Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9738. Wien, Dienstag, den 6. October 1891

[1]

Hofoperntheater.

(„Die Liebenden von Teruel“, Oper in vier Acten und einem Vorspiel von Tomas Breton.)


0003Ed. H. Wenn es der Hofopern-Direction darum zu
0004thun war, uns mit einer Seltenheit zu überraschen, dann
0005konnte sie gewiß nichts Passenderes wählen, als eine spa-
0006nische Oper. Kaum hat ein zweites Culturvolk in der Ge-
0007schichte der Musik so wenige Posten errungen, so geringe
0008Spuren hinterlassen, wie das spanische. Es besaß im sech-
0009zehnten und siebzehnten Jahrhundert einige angesehene
0010Kirchen-Componisten und Theoretiker, wie Cristofano Mo-
0011rales
und Ludovico da Vittoria; dann fehlt bis auf
0012unsere Tage jeder Name von Bedeutung. Während im sieb-
0013zehnten Jahrhundert die spanische Dichtung in Cervantes,
0014Lope da Vega, Calderon ihren weithin strahlenden Gipfel
0015erreicht hatte und gleichzeitig die Ribera, Velasquez, Mu-
0016rillo den Ruhm spanischer Malerkunst verbreiteten, blieb die
0017Musik mit Unfruchtbarkeit geschlagen. Auch unser Jahr-
0018hundert der musikalischen Influenza hat in Spanien 
0019nicht Einen namhaften Tondichter hervorgebracht, man
0020wollte denn Melchior Gomis dafür nehmen, der,
0021ein geborener Spanier, unverfälscht französische Musik für
0022die Pariser Opéra Comique schrieb. In der That, das kalte
0023Rußland, das melancholische Norwegen, selbst das steife Eng-
0024land sind musikalisch weit fruchtbarer als Spanien, dieses
0025gelobte Land der Romantik, der süßen Serenaden, der be-
0026rauschenden Tänze. Der Musikhistoriker Gevaert, einer
0027der besten Kenner und Liebhaber des heutigen Spanien,
0028nennt nur zwei Gattungen Musik dort eigentlich heimisch:
0029Kirchenmusik und Volksmusik. Erstere, jetzt völlig verflacht,
0030entbehrt jeder künstlerischen Bedeutung; letztere übt einen
0031befruchtenden Einfluß höchstens auf die kleinen nationalen
0032Singspiele (Zarzuelas), ohne zu den höheren Sphären der
0033Kunst emporzudringen. Musikalisch ist Spanien heute noch
0034eine italienische Provinz. Madrid und Barcelona bilden immer
0035noch die treuesten Asyle italienischer Operngesellschaften.
0036Zwar sorgt die spanische Regierung väterlich für die Hebung
0037der nationalen Musik; das Conservatorium in Madrid er-
0038zieht tüchtige Sänger und Instrumentalisten, Compositionen
0039einheimischer Tonkünstler werden grundsätzlich gefördert und
0040bevorzugt. Auch der Componist der neuen Oper, Herr Tomas
0041Breton, genießt als Concertmeister der Königin-Regentin 
0042den besonderen Schutz des Hofes und der Regierung. Er ist
0043seit Menschengedenken der erste spanische Operncomponist, dessen
0044Name und Musik über die Grenzen seines Vaterlandes dringt.


