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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9805. Wien, Samstag, den 12. December 1891

[1]

Ein Buch von Rubinstein


0002Ed. H.*)  Begierig sehen wir alle Musikfreunde auf ein
0005Buch losstürzen, in welchem Anton Rubinstein seine An-
0006sichten über Musik und Musiker, von Bach bis auf Wagner 
0007entwickelt. Sie werden, um das gleich herauszusagen, ihre
0008Neugierde nicht zu bereuen haben. Ein seit fünfzig Jahren
0009ruhmvoll thätiger Meister, der über dem Beifall des Tages
0010nicht vergessen hat, über seine Kunst und deren Wandlungen
0011ernsthaft nachzusinnen, kann im Alter uns kaum ein besseres
0012Geschenk machen, als mit der Niederschrift seiner Ansichten und
0013Erfahrungen. Wie umfassend Rubinstein die gesammte Clavier-
0014Literatur beherrscht, weiß man aus seinen Concertprogrammen;
0015außerdem hat er als schaffender Künstler fast alle Gattungen
0016Musik selbst cultivirt, von der Oper und dem Oratorium
0017bis zur Etude und dem einfachen Lied. Viel gereist und
0018überall zu Hause, konnte er die Musik und das Musiktreiben
0019aller Nationen an Ort und Stelle studiren. Mit alledem
0020wäre uns noch wenig gedient, wenn der Autor, nach allen
0021Seiten Rücksicht übend, seine Urtheile gewunden und diplo-
0022matisch verhüllt aussprechen würde. Die schmucklose voll-
0023kommene Aufrichtigkeit ist aber ein Hauptverdienst des
0024Rubinstein’schen Buches. Rubinstein gilt für einen offenen,
0025bis zur Schroffheit aufrichtigen Charakter. Die ihn
0026vergötternde Damenwelt behauptet freilich, daß er
0027außerordentlich liebenswürdig sei — ich selbst habe
0028nie etwas davon gemerkt — finden doch die Frauen an
0029einem berühmten Künstler selbst die Grobheit liebenswürdig.
0030In einer autobiographischen Skizze sagt er von sich selbst:
0031„Ich bin ein aufbrausender und dazu rauher Charakter;
0032weil ich meine Sache heiß liebe, nehme ich Alles sehr zu
0033Herzen.“ Das prägt sich auch in seinem Buche aus und ge-
0034deiht ihm zum Vortheil. Rubinstein zeigt sich darin weder
0035eitel noch boshaft, denn von sich selbst spricht er mit keiner
0036Sylbe und von anderen lebenden Componisten ebensowenig. 
0037„De vivis nil nisi bene,“ bemerkt er, und da ihm die
0038Lebenden nicht sonderlich sympathisch sind, so schweigt er sich
0039über dieselben gründlich aus. Auf Eleganz des Styles legt
0040er wenig Werth, aber in seinen nachlässigsten Sätzen findet
0041man werthvolle Gedankenkörner. Rubinstein tritt heute nicht
0042zum erstenmal als Schriftsteller auf; er hat hin und wieder
0043für eine ihn lebhaft interessirende Frage zur Feder gegriffen,
0044in Journal-Artikeln über „die Geistliche Oper“, über
0045Russische Componisten“, über „die Herausgabe der musika-
0046lischen Classiker“. Zum erstenmal erscheint er aber jetzt mit
0047einem Buche von weitausgreifendem Inhalt. Er hat es selbst
0048in russischer und in deutscher Sprache geschrieben; gleich-
0049zeitig erscheint es in französischer und englischer Uebersetzung.
0050Die ersten Abschnitte waren schon im Sommer 1890 in
0051Badenweiler beendet, die letzten kamen ein Jahr später in
0052Petersburg hinzu. Man sollte eher glauben, das Buch sei
0053in Einem Zuge niedergeschrieben oder vielmehr dictirt; es
0054klingt wie gesprochen. Ohne Unterabtheilungen, ohne Pausen
0055fließt es ununterbrochen fort wie eine Improvisation.


