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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9775. Wien, Donnerstag, den 12. November 1891

[1]

Concerte.

(Gesellschaftsconcert. Rosenthal. Ilona Eibenschütz. Quartett Rosé.)


0003Ed. H. Händel’s „Alexanderfest“, das Sonntags den
0004Inhalt des ersten Gesellschaftsconcertes bildete, war zuletzt
0005im November 1873 unter Brahms’ Leitung gegeben wor-
0006den. Marie Wilt sang damals die Sopranpartie — in
0007einer Vollendung, die mir unvergeßlich, ja in allen Einzel-
0008heiten fest eingeprägt geblieben ist. Jede der Arien, die jetzt
0009aus anderem Munde erklangen, ließ mich an das schauer-
0010lich tragische Ende der großen Sängerin denken, und mit
0011diesem Gedanken belebte sich wieder die Erinnerung an ihren
0012Gesang im Jahre 1873. Sie hatte damals schon den Früh-
0013ling des Lebens ziemlich weit hinter sich; aber das war ja
0014so merkwürdig, daß ihre Stimme immer wunderbar jugend-
0015lich klang, den abseits horchenden Zuhörer auf ein blühen-
0016des Mädchen rathen ließ. Ein seltenes Vorkommniß, denn
0017regelmäßig hält Schönheit des Gesichts und der Figur, ins-
0018besondere von den Hilfsmitteln der Bühne unterstützt, länger
0019vor, als der Reiz der Stimme, für den es keine Schminke
0020gibt. In Paris konnten die Mars in der Tra-
0021gödie, die Déjazet im Lustspiele noch als bejahrte
0022Frauen jugendliche Rollen spielen, nur weil ihr
0023Organ seinen vollen Wohlklang beibehalten hatte.
0024Die Wilt bewahrte sich diesen jugendfrischen Klang viel
0025länger als die meisten bekannten Sängerinnen. An eine
0026Grenze jedoch mußte er naturgemäß doch gelangen, und diese
0027Grenze lag dicht jenseits ihres 50. Jahres. Da suchte die
0028Sängerin durch eine forcirte, schreiende Tongebung, welche
0029auch die Reinheit der Intonation gefährdete, sich und uns
0030zu täuschen über die Treulosigkeit ihres so lange treugeblie-
0031benen Organes. Aber wer ihr unbefangen zugehört hat in
0032der Salzburger „Don Juan“-Aufführung 1887 und in
0033Beethoven’s D-Messe 1889, der täuschte sich nicht mehr,
0034sondern gewahrte mit bitterem Weh die endliche Verwüstung
0035einer der herrlichsten Stimmen. Zu dieser seltenen Stimme
0036gesellte sich bei der Wilt eine sichere virtuose Technik und
0037ein durch und durch musikalischer, gediegener Vortrag. Das
0038sind die Grundbedingungen, die ersten und wichtigsten, wenn
0039auch nicht die einzigen, einer vollendeten Gesangsleistung.
0040Für die maßvollen Empfindungen, die klaren, starken Linien
0041der Oratorien-Musik werden diese Vorzüge in der Regel 
0042vollauf genügen und für sich allein Großes erreichen. Dem
0043Gesange der Wilt im Alexanderfest, in der Cäcilien-Ode, in
0044der Schöpfung, in Brahms’ „Deutschem Requiem“ wüßte ich
0045nichts Aehnliches an die Seite zu stellen — unvergessene und
0046unvergeßliche Kunstgenüsse. Auf der Bühne hat sie, gleichsam
0047als vollendet gespieltes musikalisches Instrument, das Ohr
0048entzückt; tiefer drang mir der Eindruck selten. Von der
0049dramatischen Sängerin war ich, offen gestanden, niemals be-
0050geistert. Sie hatte keine Spur von schauspielerischem Talent,
0051von schauspielerischer Bildung. Das Ungenügende ihrer
0052Bühnenleistung lag keineswegs, wie oft geglaubt wurde,
0053einzig und allein an der mangelnden Jugend und Schönheit,
0054so werthvoll, ja, unschätzbar diese Mitgift auch ist für Dar-
0055stellerinnen jugendlicher Rollen. Es gibt verschiedene Arten
0056von unschönem Aeußern: geistvolle Häßlichkeiten, dämonische,
0057gemüthliche. Wer erinnert sich nicht an eine und die andere
0058Sängerin (insbesondere aus Frankreich und Italien), deren
0059anfangs abstoßende, unregelmäßige Züge sich im Singen ver-
0060edelten, vergeistigten, ja, seltsam anziehend werden konnten?
