instrumente, pikante Begleitungsfiguren und contra-
0143punktische Verwendung zu bereichern und wirksam zu
0144steigern. Der stimmungsvolle dritte Satz, eine „Elegie“
0145in H-moll, ermüdet durch seine inhaltlich nicht gerechtfertigte
0146Ausdehnung und die unablässigen Wiederholungen desselben
0147Motivs. Dasselbe Bedenken erweckt auch das Finale, ein
0148derber russischer Bauerntanz, dessen winziges Thema sich
0149monoton wie ein Kreisel in athemversetzenden Wirbel herum-
0150dreht. Die Form der „Serenade“ ist klar und übersichtlich,
0151nicht von jener Zerrissenheit, welche Tschaikowsky’s größere
0152Compositionen, wie „Francesca da Rimini“ u. dgl., so un-
0153verdaulich macht. Auch die Instrumentirung verdient ein be-
0154sonderes Lob; Tschaikowsky hat so viel Abwechslung in den
0155Klang zu bringen gewußt, als bei dem Ausschluß aller
0156Blasinstrumente überhaupt zu erreichen ist. Auf den be-
0157scheidenen Saitenklang dieser Serenade kam in grellstem
0158Orchesterpomp Liszt’sMephisto-Walzer“ herangestürmt.
0159Dieses unschöne Effectstück bedarf durchaus keiner eigenen
0160poetischen Erklärung; weßhalb es denn höchst überflüssig war,
0161die ausführliche Schilderung brutalster Sinnlichkeit aus dem
0162Lenau’schen „Faust“ auf dem Concertprogramm abzudrucken
0163und an die ahnungslosen jungen Mädchen zu vertheilen, welche
0164ein so großes Contingent zu dem Auditorium der Philharmoniker
0165stellen. Eine vortreffliche Aufführung der achten Symphonie von
0166Beethoven spülte die Unsauberkeiten dieses Mephisto glück-
0167lich hinweg und beschloß sehr würdig den diesjährigen, über-
0168wiegend genußreichen Cyklus der Philharmonischen Concerte.


0169Rouge et Noir“ heißt das im Hofoperntheater gegebene
0170neue Ballet, dessen Textdichter so klug war, sich nicht zu
0171nennen. Es werden da lose Bilder aus dem eleganten Leben
0172von Nizza und Monaco mit einer angeblich rührenden
0173Familiengeschichte zusammengeflickt, die in Wahrheit nur
0174uninteressant und lästig ist. Das „Vorspiel“ zeigt uns eine
0175schlafende Großmutter mit ihren zwei erwachsenen Enkeln,
0176Otto und Olga, in dem Familienzimmer einer Villa, die
0177(wie das Textbuch mit rührender Genauigkeit angibt) „zwei
0178Stunden von Wien, abseits der großen Heerstraße liegt und
0179Coeur-Dame heißt“. Otto soll seinen ersten Ausflug in die
0180Welt machen. Da er Glück im Spiel und kein Unglück in
0181der Liebe zu haben wünscht, öffnet er heimlich den Geld-
0182schrank der Großmutter und macht sich mit einem Paket
0183Banknoten aus dem Staube. Großmama sucht, viel zu lange
0184für unsere Geduld, überall nach ihrem Schlüsselbund, findet ihn
0185endlich an der Kasse stecken, besieht sich ihren Schaden und
0186weint mit Olga ein stummes Duett. Der Vorhang fällt und
0187hebt sich wieder über der sonnbeglänzten „Promenade des
0188Anglais“ in Nizza. Unser Otto kommt an und verwendet
0189flugs einen Theil seines Goldes zu einer Liebschaft mit einem
0190Blumenmädchen Namens Pelargie. Nun belebt sich die Pro-
0191menade. Zahlreiche Müßiggänger, deren Namen, Stand und
0192Nationalität der Theaterzettel mit polizeilicher Accuratesse
0193verzeichnet, wimmeln durcheinander; flintenbewaffnete
0194„Taubenjägerinnen“ führen einen Tanz auf; eine Blech-
0195musik, so schreiend grell, wie man derlei „Fanfaren“ wirk-
0196lich nur in Italien antrifft, marschirt über die Bühne, ihr
0197nach ein Trupp festlich gekleideter Blumenmädchen, die Miliz
0198in der „Bataille des fleurs“. Dieser von Herrn Haßreiter 
0199sehr effectvoll arrangirte Tanz gibt unter Anderm einem
0200etwa fünfjährigen, genialen Balletknirps Gelegenheit, seinen
0201ersten Erfolg zu feiern. Von Nizza werden wir in das
0202Casino von Monte Carlo versetzt. Lebemänner, Pariser
0203Cocotten, Professionsspieler, auch Taschendiebe drängen sich
0204um die Roulette. Es scheint, daß wenigstens die Leute auf
0205der Bühne sich bei dieser langwierigen Scene bestens unterhalten.
