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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9815. Wien, Dienstag, den 22. December 1891

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Concerte.


0002Ed. H. Das Quartett Hellmesberger spielte am
0003letzten Donnerstag vor einer dichtgedrängten und erwartungs-
0004vollen Versammlung. Die Neugierde galt hauptsächlich einem h
0005noch ungedruckten Trio von Brahms für Clavier, Vio-
0006loncell und Clarinette. Schon diese Zusammenstellung der
0007Instrumente wirkte wie etwas Neues, oder richtiger: als
0008glückliche Erneuerung einer älteren Praxis. Unsere musikalischen
0009Voreltern, denen noch so Manches abzulernen wäre, hatten
0010in ihrer Kammermusik eine viel größere Mannigfalt von
0011Instrumenten als wir. Man denke nur an Bach’s Concerte
0012und Sonaten für Flöte, Geige und Clavier, an Händel’s 
0013Trios für zwei Flöten und Baß, zwei Oboën und Baß.
0014Die Clarinette war als ein neu erfundenes Instrument
0015damals noch nicht gebräuchlich, ja sogar in Matheson’s 
0016Neu eröffnetem Orchester“ (1713) noch nicht angeführt.
0017Ueber sechzig Haydn’sche Symphonien und sämmtliche
0018Jugendwerke Mozart’s (auch die nächstens hier aufzu-
0019führende Oper „La finta Giardiniera“) entbehren noch der Clari-
0020netten. Unter den Blasinstrumenten führte ehedem die Oboë das
0021große Wort. Aus Mozart’s späterer Zeit haben wir schon ein köst-
0022liches Kammermusikstück mit Clarinette: das sogenannte Stadler-
0023Quintett. Beethoven hat bekanntlich in seiner ersten
0024Periode die Clarinette in einem Clavier-Trio (op. 11) und
0025einem Clavier-Quintett (op. 16) verwendet, aber seine ganze
0026spätere Kammermusik auf das Clavier und Streichinstrumente
0027beschränkt. Der Componist, der zuerst die Clarinette in ihrem
0028ganzen Umfang und ihrer vollen, charakteristischen Schönheit
0029zu Wort kommen ließ, war C. M. Weber. Er war förm-
0030lich verliebt in das Instrument und gab ihm die reizendsten
0031Gesangstellen im Orchester. Für seinen Freund, den treff-
0032lichen Clarinett-Virtuosen Bärmann, schrieb Weber drei
0033Concerte, außerdem ein Streich-Quintett mit Clarinette und
0034ein großes Duo für Piano und Clarinette. Seither hat sich
0035dieses Instrument fast gänzlich wieder ins Orchester zurück-
0036gezogen. Abgesehen von ganz vereinzelten Erscheinungen (wie
0037Schumann’s kleine „Märchen-Erzählungen“ und Brahms’ 
0038Horn-Trio) kann man sagen, daß seit Mendelssohn und
0039Schumann, also seit einem halben Jahrhundert, die Kammer-
0040musik auf die Mitwirkung von Blasinstrumenten verzichtet.
0041Es war ein glücklicher Gedanke von Brahms, ihr
0042wieder ein neues Klangelement beizugesellen, und zwar
0043das seelenvollste aller Blasinstrumente: die Clarinette.