0061Ein durch Geist oder tiefes Gemüth unmittelbar fesselndes
0062Seelenleben drängte sich hier durch die widerspenstigen Ge-
0063sichtszüge gleichsam an die Oberfläche, prägte jede Miene,
0064jede Bewegung und siegte über die ungefällige Form. Solche
0065Vergeistigung und Veredlung von Innen heraus habe ich bei
0066der Wilt kaum jemals wahrgenommen. Man brauche, so hieß
0067es oft, im Theater nur die Augen zu schließen, um von dem
0068unvergleichlichen dramatischen Vortrag der Wilt hingerissen
0069zu sein. War dies so? Nicht ganz. Nicht blos aus dem
0070Auge spricht die Seele eines Menschen, auch seine Stimme
0071ist solch ein Fenster: man erkennt bald, wer da heraussieht.
0072Aus dem Tone der Wilt quoll sicheres, starkes Gefühl, ruhige
0073Kraft, auch lodernde Leidenschaft, aber jenen Hauch feinerer
0074Bildung, der sich in der geistvollen Nuancirung eines Satzes,
0075eines Wortes verräth, kannte ihr Gesang ebensowenig, wie
0076den Blüthenduft allerzartester Empfindung. Die eigenste
0077Natur dieser Frau, wie wir Alle sie im Leben gekannt, ver-
0078sagte auch auf der Bühne das Poetische. Selbst in dem
0079hellblinkenden Metall ihrer Stimme lag etwas, das an den
0080Glanz des sonnenbeschienenen Eises mahnte. Daß die Wilt 
0081ihr mächtiges Organ für den Coloraturgesang ebenso geschult
0082hatte, wie für den breiten, pathetischen Vortrag, und im
0083Stande war, in den „Hugenotten“ nach Belieben die Valen-
0084tine oder die Königin zu singen, das allein würde sie zu
0085einer seltenen Erscheinung in der Theatergeschichte stempeln.
0086Diese Vorzüge der Wilt, von keiner ihrer Colleginnen er-
0087reicht, waren eminent musikalische und nur musikalische.
0088Darum wirkten sie am reinsten und stärksten im Concert-
0089saale, vor Allem im Oratorium, wo die Sängerin gleichsam
0090unpersönlich auftritt, nicht als ein Charakter, sondern lediglich
0091als eine Stimme. Darum mußte die jüngste Aufführung des
0092Alexanderfestes“ in uns die Erinnerung an die unglückliche
0093große Sängerin so stark und lebhaft erwecken. Wenden wir
0094uns nun zu unserem Concert zurück.


0095Das Alexanderfest oder die Macht der Tonkunst“ ge-
0096hört überall, wo Musik gemacht wird, zu den beliebtesten
0097Werken von Händel. Die farbenreiche Mannigfalt der darin
0098wechselnden Stimmungen und die Beihilfe der Mozart-
0099schen Bearbeitung haben das Werk in Deutschland frühzeitig
0100populär gemacht. Das Publicum liebt es, die Macht der
0101Tonkunst durch diese selbst gepriesen und illustrirt zu sehen,
0102was immerhin, selbst für große Meister, ein gewagtes Unter-
0103nehmen bleibt. In langem Zeitverlauf wechselt der musika-
0104lische Geschmack; die „Wirkungen der Musik“ oder genauer:
0105der bestimmte psychologische Eindruck eines Musikstückes auf
0106uns, äußert sich heute vielfach anders, als vor 150 Jahren.