0206Auch Otto setzt fleißig, hat ihm doch eine „Vision“ im Vor-
0207spiel Glück verheißen. Eben wollen wir uns verwundern, daß
0208er so lange keine Vision mehr hat — da kommt sie in zwei
0209Auflagen. Zuerst ein gehörnter, schwarzer Dämon, wahr-
0210scheinlich als die abschreckende, dann Fortuna, als die anlockende 
0211Seite des Spiels. Sie schüttet aus ihrem Füllhorn einen
0212Regen von Gold- und Silbermünzen, die in vergrößertem
0213Format alsbald zu tanzen anheben. Hierauf soll durch den
0214Tanz die Roulette versinnlicht werden. „In der Mitte tanzt
0215die Elfenbeinkugel, und so oft die Scheibe (der Kreis der
0216Tänzerinnen) stille hält, lenkt Fortuna die Kugel nach jener
0217Nummer (Tänzerin), die Otto pointirt (umfangen hält)“. Also
0218belehrt das freundliche Textbuch den Leser; für den Zuschauer
0219bleibt der Vorgang trotzdem ein Räthsel. Nun haben bereits
0220die Gold- und Silbermünzen und die Roulette getanzt;
0221fehlt nur noch das tanzende Kartenspiel. Lebendige Karten
0222und Schachfiguren im Ballet sind keine neue Idee, sie haben
0223schon im siebzehnten Jahrhundert das Pariser Opern-
0224publicum ergötzt. Dem Wiener Kartenballet darf man
0225nachrühmen, daß es von geschickter Hand sehr wirksam
0226zusammengestellt ist. Die vier gravitätischen Kartenkönige
0227mit ihren stattlichen Königinnen bilden einen hübschen
0228Contrast zu den lustigen „Buben“; drei Solo-Figuren, in
0229der Gelehrtensprache „Pagat, Mond und Sküs“ geheißen,
0230tummeln sich im Vordergrund. Was für kühne Sprünge
0231und übermenschliche Körperdrehungen Fräulein Rathner 
0232da im Harlekin-Costüm ausführt, ist ganz unbeschreiblich.
0233Das Kartenballet ist zu Ende, jetzt muß auch die rührende
0234Familien-Geschichte einen Schluß bekommen. Der liebe Otto 
0235hat sein Geld und seine Geliebte verloren, ersteres an den
0236Croupier, Letztere an einen italienischen Cavallerie-Lieutenant.
0237Die schöne Pelargie gibt unserem ausgesäckelten Landsmann
0238mit aller Grazie, welche Frau Abel auszeichnet, kurzweg
0239den Abschied. Otto geräth in eine von Herrn Frappart 
0240sehr ausdrucksvoll gespielte, aber nichtsdestoweniger ganz
0241unnütze Verzweiflung. Es landet ein Schiff, worauf unser
0242Textdichter den glücklichen Ausgang geladen hat: die endlich
0243ausgeschlafene Großmama mit Fräulein Olga. Sie umarmen
0244das vielgeprüfte Früchtel und führen es schleunigst heim in
0245das Landhaus, das genau „zwei Stunden von Wien, abseits
0246von der großen Heerstraße liegt und Coeur-Dame heißt“.
0247In „Rouge et Noir“ wird, wie wir gesehen, leidenschaftlich
0248gespielt — ob das Hofoperntheater viel gewonnen hat,
0249können wir vorläufig nicht entscheiden. Die Meinung wird
0250verschieden ausfallen, je nachdem man ein Roth- oder ein
0251Schwarzseher ist.