0045Das Textbuch ist nach einem in Spanien populären
0046Drama gleichen Namens vom Componisten selbst verfaßt.
0047Los amantes de Teruel“ war der erste große Erfolg des
0048fruchtbaren Bühnendichters Hartzenbusch, der trotz seines
0049fürchterlichen deutschen Namens ein geborener Spanier war
0050und als Director der National-Bibliothek 1880 in Madrid 
0051gestorben ist. Zwei Edelleute bewerben sich um die Hand der
0052schönen Isabel; der eine, Don Rodrigo, ist reich und vom Vater
0053bevorzugt, der andere, von Isabel geliebte, Marsilla, ist arm, oder
0054wie Don Pedro sich gewählter ausdrückt: „Der Güter Stütze
0055ward leider ihm versagt.“ Um ihm aber doch nicht alle
0056Hoffnung abzuschneiden, fordert Isabel’s Vater den Marsilla 
0057auf, sofort gegen die Ungläubigen ins Feld zu ziehen und
0058sich Reichthümer zu erwerben. Ist er nach fünf Jahren,
0059genau auf Tag und Stunde, zurückgekehrt, so wird Isabel 
0060die Seine; bleibt er aus, so gehört sie dem Rodrigo. Beide
0061Bewerber fügen sich mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit
0062dieser Fristerstreckung. Schweren Herzens läßt Isabel den
0063Geliebten ziehen: „So sehr ist dich zu sehen all mein Ver-
0064langen, — Daß, denk’ ich an dein Gehen — Mich zwingt
0065das Bangen.“ Damit schließt das sehr umständliche „Vor-
0066spiel“. Der erste Act spielt im Palast des Emirs von
0067Valencia. Marsilla war in dessen Gefangenschaft gerathen,
0068wird aber jetzt freigelassen, weil er dem Emir das Leben
0069gerettet hat. Die Sultanin Zulima, ein beängstigend ver-
0070liebter Drache, verfolgt den Marsilla mit Liebesanträgen,
0071welche der treue Geliebte Isabel’s entschieden zurückweist.
0072Ein Aufpasser denuncirt sie dem Emir, und dieser verurtheilt
0073sie unverweilt zu ewigem Kerker. Allein Zulima hat früher
0074dem Marsilla das Leben gerettet und wird auf dessen
0075Fürbitte begnadigt. (Es ist merkwürdig, wie viel Leute
0076immer in solchen Operntexten einander das Leben gerettet
0077haben und was Alles damit motivirt wird!) Der Emir 
0078verkündet: „Frei denn ist sie! Doch verbannt aus meinem 
0079Lande — Und wiederkehren soll zu keiner Frist sie!“ Aber
0080die Eifersucht frißt sie, und schnurstracks eilt sie dem nach
0081Teruel ziehenden Marsilla voraus, um ihn zu verderben.
0082Als Kreuzritter verkleidet, dringt Zulima zu der trauernden
0083Isabel und erzählt ihr, daß Marsilla treulos geworden und
0084als Geliebter der Sultanin hingerichtet worden sei. Isabel 
0085glaubt das Märchen und entschließt sich, dem Vater zuliebe,
0086zur Vermälung mit Don Rodrigo. Zulima aber entflieht
0087mit den nicht ganz deutlichen Worten: „Kein Leid soll ihr
0088ersparen, bis ganz ihr freudeleer!“ Marsilla ist zur fest-
0089gesetzten Frist in Teruel eingetroffen, wird aber unweit des
0090Schlosses von Zulima’s Leuten überfallen und an einen
0091Baum festgebunden. Zulima selbst meldet im Triumph
0092befriedigter Rache dem Gefesselten die soeben voll-
0093zogene Vermälung Isabel’s mit Don Rodrigo. Im
0094dritten Acte sehen wir Marsilla, den seine Freunde los-
0095gebunden haben, verstört in Isabel’s Gemach eindringen. Er
0096hat ihren Gemal getödtet und fleht nun um ihre Liebe. Sie
0097weist ihn zurück. „Schon sehe ich den Glanz des Himmels,
0098beschlossen ist mein Erdenweg!“ ruft der Verschmähte und
0099geht ab. Der vierte und letzte Act bringt nichts weiter, als
0100ein sehr ausführliches pomphaftes Begräbniß. Marsilla’s
0101Leiche wird in offenem Sarge niedergestellt, Isabel stürzt
0102sich wehklagend darüber und stirbt.