0107Die Componisten unseres Jahrhunderts besitzen nicht mehr
0108die naive, gesunde Kraft, den einfachen starken Linienzug
0109Händel’s; aber in der Schattirung der Seelenzustände, in
0110der Stimmungsmalerei, kurz in ihrem psychologischen Theil
0111ist die Musik seit Mozart, Beethoven und Weber bezeichnender,
0112feiner, lebendiger geworden. Klingt die steife Sopran-Arie
0113in B-dur, „Der Held von süßem Liebesleid berückt“, uns
0114Kindern des neunzehnten Jahrhunderts wirklich noch wie
0115ein „Wonnerausch trunkener Lust“? Finden wir heute den
0116Chor „Es jauchzen die Krieger“ nicht unbegreiflich zahm
0117für eine Horde berauschter Brandleger? Und die A-dur-
0118Arie, welche schildert, wie Thaïs unter dem „wilden Hohn
0119der jauchzenden Krieger“ mit der Brandfackel voranstürzt
0120— kann Jemand, der den Text nicht kennt, in dieser Musik
0121etwas Anderes hören, als einen graziösen Menuett? Das
0122Alexanderfest bewegt sich nicht blos in den Formen einer
0123weit hinter uns liegenden Zeit, auch der nationale Geschmack
0124der Engländer scheint stärker als in den übrigen Oratorien
0125Händel’s auf diese Musik abgefärbt zu haben, theilweise
0126schon durch die Wahl des Gedichtes. Dryden baut seine
0127Cantate auf die von den Verehrern der altgriechischen Musik
0128unter deren „Wunderwirkungen“ registrirte Anekdote, daß
0129der Sänger und Flötenspieler Timotheus durch eine von
0130ihm gespielte Weise Alexander den Großen zu kriegerischer
0131Wuth aufreizte und durch eine zweite Melodie wieder be[2]-
0132sänftige. Das wäre für ein Oratorium allerdings ein bedenk-
0133lich magerer Stoff gewesen. Dryden brachte deßhalb die
0134Timotheus-Anekdote mit einer zweiten in Verbindung, mit
0135dem von einer athenischen Buhlerin Namens Thaïs,
0136angestifteten Brand von Persepolis. Dieser Dame fiel
0137es nämlich nach einem Trinkgelage im Königspalast
0138des eroberten Persepolis ein, daß die Perser bei
0139ihrem Einbruch in Griechenland Athen eingeäschert haben.