0044In seinen beiden neuesten Werken — dem A-moll-Trio und
0045einem Quintett in H-moll, das wir bei Rosé hören werden
0046— hat Brahms der Clarinette einen ebenso reizvollen als
0047charakteristischen Antheil zugemessen. Der erste Satz des
0048Trio beginnt in idyllischer Ruhe, die sich aber bald zu be-
0049wegterer, sogar leidenschaftlicher Stimmung steigert. Der
0050ganze Verlauf ist voll feiner, geistreicher Wendungen; blos
0051die auf- und abrollenden Tonleitern im Durchführungssatz
0052scheinen mir nicht recht aus dem Ganzen herauszuwachsen
0053und machen mehr den Eindruck eines „todten Punktes“. In
0054den elegischen Gesang des Adagio theilen sich meistens das
0055Violoncell und die Clarinette, deren tiefe Schalmeitöne eine
0056romantische Dämmerung über das Ganze breiten. Die Perle
0057des Werkes ist der dritte Satz („Andantino grazioso“ in
0058A-dur), eine süße, liedartige Melodie von gemüthvoller
0059Heiterkeit. Der Satz ist so unmittelbar einschmeichelnd, im
0060edelsten Sinn populär, wie ich wenige von Brahms zu nennen
0061wüßte. Nach diesem erquickenden kleinen Gedicht erscheint mir das
0062Finale mehr als das Werk tonkünstlerischer Combination, als
0063freudigen Schaffens. Jedenfalls kann es sich noch weniger als
0064die beiden ersten Sätze an Frische und Freiwilligkeit der
0065melodischen Erfindung mit dem Allegretto messen. Dieses ist
0066dem Hörer sofort klar und lieb; die Schönheiten der drei
0067anderen Sätze werden wol, wie so häufig bei Brahms, mit
0068jeder Wiederholung deutlicher hervortreten und sich bleibend
0069uns einprägen. Das Trio, in welchem Brahms von dem
0070Clarinettisten Herrn Syrinek und dem Cellisten Herrn
0071Ferdinand Hellmesberger vortrefflich unterstützt wurde,
0072hat außerordentlich gefallen. Bei diesem Anlaß möchte ich
0073auf zwei neue, soeben bei Peters in Leipzig erschienene Vocal-
0074Compositionen von Brahms aufmerksam machen. Zuerst
0075ein Heft mit „Dreizehn Canons für Frauenstimmen“.
0076Sodann „Sechs Quartette für Sopran, Alt, Tenor
0077und Baß mit Clavierbegleitung“ op. 112, worunter vier
0078„Zigeunerlieder“, also eine kleinere Fortsetzung der früher
0079bei Simrock erschienenen Zigeunerlieder. Eine Besprechung
0080dieser Novitäten erfolgt am besten erst nach einer öffent-
0081lichen Aufführung derselben. Und diese wird hoffentlich nicht
0082lange ausbleiben. In London sind die sechs Vocalquartette 
0083mit außerordentlichem Beifall bereits in zwei Concerten
0084gesungen und jedesmal stürmisch da capo verlangt worden.
0085Gar zu lange dürfen wir doch nicht gegen die Engländer
0086zurückbleiben.


0087Ein Concert nicht von großartigem Inhalt, aber groß-
0088artiger Anziehungskraft war das für den „Pensions-
0089verein des Conservatoriums
“ veranstaltete. Joseph
0090Joachim, der dazu eigens von Berlin hergereist war,
0091konnte lange nicht den Bogen ansetzen, so anhaltend brauste
0092der Beifall des ihn begrüßenden Publicums. Endlich be-
0093ruhigte sich die Menge und lauschte dem neuen (dritten)
0094Violinconcert von Max Bruch, das kürzlich von Joachim 
0095zuerst in die Welt eingeführt worden ist. Bruch ist durch
0096seine zwei bekannten Violinconcerte in G-moll und D-moll 
0097ein Liebling und fast unentbehrlicher Nährvater aller Geigen-
0098virtuosen geworden. Sein drittes Concert (ebenfalls in
0099D-moll) dürfte, ohne die beiden Vorgänger zu verdrängen,
0100wol gleichfalls ein fester Bestandtheil des bekanntlich recht
0101knapp ausgestatteten Violin-Repertoires werden. Ohne auf
0102Originalität und Ideenreichthum besonderen Anspruch zu
0103machen, steht es doch tüchtig und ansprechend in vornehmer
0104Haltung da, das Werk eines guten und effectkundigen
0105Musikers. Die Solopartie ist durchaus violingemäß und
0106sehr dankbar gesetzt; eine zur „Cadenz“ einladende Fer-
0107mate wird der Virtuose nicht schwer vermissen, findet
0108er doch in seinem Part die auserlesenste Bravour. Von
0109dem leidenschaftlich düstern, etwas zu lang ausgedehnten
0110ersten Satz hebt sich das sanfte melodiöse Adagio in B-dur
0111— das beste Stück — sehr glücklich ab; das Finale wirkt
0112durch seine stramme Rhythmik und stürmisches Passagenwerk.