0056Rubinstein nennt seine Schrift „eine Unterredung“, und
0057das ist sie auch. Sie nimmt ihren Ausgang von dem Besuche
0058einer Dame, die in Rubinstein’s Musikzimmer die Büsten
0059von Bach, Beethoven, Schubert, Chopin und
0060Glinka erblickt. „Warum blos diese,“ fragt sie, „ver-
0061ehren Sie denn Mozart nicht?“ Rubinstein antwortet:
0062Himalaya und Chimborasso sind die höchsten Spitzen der
0063Erde, damit ist nicht gesagt, daß der Montblanc ein kleiner
0064Berg sei.“ Ihm gilt überhaupt die Oper, die ja Mozart’s
0065Hauptfach gewesen, als eine untergeordnete Gattung. Nie sei
0066in einer Oper eine Tragik erklungen oder könne erklingen,
0067wie eine solche in den schönsten Adagios von Beethoven er-
0068klingt, kein Requiem (auch das Mozart’sche nicht) mache einen
0069so erschütternden Eindruck, wie der zweite Satz aus Beethoven’s
0070Eroica. Die menschliche Stimme stellt der Melodie Grenzen,
0071was die Instrumentalmusik nicht thut und was die mensch-
0072lichen Seelenstimmungen, sei es Freude oder Trauer, auch
0073nicht zulassen. Die stärksten Gefühle sind wortlos. Von den
0074Componisten, die blos Gesangmusik schreiben, also bestimmte
0075Texte in Musik setzen, sagt Rubinstein witzig: „Sie kommen 
0076mir vor wie Leute, die blos das Recht haben, ihnen gestellte
0077Fragen zu beantworten, nicht aber selbst zu fragen oder sich
0078zu äußern, sich auszusprechen.“ Die Symphonie steht höher
0079als die Oper; das Publicum freilich zieht letztere vor, weil
0080es sie leichter versteht, aber die Instrumentalmusik ist die
0081Seele der Musik. Auch sie ist eine Sprache; der Vor-
0082tragende hat ihre Hieroglyphen zu entziffern. Rubinstein 
0083erklärt seinen Satz durch einige Beispiele aus Beethoven und
0084Chopin, was die Dame zu der Frage veranlaßt, ob er denn
0085Anhänger der Programm-Musik sei? „Nicht ganz,“ ant-
0086wortet er; „ich bin für das zu errathende und hinein-
0087zudichtende, nicht für das gegebene Programm bei einem
0088Musikstück.“ Es sind, meines Erachtens, durchaus gesunde
0089und richtige Ansichten, die Rubinstein hier, wenn auch in
0090aphoristischer Form, ausspricht.


0091Rubinstein beschreibt nun in großen Zügen die Ent-
0092wicklung der Musik. Interessant ist die von ihm vorgenom-
0093mene Periodisirung. Er nennt die Zeit bis zur zweiten
0094Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts für die Musik als
0095Kunst eine prähistorische Zeit und erkennt auch die
0096niederländische Epoche nur als eine „wissenschaftliche Epoche“.
0097Palestrina’s Kirchen-Compositionen sind die ersten Kunst-
0098werke, solche nämlich, in welchen das Wissenschaftliche auf-
0099hört, allein maßgebend zu sein, und sich eine Seelenstim-
0100mung zu erkennen gibt. Aber erst durch Bach und Hän-
0101del
gewinnt die Musik ihren ebenbürtigen Rang unter den
0102Künsten. In ihnen erscheint die Musik auf einmal in einer
0103Pracht, einer Vollendung, die dem „Es werde Licht!“ gleich-
0104kommt. Von Beiden steht ihm Bach ungleich höher, weil
0105ernster, gemüthvoller, tiefer, erfinderischer — aber die Er-
0106gänzung der Musikkunst in damaliger Zeit ist durch Ver-
0107einigung beider Namen bedingt. Rubinstein charakterisirt
0108sie mit dem Wort: Bach ist ein Dom, Händel ein
0109Königsschloß. In ihnen erblickt er den Culminationspunkt
0110jener ersten Epoche der Musikkunst, die mit Palestrina be-
0111ginnt und die „Orgel- und Vocal-Epoche“ heißen kann. Für
0112Rubinstein ist die Musik schlechthin eine deutsche Kunst,
0113da er nur in der sich immer mehr und mehr entwickelnden
0114Instrumentalmusik, die nur in Deutschland gedieh, [2]
0115den eigentlichen Fortschritt der Musikkunst erblickt. Der
0116Vater der zweiten (instrumentalen) Epoche ist Ph. Ema-
0117nuel Bach
. An Genialität seinem Vater nicht ebenbürtig,
0118war er hingegen der Repräsentant einer neuen Zeit, neuer
0119Anschauungen in der Kunst. Treffend ist hier die Bemer-
0120kung: „Es ist überhaupt irrthümlich, in der Musik zu sagen,
0121der hätte die Oper, der die Symphonie, der das Streich-
0122quartett u. s. w. geschaffen. Alles ist durch sehr Viele und
0123erst nach und nach entstanden, immer aber kam dann Einer,
0124der das Schönste in der Gattung geboten hat und somit der
0125Namensträger dieser Gattung wurde.“ Ph. Em. Bach bildet
0126die Brücke zwischen Sebastian Bach und Haydn — und
0127zwar zieht somit die Musik von Norddeutschland nach Wien.