0140Sie ergriff, „um ihre Vaterstadt zu rächen“, eine
0141Fackel, stürmte den weinberauschten Soldaten Alexander’s
0142voran, und Persepolis stand in Flammen. Dryden suchte
0143diese Thaïs möglichst zu veredeln, er nennt sie „wie Hebe
0144jung, wie Hebe schön“ und weist ihr den Platz neben
0145Alexander an. Die Beiden, als „seliges Paar“ gepriesen,
0146lauschen den Vorträgen des berühmten thebanischen Ton-
0147künstlers Timotheus, der nun die unwiderstehliche Gewalt
0148der Musik über die Gemüther der Zuhörenden erprobt. Aus-
0149gehend von der Freude über den Anblick des königlichen
0150Paares, übergeht er zu einer Huldigung für Alexander und
0151schildert hierauf den Jubel einer Bacchusfeier. Plötzlich über-
0152springt er zu Tönen der Trauer, das jammervolle Ende des
0153besiegten Feindes Darius beklagend. Seine Gesänge haben
0154ganz die gewünschte Wirkung: nach dem Brautlied sinkt
0155Alexander liebestrunken an die Brust der Thaïs; die Klage
0156um Darius entlockt den Hörern Thränen des Mitleids;
0157nach dem Rachegesang stürzen die Krieger mit Brandfackeln
0158hinaus. Bis hieher hat das Oratorium eine Art dramati-
0159schen Fortgangs und einen geschichtlichen Rahmen, nämlich
0160das Leben Alexander’s des Großen. Jetzt aber tritt der Dichter
0161zu unserer Ueberraschung persönlich hervor und erklärt, was
0162wir bisher als wirklichen Vorgang mit angeschaut, für eine
0163Phantasmagorie, ein gelehrtes Citat: „So stimmte einst,
0164eh’ noch erscholl der heilige Sang, die Orgel noch
0165erklang, der Grieche seiner Flöte Ton“ — und
0166dann: „Vom Himmel kam Cäcilia.“ Wie erklären wir
0167uns diesen unvermittelten Sprung aus dem griechischen
0168Alterthum zur christlichen Kirchenmusik, von Timotheus zur
0169heiligen Cäcilia? Nur aus dem äußerlichen Umstand, daß
0170Dryden’s Ode für ein Cäcilienfest bestimmt war, das die
0171Londoner Tonkünstler alljährlich am 22. November zu feiern
0172pflegten. Für diesen Zweck hat Händel’s großer Vorgänger
0173Purcell seine werthvollsten Compositionen verfaßt und Dryden 
0174sein Alexanderfest und die sogenannte kleinere Cäcilien-Ode 
0175gedichtet. Der heiligen Cäcilia zu Ehren wird also die christ-
0176liche Musik der alten gegenüber-, aber doch nicht schlechtweg 
0177darübergestellt, denn der Dichter theilt schließlich den Kranz
0178zwischen Beide. Dryden’s Ode genießt in England die höchste
0179Verehrung, und der Dichter selbst war nicht wenig stolz
0180darauf. Als eines Tages ein Poet ihm Complimente darüber
0181machte, antwortete Dryden „Ja, junger Mensch, sie hat
0182auch nicht ihres Gleichen!“ Wir hegen für das Gedicht eine
0183mäßigere Begeisterung und sind jedenfalls der Meinung, daß
0184die Musik das Beste dazu thun mußte. Die Frische, Mannig-
0185faltigkeit und anschauliche Kraft der Händel’schen Compo-
0186sition erhält das Werk lebendig. Händel’s größten biblischen
0187Oratorien möchten wir trotzdem das Alexanderfest nicht gleich-
0188stellen; es zeigt an manchen Stellen eine schwächere Er-
0189findungskraft. Die Arien gehören überwiegend zu jenen bei
0190Händel zahlreichen, von denen man nur das Thema im
0191Gedächtniß behält; alles Weitere ist gleichsam ein neben-
0192sächliches, selbstverständliches Sichfortsetzen und Abrollen des
0193im Thema gegebenen Musikstoffes, nicht lebendige Ent-
0194wicklung durch neue Gegensätze und Steigerungen. Prachtvoll
0195sind die meisten Chöre im Alexanderfest; sie wachsen aus
0196den vorhergehenden Arien effectvoll heraus, deren Inhalt
0197mächtig verstärkend und ausbreitend.


0198Die gelungene Aufführung des schwierigen Werkes hat
0199den Sängern wie dem Dirigenten Herrn Gericke ver-
0200dienten Beifall eingetragen. Unter den Solisten glänzten
0201insbesondere der Bariton Herr Eugen Hildach; er erwies
0202sich in dem Vortrage der ungemein schwierigen Rache-Arie
0203als ein Meister seiner Kunst. Minder gut disponirt war
0204diesmal seine Gattin; sie imponirt durch bedeutende Technik
0205und große Sicherheit, allein der scharfe spitze Glaston ihrer
0206höheren Töne, wie die geringe Wärme des Ausdruckes stehen
0207einer vollen und starken Wirkung ihres Gesanges im Wege.