0103Als Bearbeitung eines in Spanien beliebten Dramas
0104mochte auch der Breton’sche Operntext seinen Landsleuten
0105willkommen sein. Uns erscheint er kindisch und uninteressant;
0106eine altmodische confuse Rittercomödie, voll unwahrscheinlicher
0107Situationen und schablonenhafter hohler Figuren. Die deutsche
0108Uebersetzung von Dr. Adler gehört zu der unheilvollen Classe
0109der wortgetreuen, welche, das Original gleichsam
0110mechanisch durchpausend, keine Rücksicht kennen für den musi-
0111kalischen Accent und den Geist der deutschen Sprache. Aus
0112den oben citirten Versen dürfte dem Leser das Berggrünliche
0113Colorit dieser Verdeutschung ohneweiters eingeleuchtet haben.
0114Director Jahn’s rettende Hand hat übrigens auch hier
0115muthig und erfolgreich eingegriffen, so weit es möglich war.
0116Eine „spanische Oper“ kann man die „Liebenden von
0117Teruel“ nur insofern nennen, als die Musik von einem
0118Spanier und auf spanische Worte componirt ist. Dem Styl
0119nach gehört sie zu den italienischen. Das Vorbild Breton’s [2]
0120ist Verdi, selbstverständlich der mit modernen deutschen
0121und französischen Elementen vermischte Verdi. Es hat uns
0122verwundert, daß Breton so wenig Vortheil zog aus dem
0123Schatze spanischer National-Melodien. Sind ihm darin doch
0124Nichtspanier, wie Weber in der „Preciosa“, C. Kreutzer 
0125im „Nachtlager“, Auber in der Balletmusik des ersten
0126Actes der „Stummen“, vor Allem Bizet in „Carmen“
0127mit außerordentlichem Glück vorangegangen. Nur zweimal
0128bringt Breton nationale Anklänge: in dem Liede „Meine
0129Lieb’ ist ohnegleichen“ (einer auch von Sarasate bearbeite-
0130ten Volksmelodie) — und flüchtig in dem Chor der
0131Odalisken. So vermissen wir denn an dieser spani-
0132schen Oper gerade dasjenige, worauf wir am meisten
0133begierig waren: den nationalen Charakter. Das ist sehr zu
0134bedauern. Herr Breton hätte als der erste nach Deutschland 
0135gedrungene spanische Componist wahrlich ein leichtes Spiel
0136gehabt, sobald er nur — selbst bei mäßigem Talent — in
0137seiner Oper den nationalen Charakter ausprägte und gleich-
0138sam das musikalische Sprachrohr seines Volkes wurde. So
0139aber verblieb er in den italienischen Banden, die ihn von
0140Kindheit auf umflochten. Damit wäre allerdings nicht sein
0141Urtheil gesprochen. Man kann auch italienisch sehr gute und
0142allerwärts wirksame Opern schreiben — wohlgemerkt, mit
0143neuen Ideen und neuen Formen in diesem Styl. Davon
0144haben jedoch die „Liebenden von Teruel“ wenig aufzuweisen.
0145Eine originelle schöpferische Kraft spricht nicht aus dem Werke.
0146Seine Melodien sind zwar nicht unedel, aber ebenso wenig
0147neu oder musikalisch bedeutend. Eine gewisse Leere und italie-
0148nische Gleichförmigkeit darin mag der Componist selbst empfunden
0149haben, denn er bemüht sich unausgesetzt, die Gesangspartien durch
0150eine sehr wechselvolle Orchesterbegleitung zu heben. Leider thut er
0151in diesem Punkte zu viel des Guten. Sein Orchester, in
0152fortwährender Arbeit und Aufregung, gönnt uns selten einen
0153Augenblick ruhigen Aufathmens. Breton’s Instrumentirung
0154ist theils zu massenhaft und lärmend, theils zu aufdringlich
0155in ihrem künstelnden Detail. Nichts lästiger, als wenn jedes
0156Motivchen einer Gesangsmelodie eine Imitation der Clarinette
0157oder Oboë nach sich schleppt, oder nach je acht Tacten die
0158Geigen ein sentimentales Unisono einmischen, gleichsam um
0159die Lücke zu verstopfen. Am aufdringlichsten erschienen uns
0160die fortwährenden Zwischenbemerkungen der Oboë und des
0161Fagotts. Und das rasende Harfengezirp und -Gezwitscher, 
0162womit die verkleidete Zulima sich bei Isabel einführt! Und
0163die von Oboë und Clarinette endlos wiederholte Triolenfigur
0164in Zulima’s an den „Prinzen von Arkadien“ anklingender
0165Erzählung! Die neuesten italienischen Maëstri, und Breton 
0166mit ihnen, wagen es nicht, den Gesang heute so ein-
0167fach zu begleiten, wie es Bellini, Donizetti und der
0168junge Verdi gethan; sie künsteln nun nachträglich im Orchester
0169herum und machen es lärmend anstatt reich, unruhig anstatt
0170interessant. Eine unbedeutende Melodie wird nicht besser
0171dadurch, daß man die Aufmerksamkeit des Hörers fort-
0172während von ihr ablenkt. Breton ist dürftig in der Haupt-
0173sache, verschwenderisch in den Nebendingen. Für einen modern
0174geschulten jungen Operncomponisten, der oben auf der Bühne
0175nicht viel auszugeben hat, ist es freilich verlockend, im
0176Orchester den Cavalier zu spielen. Die schmückenden Orchester-
0177figuren in „Don Juan“ oder „Fidelio“ sind gleichzeitig mit
0178der Melodie aufgesprossene Blumen; jene in den „Liebenden
0179von Teruel“ äußerlich wie auf einen Teppich aufgeheftet.