0128Haydn sei eine bedeutende Persönlichkeit in der Kunst, aber
0129dabei immer nur der liebenswürdige, lächelnde (mitunter
0130sarkastisch), zufriedene, sorglose alte Herr. So wie Haydn 
0131als der alte Haydn Typus ist, so kann Mozart als
0132der junge Mozart Typus genannt werden. Rubin-
0133stein spricht mit Enthusiasmus von ihm. Mit Recht nennt
0134er Gluck im Vergleiche zu Mozart „steinern“.


0135Die Dame kann nicht begreifen, wie Rubinstein, bei so
0136überschwänglicher Bewunderung Mozart’s, einem Andern
0137als ihm die Palme reichen könne? Die Antwort ist schlagend:
0138„Die Menschheit lechzt nach einem Gewitter — sie fühlt,
0139daß sie austrocknen kann bei dem ewigen Sonnenschein des
0140Haydn-Mozartthums — sie verlangt sich ernst zu äußern,
0141sie sehnt sich nach Handlung, sie wird dramatisch — es er-
0142dröhnt die französische Revolution — Beethoven er-
0143scheint!“ Für Rubinstein ist „Fidelio“ die schönste bis heute
0144existirende Oper, „weil sie das wahre Musikdrama in
0145jeder Beziehung ist, weil bei aller Wahrheit der musikali-
0146schen Charakteristik immer schönste Melodik erklingt, weil bei
0147allem Interesse des Orchesters dieses immer die Personen
0148auf der Bühne sprechen läßt, weil jeder Ton darin aus dem
0149Tiefsten und Wahrsten der Seele“ kommt. Hingegen zählt
0150er die „Missa solemnis“ nicht zu Beethoven’s größten
0151Schöpfungen, weil wir in der ganzen Composition einen
0152Menschen hören, der mit Gott spricht, mit Gott rechtet, 
0153nicht aber zu ihm betet. Ob denn mit Beethoven 
0154Anfang und Ende in der Musik ausgesprochen sei? Nicht
0155ganz, meint Rubinstein. „Beethoven hat uns in seinem
0156Fluge zu den Sternen mit hinaufgenommen, von unten
0157aber ertönt ein Gesang: „Kommt doch herunter, auf der
0158Erde ist es ja auch so schön!“ Diesen Gesang singt
0159uns Schubert!“ Wie hübsch ist das empfunden und ge-
0160sagt! Rubinstein sieht in Beethoven den Culminations-
0161punkt der zweiten Epoche der Musikkunst und in Schu-
0162bert
den Vater der dritten (lyrisch-romantischen) Epoche.