0208Mit einer kleinen, gutgeschulten Stimme sang Herr
0209Litzinger aus Düsseldorf die Tenorpartie. Musterhaft
0210hielten sich die Herren und Damen vom „Wiener Sing-
0211verein“; das präcise Einsetzen und die feine Schattirung in
0212dem Schlußchor „Ein heller Jubelschrei“ ist uns ganz be-
0213sonders aufgefallen.


0214Die Virtuosen-Concerte haben auch bereits begonnen;
0215wie sich fast von selbst versteht, auf dem Clavier. Herr
0216Moriz Rosenthal, der Tausendkünstler und Hexenmeister
0217unter den Pianisten, ist den Wienern wohlbekannt; Fräulein
0218Ilona Eibenschütz war es einstens. Denn heute ist sie
0219nicht mehr das kleine „Wunderkind“ in kurzem Röckchen,
0220sondern ein wirkliches Fräulein und fertige Virtuosin. Sie
0221hat die letzten vier bis fünf Jahre ausschließlich dem Stu-
0222dium bei Frau Schumann in Frankfurt gewidmet. Diese
0223lange Pause, welche sich Fräulein Eibenschütz in ihrem öffent-
0224lichen Auftreten dictirte — ein Vorbild für alle Wunder-
0225kinder! — und die liebevolle Führung einer Meisterin wie
0226Clara Schumann mußten gute Früchte tragen. Leiblich ist
0227die „kleine Ilona“ nicht sonderlich gewachsen seit ihren letzten
0228Wiener Concerten, umsomehr überraschte die Energie, mit
0229welcher das zart gebaute Mädchen gleich das einleitende
0230Maëstoso der Beethoven’schen C-moll-Sonate (op. 111)
0231packte. Die Orgelfuge von Bach, Schumann’s symphonische
0232Variationen, das H-moll-Capriccio von Brahms und die
0233Liszt’sche „Campanella“ — Stücke, die, jedes in anderer
0234Weise, zu den schwierigsten Aufgaben zählen — bewältigte
0235Fräulein Eibenschütz mit ausdauernder Kraft und einer allen
0236Schwierigkeiten gewachsenen Technik. Nur vor allzu häufigem
0237Pedalgebrauch möchten wir sie warnen. So individuelle und
0238geistig schwer zugängliche Tondichtungen, wie die letzten
0239Sonaten von Beethoven, verlangen überdies noch größere
0240Freiheit und Innigkeit des Vortrages. Hier wird hoffentlich
0241die weitere seelische Entwicklung der jungen Künstlerin das
0242noch Fehlende herbeiführen.


0243Das Quartett Rosé, dessen Programm heuer durch
0244eine große Zahl interessanter Novitäten anlockt, hat seine
0245Productionen mit einem Streichquartett von Alexander
0246Borodin eröffnet. (So heißt der Name, dem auf fran-
0247zösischen Titelblättern, der Aussprache wegen, ein stummes
0248e angehängt wird.) Es ist das, unseres Wissens, die erste
0249Composition, durch welche dieser kürzlich verstorbene russische
0250Tondichter in Wien bekannt wird; nicht einmal Rubinstein 
0251hat ihn in das Programm seines monströsen russischen
0252Clavier-Abends aufgenommen. Wie so viele seiner componi-
0253renden Landsleute, die erst spät und auf Umwegen zur
0254Musik gelangt sind, ist Borodin eigentlich Dilettant. In
0255Petersburg 1834 geboren, studirte er Medicin, wurde Militär-
0256Arzt, dann Professor an der medicinisch chirurgischen Aka-
0257demie, endlich kaiserlicher Staatsrath. Von Balakirew 
0258angeregt, pflegte er neben seiner wissenschaftlichen Thätigkeit
0259die Musik. Er hat mehrere Kammermusikstücke, zwei Sym-
0260phonien, eine symphonische Dichtung („Mittel-Asien“) und
0261eine Oper, „Fürst Igor“, componirt. Neuen russischen Com-
0262positionen gehen wir stets mit einiger Besorgniß entgegen.