0180Herr Breton hat sich rasch in die Form und Ausdrucks-
0181weise der fünfactigen großen Oper eingearbeitet und hand-
0182habt mit Geschick ihre äußeren Mittel. Er schreibt gut und
0183wirksam für die Singstimmen, ein Vorzug der italienischen
0184Schule. Er bewegt sich fast immer in dem brausenden
0185Wogenschwall des „Dramatischen“ und gefällt sich in der
0186äußersten Spannung und Ueberspannung des leidenschaft-
0187lichen Ausdrucks. Trotzdem scheint mir Breton’s Talent
0188mehr im Umkreise des Lyrischen zu liegen. Einige Gesänge
0189sanfteren Charakters heben sich vortheilhaft aus dem Ganzen
0190heraus: das erste Duett der Liebenden, die Replik Marsilla’s
0191(F-dur) auf die Liebeswerbung der Zulima, der Anfang
0192des Monologs der Isabel („Ein Wahn in dunklem Triebe“),
0193vor Allem das F-dur-Andante („Den Liebsten kannst du
0194fragen“) in dem letzten Duett. Dieses Stück, das beste in
0195der Oper, ist von bedeutender und schöner Wirkung in
0196seinem ersten Theil; von dem „Agitato“ der zweiten
0197Hälfte an wird es ermüdend durch maßlose Häu-
0198fung übertreibender Phrasen. Herr Breton hat Empfindung,
0199Feuer und das redlichste Bemühen um den prägnanten
0200Ausdruck jedes Wortes, jeder Situation. Leider fehlt es ihm
0201meistens an neuen und originellen Ideen, um seine richtige
0202Empfindung auch musikalisch bedeutend und ergreifend zu
0203gestalten. Er zerstückelt den Zusammenhang, häuft die 
0204Contraste und grellen materiellen Effecte, so daß wir
0205ganze Strecken hindurch nur Farben zu sehen glauben ohne
0206Zeichnung. Nur selten und vorübergehend gerinnt ihm dieser
0207Farbentumult zu abgerundeten klaren Bildern. Wir wollen
0208aber auch in der Oper musikalisch erfüllt und gehoben werden,
0209nicht blos dramatisch durchgeschüttelt von dem Herzeleid
0210singender Figuren, die uns nicht sonderlich interessiren. Wie
0211die meisten jungen Componisten, ist auch Breton unersättlich
0212im Erguß seiner Empfindungen und geräth dadurch in
0213ermüdende Breite. Es gibt kaum Eine Nummer in
0214seiner Oper, die nicht bedeutende Kürzungen vertrüge
0215und verlangte. Trotz der von Director Jahn vor-
0216genommenen ausgiebigen Amputationen dauert die Oper
0217immer noch länger, als die Geduld des Hörers.
0218Der Componist ist sich dieses Uebelstandes wohl bewußt; er
0219klagt mir selbst in einem Briefe über die zu große Länge
0220seiner Oper. „Ich habe,“ schreibt Herr Breton, „Die
0221Liebenden von Teruel“ vor zehn Jahren componirt, nach
0222dem damals in Spanien herrschenden, von Meyerbeer be-
0223einflußten Geschmack. Meine im nächsten Frühjahre in
0224Barcelona zur Aufführung kommende neue Oper „Fra
0225Garin“ wird etwas mehr musikalisch und maßvoller in ihren
0226Dimensionen sein.“ Nach dieser uns vom Componisten er-
0227öffneten Aussicht konnte es nicht schaden, wenn man in Wien 
0228auf die neue Oper von Breton lieber gewartet hätte. Wahr-
0229scheinlich wird sie einen erfreulichen Fortschritt des jungen
0230Componisten bedeuten und sein inzwischen gereiftes Talent
0231in günstigerem Lichte zeigen.


0232Die Novität wurde sehr beifällig aufgenommen und hat
0233den Darstellern der beiden anstrengenden Hauptpartien —
0234Fräulein Schläger und Herrn Winkelmann — ver-
0235dienten Applaus und zahlreiche Hervorrufe eingetragen. Herr
0236Director Jahn leitete persönlich die von ihm mit aufopfern-
0237der Sorgfalt scenirte und einstudirte Oper. Wir wissen, daß
0238er ein genialer Dirigent ist und höchstens dem Einen Wunsche
0239Raum läßt: es möchte ihm das Was der Vorstellungen
0240nicht weniger am Herzen liegen, als das Wie. Nach drei
0241Novitäten vom Schlage der „Flüchtlinge“, des „Vasall von
0242Szigeth“ und der „Liebenden von Teruel“ hoffen wir recht
0243bald im Operntheater wieder ein Werk aufgeführt zu sehen,
0244das diese Auszeichnung nur seinem inneren Werth verdankt.