0163Ueber Rubinstein’s Behauptung, Schubert sei ganz und gar
0164nicht von Beethoven beeinflußt in seinem musikalischen
0165Schaffen, ließe sich streiten (auch über manchen anderen
0166Punkt) — allein wir haben es in dieser Anzeige nicht auf
0167Polemik abgesehen. Mit vollem Rechte rühmt er von Schu-
0168bert: dieser erst habe das Stimmungslied geschaffen,
0169welches vom Herzen kommt und zum Herzen dringt, und
0170Keiner habe seither an ihn hinangereicht. Auf den Einwurf,
0171Schubert habe sehr wenig gefeilt an seinen Werken, hat
0172Rubenstein die reizende Antwort: „Gott hat das Weib ge-
0173schaffen, gewiß das Schönste in der Schöpfung, aber
0174voller Fehler
— er hat nicht gefeilt an ihr, in der
0175Ueberzeugung, daß sie alles Fehlerhafte an sich durch ihren
0176Reiz aufwiegen wird — so Schubert in seinen Compo-
0177sitionen; seine Melodik wiegt alle Mängel auf, wenn deren
0178wirklich vorhanden sind.“ „Nein und noch tausendmal,“ so
0179schließt dieser Absatz, „Bach, Beethoven und Schubert sind
0180die höchsten Spitzen der Musik!“


0181Es folgt nun in Rubinstein’s „Unterredung“ eine Art
0182Intermezzo — über die Oper in Italien, Frankreich und
0183Deutschland — das weniger Interessantes bringt. Auf
0184Mendelssohn übergehend, sagt Rubinstein: „Ich möchte
0185sein Schaffen als den „Schwanengesang der Classicität“ be-
0186zeichnen. Mendelssohn’s Musik hat freilich keine Thränen,
0187keine Seelenstürme, keine Bitterkeit — aber er steht hoch in
0188meiner Meinung, weil er Schönes, Vollendetes in Hülle
0189und Fülle geschaffen und weil er die Instrumentalmusik vom
0190Untergang gerettet hat.“ Schumann ist inniger, wärmer, 
0191seelischer, als Mendelsohn; sein Clavierconcert in A-moll
0192 ist ebenso ein Unicum, wie das Mendelssohn’sche Violin-
0193concert. Aber „der Claviergeist, die Clavierseele ist
0194Chopin“. Dieser ist der letzte Vertreter der dritten 
0195(lyrisch-romantischen) Epoche, die mit Schubert beginnt und
0196zu Weber, Mendelssohn, Schumann fortschritt. Bemer-
0197kenswerth ist, daß Rubinstein die Componisten Raff, Gade,
0198Brahms, Bruch und Goldmark nicht zu der vierten
0199(Liszt-Wagner’schen) Epoche zählt, sondern zur dritten
0200(Schumann-Chopin’schen), „erstens des Charakters ihres
0201Schaffens halber, zweitens ihrer musikalischen Erziehung
0202halber“. Uebergehen wir Rubinstein’s Aeußerungen über den
0203ihm besonders theuren Landsmann Glinka, der gewiß zu
0204den originellsten Talenten, aber, wie ich glaube, nicht zu
0205großen Meistern zählt. Wichtiger ist uns, was Rubinstein 
0206von den Trägern der neuen Aera, der vierten Epoche der
0207Musikkunst, sagt: Berlioz, Wagner und Liszt. Von
0208allen Dreien sei Berlioz der Interessanteste, schon der
0209Zeit wegen, in welcher er erschien (in den Dreißiger-Jahren),
0210und weil er nicht Neuerer geworden ist, sondern gleich
0211anfangs als solcher auftrat, „Blendend colorirt, effectvoll,
0212interessant ist Alles von ihm, aber Alles reflectirt, klügelnd,
0213weder schön noch groß, weder tief noch hoch — und spielen
0214Sie irgend eine Composition von ihm auf dem Clavier,
0215sogar vierhändig (also tonreich), das heißt nehmen Sie ihr
0216das Colorit der Instrumentation, und es bleibt — nichts;
0217aber spielen Sie die Neunte Symphonie von Beethoven auf
0218dem Clavier, sogar zweihändig (also tonarm), und Sie werden
0219überwältigt sein durch Gedankengröße und seelischen Ausdruck!“
0220Neben Berlioz sei Wagner „auch höchst interessant, sehr
0221werthvoll, aber schön oder groß, tief oder hoch in specifisch
0222musikalischer Beziehung nicht“. Höchst unsympathisch sind
0223Rubinstein Wagner’s Kunstprincipien, die er in Folgendem
0224kurz charakterisirt: „Er (Wagner) spricht von einer Ge-
0225sammtkunst
(Vereinigung aller Künste für die Oper);
0226ich finde, daß man dadurch keiner von ihnen ganz gerecht
0227werden kann. Er befürwortet die Sage (das Uebernatür-
0228liche) als Stoff zu Operntexten; meines Erachtens ist die [3]
0229Sage immer eine kalte Aeußerung der Kunst — es mag
0230ein interessantes, auch poetisches Schaustück sein, aber nie
0231ein Drama, denn mit übernatürlichen Wesen können wir
0232nicht mitfühlen. Das Leitmotiv für gewisse Persönlich-
0233keiten oder Situationen ist ein so naives Verfahren, daß es
0234eher ins Komische führt, als ernsten Sinn beanspruchen
0235kann. Das Ausschließen der Arien und Ensembles in
0236einer Oper ist psychologisch nicht richtig; die Arie in der
0237Oper ist dasselbe, was der Monolog im Drama — die
0238Seelenstimmung einer Person vor oder nach gewissen Be-
0239gebenheiten, so auch das Ensemble die Seelenstimmung
0240mehrerer Personen; wie kann das ausgeschlossen werden?