0113Joachim scheint an dem Abend ermüdet oder aufgeregt
0114gewesen zu sein; es läßt sich nicht verhehlen, daß er in dem
0115Bruch’schen Concert häufig unrein spielte. Erst später, in
0116zwei langsamen gesangvollen Stücken seines älteren Reper-
0117toires (von Spohr und S. Bach) fanden wir den großen
0118Meister Joachim in seinem alten Glanze wieder. Fräulein
0119Marianne Brandt, die sich nur auf dringendstes Bitten
0120des Comités zum Vortrag der Orpheus-Arie von Gluck ent-
0121schlossen hatte, sah sich für diese Gefälligkeit reich belohnt
0122durch den stürmischen Applaus des Publicums. Mit außer-
0123ordentlichem Erfolg sang Herr Walter Lieder von Schubert 
0124und Brahms, wie sie kaum Jemand ihm nachsingt. Es ist
0125ein neues, schönes Verdienst dieser beiden Meister des Ge[2]-
0126sangs, Marianne Brandt und Gustav Walter, daß sie seit
0127ihrem Abgang von der Bühne ihre Kunst lehrend auf junge
0128Talente übertragen — so viel eben davon übertragbar, näm-
0129lich Menschenwerk und nicht Gottesgabe ist.


0130Das erste Concert des Wiener Männergesang-
0131Vereins
litt unter demselben künstlerichen Zwiespalt, der
0132heute keiner Liedertafel erspart bleibt: dem berechtigten
0133Wunsch, Neues zu bringen, gegenüber einem fast trostlosen
0134Mangel an werthvollen Novitäten. So siegte auch diesmal
0135wieder das gute Alte: die Chöre von Schubert und
0136Schumann. Zwei von den Novitäten gehörten, schon durch
0137die Wahl des Gedichtes, zu jenen sentimental zerfließenden,
0138welchen die übermächtige Schallkraft eines starkbesetzten
0139Männerchores widerstrebt. Wenn Edwin Schultz in seinem
0140Chor das „leise vom Sternenzelt herabklingende Singen“,
0141„die schlummernde Welt“ und die „schweigende Nacht“
0142feiert oder wenn bei Hanns Sitt „des Nachts der Schwan
0143singt, wenn das Schilf so leise rauscht“, so empfindet wol
0144Jeder, wie wenig dis sublimen Gefühlsdelicatessen mit dem
0145Klang und Aussehen eines zweihundertköpfigen Männer-
0146chores harmoniren. Die Dichterin, Gräfin Ballestrem,
0147läßt ihren sterbenden Schwan nicht etwa blos einige Töne
0148singen, sondern die ganze Nacht hindurch und offenbar sehr
0149stark, denn beim Sonnenaufgang zittert noch auf den Wellen
0150der Gesang des todten Vogels nach! Da schlägt der Componist
0151Brambach zum Glück in seinem Frühlingschor wieder einen hei-
0152tern, beherzten Ton an: „neuer Frühling“, „neues Laub“, „neuer
0153Sonnenschein“ — Alles neu, nur die Melodie nicht. Immerhin
0154sind diese drei Novitäten von Schultz, Sitt und Bram-
0155bach
durchaus Arbeiten guter Musiker, wohlklingende,
0156rein und effectvoll gesetzte Chöre. Was soll man aber zu
0157einem Chor wie das „Spanische Lied“ von Leon Jouret 
0158sagen? Etwas so ganz Ungenießbares und Schülerhaftes ist
0159mir noch kaum in der Literatur des vierstimmigen Männer-
0160gesanges vorgekommen, wenigstens in der deutschen nicht.