0263Werden wir da nicht an unvermutheter Stelle von zähne-
0264fletschenden Wölfen angefallen, oder wenigstens in einen
0265Rundtanz betrunkener Bauern eingeteilt werden? Blasirte
0266Wildheit, sibirischer Liszt, Dynamit-Patronen unter dem Eise, [3]
0267das sind ja die Lieblingselemente des musikalischen jungen
0268Rußland. Nichts von alledem in dem D-dur-Quartett 
0269von Borodin. Dieser Russe hat sich unsere classischen
0270Meister zum Vorbild genommen; er schreibt in übersicht-
0271licher Form, klar und einheitlich, mit Vorliebe und Geschick
0272für contrapunktische Ausführungen. Die Themen sind nicht
0273von hervorragender Originalität, wachsen aber an Interesse
0274im Verlauf der gewandten, stellenweise geistreichen Durch-
0275führung, die nur in allzu häufiger Wiederholung derselben
0276kleinen Motive etwas zu weit geht. Das erste Allegro, echt
0277quartettmäßig geschrieben, scheint mir der beste Satz; er hält
0278sich im Tone ungefähr an den früheren Beethoven, mit
0279einigen Spohr’schen Mondstrahlen am Ende. Das Scherzo,
0280eine Art perpetuum mobile in Dreivierteltact, und das
0281Notturno mit der sanft klagenden Melodie im Violoncell
0282machen ebenfalls einen günstigen Eindruck. Schade, daß das
0283Finale abfällt — eine bedauerliche Eigenheit so vieler rus-
0284sischer Compositionen — es ist der einzige von den 4 Sätzen,
0285in welchem der Componist durch unmotivirte Unterbrechungen
0286zu vertuschen sucht, daß ihm der Faden ausgegangen ist.
0287Ein verständiger, ernster, auch liebenswürdiger Zug geht durch
0288Borodin’s Quartett, das wir anziehend finden, ohne es
0289genial nennen zu können. Die Novität, brillant gespielt,
0290fand lebhaften Beifall. Eine erfreuliche Ueberraschung be-
0291reitete uns Herr Ignaz Brüll mit dem Vortrag von
0292Brahms’ jugendlicher Sonate in F-moll (op. 5).
0293Dieselbe wird äußerst selten gespielt; aus guten
0294Gründen, denn sie ist nicht blos technisch sehr mühsam zu
0295bewältigen, sondern noch schwerer im Geiste des Componisten
0296überzeugend darzustellen. Brüll zeigte sich dieser Doppel-
0297aufgabe meisterhaft gewachsen. Nur ein Künstler, der, ver-
0298traut mit jeder Faser der seltsamen Tondichtung, sie voll-
0299ständig in sich aufgenommen hat, vermag dieses leidenschaftlich
0300zerklüftete Allegro, dieses wehmüthig vor sich hinträumende
0301Andante so wiederzugeben. Brüll spielte die Sonate mit der
0302Unmittelbarkeit einer freien Phantasie, fast wie ein eigenes
0303Erlebniß. Er gehört nicht zu jenen Concertspielern, die vor
0304dem Publicum ihren Vortrag eigens schminken, etwa wie die
0305Leute, die beim Photographiren ein verschärft geistreiches oder
0306liebliches Gesicht machen. Ein großer Virtuose, suchte er doch
0307in keinem Tact zeigen zu wollen, daß er es ist. Tondichtungen
0308wie die Brahms’sche Sonate spielt er anscheinend nur zu
0309seiner eigensten Befriedigung, wie auf einer weltvergessenen
0310Insel, wo weit und breit kein Mensch zuhört.