0241Ein Liebesduett, wo kein Moment der gleichen Beseligung
0242(Zusammensingen) vorkommt, kann nicht ganz wahr sein.
0243Das Orchester in seinen Opern ist des Guten zu viel,
0244es vermindert das Interesse für den gesanglichen Theil;
0245und obwol es, seinen Intentionen nach, das aus-
0246drücken soll, was im Innern der handelnden Personen
0247vorgeht, da sie es ja selbst nicht aussprechen, so ist
0248eben diese ihm zugetheilte Wichtigkeit vom Uebel, denn sie
0249macht das Singen auf der Bühne beinahe entbehrlich; oft
0250möchte man sich sein Schweigen ausbitten, um die auf der
0251Bühne anzuhören. Es gibt wol schwerlich ein interessanteres
0252Orchester in einer Oper, als das im „Fidelio“, aber da
0253empfindet man keinen Augenblick dieses Bedürfniß. — Das
0254Unsichtbarmachen des Decorationswechsels durch auf-
0255steigenden Dampf ist geradezu unausstehlich. Das unsicht-
0256bare Orchester
ist eine hyperideale Anforderung, die für
0257keine anderen Opern, ja selbst nicht für die seinigen, stich-
0258hältig ist. Schon der dumpfe Klang des Orchesters bei dieser
0259Neuerung macht sie nicht wünschenswerth. Das Sehen des
0260Capellmeisters oder der Orchester-Musiker ist durchaus nicht
0261so schrecklich, daß man deßhalb den rein musikalischen Effect
0262der Klangschönheit einbüßen soll.“ Später fährt Rubinstein 
0263fort: „Die Infallibilitäts-Erklärung des Papstes hat so
0264Manchem die katholische Religion verleidet. Würde Wagner 
0265seine Opern componirt und aufgeführt haben, ohne sich selbst
0266über sie in seinen Schriften auszusprechen, man würde sie 
0267loben, tadeln, liebgewinnen oder nicht, wie es jedem Com-
0268ponisten ergeht — aber sich für den allein Seligmachenden
0269erklären, das erweckt Opposition und Protest. Wol hat er
0270Beachtenswerthes geschrieben („Lohengrin“ „Meistersinger“
0271und die „Faust“-Ouvertüre sind mir die liebsten seiner Werke),
0272aber das Principielle, Reflectirte, Prätentiöse in seinem
0273musikalischen Schaffen verleiden mir das Meiste. Alle Perso-
0274nen in seinen Opern schreiten einher auf Kothurn (im
0275Sinne des Musikalischen), immer declamirend, nie sprechend,
0276immer pathetisch, nie dramatisch, immer als Götter oder
0277Halbgötter, nie als Menschen, als einfache Sterbliche. Alles
0278macht den Eindruck des sechsfüßigen Alexandriner-Verses,
0279des kalten, gezwungenen Stabreims. Verschiedenheit der
0280musikalischen Charakteristik mangelt daher gänz-
0281lich — weder eine Zerline noch eine Leonore sind
0282bei ihm denkbar. Nie zeichnet bei ihm die Melodie, der
0283musikalische Gedanke die Person; immer thut es nur das
0284Wort (das Leitmotiv zeichnet blos das Aeußerliche der
0285Person, nicht ihr Inneres). Sein Orchester ist wol neu
0286und imponirend, aber auch nicht selten monoton, der Oeko-
0287nomie und Mannigfaltigkeit in der Schattirung entbehrend,
0288weil Wagner vom Anfang bis zum Ende eines Werkes mit
0289allen ihm zu Gebote stehenden Farben (musikalisch) malt.