0161Die Franzosen, welche diesen echt deutschen Musikzweig in
0162den letzten Decennien importirt haben, stehen offenbar seinem
0163Wesen noch fremd und äußerlich, auch technisch ungeschickt
0164gegenüber; sie componiren auch rein lyrische Männerchöre
0165ganz theatralisch, zerstückeln die Form, häufen die Contraste
0166und stellen den Sängern recht widerhaarige Aufgaben. Wer
0167nicht weiß, daß Herr Leon Jouret seit zwanzig Jahren Pro-
0168fessor am Brüsseler Conservatorium, auch Componist vieler
0169Kirchensachen und zweier Opern ist, der würde das „Spanische 
0170Lied“ wahrscheinlich einem Anfänger zuschreiben, welcher den
0171Mangel an Ideen und die Ungeübtheit im vierstimmigen Satz
0172durch grelle Opern-Effecte und allerlei banales Flickwerk be-
0173mänteln, sein musikalisches böses Gewissen gleichsam überschreien
0174will. Der Geschmacklosigkeit dieses Chors kommt nur die andere
0175gleich: ihn aufzuführen. Zwischen den Chorproductionen be-
0176kamen wir zwei junge Damen zu hören: die Sängerin
0177Friederike Mayer und die Violin-Virtuosin Irene
0178v. Brennerberg. Fräulein Mayer singt mit ihrer hellen,
0179leichtbeweglichen Stimme recht anmuthig heitere Lieder, wie
0180C. Löwe’sNiemand hat’s gesehen“, oder einfach gemüth-
0181liche, wie Mozart’sWiegenlied“. Für düstere, pathetische
0182Gesänge, wie Schubert’s Mignonlied „Heiß’ mich nicht
0183reden“, fehlt ihrer Stimme die dunkle Färbung, ihrem Vor-
0184trag der Ernst und die Tiefe. Man darf nicht freundlich
0185lächeln bei so einem Liede. Fräulein Mayer fand denselben
0186anhaltenden Beifall, der ihr bereits mehrmals in dieser
0187Saison zu Theil geworden ist. Fräulein v. Brennerberg,
0188welche kürzlich mit bestem Erfolg ein eigenes Concert gegeben hat,
0189spielte das Adagio und Rondo aus dem E-dur-Concert von
0190Vieuxtemps mit schönem Ton und bedeutender, in den
0191raschen Staccato-Passagen sogar glänzender Technik. Mit
0192letzterer steht die beseelende Kraft des Vortrages nicht auf
0193gleicher Höhe; von der bald kecken, bald schalkhaften Grazie,
0194womit Vieuxtemps einst dieses Rondo belebte, war bei
0195Fräulein v. Brennerberg wenig zu merken. Wer auch an
0196diesem Abend den größten Erfolg davontrug, war wieder
0197Herr Walter. Mit ebenso frischer Stimme und reizendem
0198Vortrag wie Tags vorher in dem „Pensions-Concert“ sang
0199er Kremser’sGebet an die Madonna“, ein Tenor-Solo,
0200das mit Chor, Orgel- und Hafenbegleitung, also mit allen
0201Attributen eleganter Religiosität ausgestattet ist.


0202Im zweiten Concert der Gesellschaft der Musikfreunde
0203hörten wir den Eingangschor der Bach’schen Kirchen-Cantate
0204Wie schön leuchtet der Morgenstern“. In langen, feierlichen
0205Noten singen die Soprane das alte Kirchenlied („Wie
0206leuchtet schön der Morgenstern, voll Gnad’ und Wahrheit
0207von dem Herrn, die süße Wurzel Jesu!“), während die drei
0208tieferen Stimmen in selbstständiger Figurirung sich darunter
0209bewegen; ein kunstvoll gefügter, dabei durchaus klarer, durch-
0210sichtiger Tonbau. Die Aufführung scheint mir gegen die
0211klare Absicht der Composition darin gefehlt zu haben, daß
0212die Soprane die Melodie „Wie schön leuchtet der Morgen-
0213stern“ sehr piano einsetzten, anstatt kraftvoll und freudig. 
0214Warum nur dieser erste Satz der Cantate gesungen wurde?
0215Die beiden darauf folgenden Arien geben hinreichende Ant-
0216wort. Sie sind in so schwierigem, instrumental verschnörkeltem
0217Styl geschrieben, daß heute kaum ein Tenorist oder eine Sängerin
0218sie anders als höchst mühselig bezwingen würde. Die Tenor-
0219Arie in F-dur, die in einem sehr vergnüglichen Drei-Achtel-
0220Tact fast tanzmäßig dahinschwebt, ist ein interessantes Bei-
0221spiel für die nach Ort und Zeit so verschiedenartige Ansicht
0222über den Ausdruck des Religiösen in der Musik. Rubinstein 
0223antwortet in seiner jüngst besprochenen „Unterredung“ auf die
0224Frage, was kirchlicher Styl sei, in höflichem Sächsisch: „Das
0225will ich Sie gleich sagen, meine Guteste, das weiß
0226ich selber nicht.“ Er hätte zu den seine Antwort recht-
0227fertigenden Beispielen auch die Bach’sche Tenor-Arie hin-
0228zufügen können, welche doch aus frommer Zeit und
0229frommen Land und gar von dem frömmsten aller
0230großen Meister herrührt. ... Herr Hanns Wessely,
0231den wir zuletzt als einen vielversprechenden Schüler des treff-
0232lichen Professors Grün begrüßt hatten, ist nach mehr-
0233jährigem Aufenthalte in London wieder in Wien eingetroffen.