0290— Jede Kunst hat ihre eigenen Lebensbedingungen, ihre
0291besonderen Anforderungen, ihre Begrenzung u. s. w., so
0292auch jede Kunstgattung. Aus einer Oper etwas Anderes
0293machen zu wollen, als eine Oper, mag wol sehr interessant
0294sein, aber es annullirt eben die Oper. Es kommt mir vor,
0295wie die Sucht der Claviermacher, Streich- oder Blasinstru-
0296mente ins Clavier hinein zu fabriciren, um den Ton zu
0297verändern oder zu verlängern — ein ganz unnützes Be-
0298ginnen.“


0299Ueber Liszt schreibt Rubinstein: „Dämon der
0300Musik
möchte ich ihn nennen! Versengend durch Gewalt,
0301berauschend durch Phantastik, berückend durch Liebreiz, alle
0302Formen auf- und annehmend, Alles kennend und könnend,
0303aber — in Allem falsch, unwahr, auflehnend, comödiantisch
0304und das böse Princip in sich tragend. Seine Virtuosen-
0305Periode war seine Glanzperiode. Sein Clavierspiel an-
0306langend, sind Worte viel zu arm, um es zu bezeichnen —
0307unvergleichlich in jeder Beziehung, Culmination alles dessen,
0308was Claviervortrag überhaupt zu bieten vermag! Seine
0309Componisten-Periode, von 1853 an — die ist
0310trauriger Art. Bis aufs Aeußerste geführte Programm-Musik,
0311ewiges sich gebärden; in seinen Kirchen-Compositionen
0312vor Gott, in seinen Orchesterwerken vor dem Publicum —
0313immer und in Allem Gebärdung.“ In Berlioz, Wagner 
0314und Liszt sieht Rubinstein die Compositions-Vir-
0315tuosen
— im Sinne des specifisch musikalischen Schaffens
0316kann er keinen von ihnen als Componisten anerkennen. Es
0317fehle allen Dreien die Naivetät; ihr Einfluß auf die heutigen
0318Componisten sei bedeutend, aber unheilsam. So ist denn für
0319Rubinstein mit dem Tode Schumann’s und Chopin’s 
0320das Ende der Musik gekommen. „Finis musicae!“ ruft er
0321schmerzlich aus. „Es ist mein vollkommener Ernst — ich
0322spreche beziehentlich des musikalischen Schaffens, der Me-
0323lodie
, der Gedanken; heute wird wol Interessantes,
0324vielleicht auch Werthvolles geschrieben, aber Schönes, Großes,
0325Tiefes, Hohes nicht. Der Beweis dafür die Ueberhandnahme
0326des Colorits auf Kosten der Zeichnung, der Technik auf Kosten
0327der Gedanken, des Rahmens auf Kosten des Bildes.“


0328Von dem reichen Inhalt des Rubinstein’schen Buches
0329ist es kaum die Hälfte, was ich hier in knappem Auszug
0330mitgetheilt oder nur angedeutet habe. Die „Unterredung“
0331verbreitet sich noch ziemlich ausführlich über das Virtuosen-
0332thum, die „Objectivität“ des Vortrags, über das viele Musi-
0333ciren, über die Frauen in der Musik, die Concertprogramme
0334und Dirigenten, die Wunderkinder, den Kirchenstyl, die Con-
0335servatorien, die Classiker-Ausgaben u. s. w. — lauter Fragen
0336von actuellem Interesse, welche Rubinstein so ernsthaft über-
0337dacht hat, wie er sie geistreich, unbefangen und amüsant be-
0338antwortet. Ganz abgesehen von der persönlichen Befriedigung,
0339die mir Rubinstein’s Buch durch so vielfache Uebereinstim-
0340mung mit meinen eigenen Ansichten gewährte, drängt es mich,
0341dasselbe allen Musikern und Musikfreunden als eine durch-
0342aus anregende Lectüre zu empfehlen.

Fußnoten
  • *)Die Musik und ihre Meister.“ Eine Unterredung
    von Anton Rubinstein, Leipzig, bei Bartholf Senff, 1891.