0234Er spielte das Brahms’sche Violinconcert, mit dem er sich
0235vor sieben oder acht Jahren hier eingeführt hatte; damals
0236war es ein Wagestück, wenngleich ein gelungenes, heute kann
0237man von einem Meisterstück reden. Thatsächlich hat Herr
0238Wessely sich mit dem technisch vollkommenen und geistig be-
0239seelten, temperamentvollen Vortrage dieses schwierigen Werkes
0240als einer der besten Meister seines Instruments erwiesen.
0241Der glänzende Erfolg entsprach ganz seiner Leistung. ...
0242Schumann’sRequiem für Mignon“ für Solostimmen,
0243Chor und Orchester dürfte der Mehrzahl unserer Concert-
0244besucher neu gewesen sein; ist es doch seit der ersten, von
0245Brahms dirigirten Aufführung in der Sing-Akademie
0246(1863) nicht wiederholt worden. Die Scene aus Goethe’s
0247Wilhelm Meister“ mit den seltsamen Exequien für Mignon 
0248war so recht ein Stoff, in dessen mystische Romantik Schumann 
0249mit liebevollem Ernste sich versenken mochte. Die Composition,
0250durchaus von edlem, sanftem Charakter, ist unverkennbarer
0251Schumann, aber schon angehaucht von jener eigenthümlich
0252weichen Müdigkeit, welche dessen letzte Periode kennzeichnet.
0253Für die sehr gelungene Aufführung dieses Werkes dankte
0254das Publicum dem Dirigenten Herrn Gericke durch wieder-
0255holten Hervorruf. Auf das Schumann’sche „Requiem“ folgte
0256noch das große „Tedeum“ von Bruckner. Den Hörern
0257ward an diesem Sonntag etwas zu viel zugemuthet.

[3]


0258Daß auch Kleinheit zu großem Erfolg verhelfen kann,
0259beweist der siebenjährige Pianist Raoul Koczalski, dessen
0260medaillenbehängtes Abbild von allen Anschlagssäulen auf uns
0261herabblickt. Er hat im Bösendorfer-Saal das Publicum in
0262Erstaunen und Entzücken versetzt. Unter den mir bekannten
0263Wunderkindern ist er unbedingt das merkwürdigste, denn er-
0264staunlich ist sowol die Geläufigkeit und Sicherheit seiner
0265kleinen Händchen, wie die im Allgemeinen richtige musikalische
0266Empfindung. Und was spielt dieses Kind? Stücke von Bach,
0267Schumann, Chopin, Liszt, Brahms u. s. w. Was bedeuten
0268die Clavierstücke des kleinen Mozart gegen die technischen
0269Schwierigkeiten dieses modernen Repertoires! Ich habe sogar
0270privatim den ersten Satz der Beethoven’schen C-dur-Sonate 
0271op. 53 von ihm gehört, dieselbe, welche ganz kürzlich d’Albert 
0272und Emil Sauer hier spielten. Der kleine Pole vermag noch
0273keine Octave zu spannen, nimmt also von den Octaven-
0274gängen dieser Sonate nur die obere Note; natürlich fehlt
0275ihm auch die unumgänglich nöthige physische Kraft. Es steht
0276also von vornherein fest, daß die Ausführung selbst von rein tech-
0277nischer Seite mangelhaft sein muß. Und die geistige Auffassung?
0278Wie kann ein Kind sich in die leidenschaftlichen Seelenkämpfe
0279hineinfühlen, welche Beethoven in diesen Werken durchlebte?
0280Dennoch war es merkwürdig, wie der Kleine den Sonaten-
0281satz ohne Stocken, ziemlich rein und grammatikalisch richtig
0282durchführte. Als eine interessante, sehr seltene Erscheinung
0283kann somit der kleine Koczalski dem Publicum aufrichtig
0284empfohlen werden. Daß eine relativ erstaunliche Kinderleistung
0285und wahrer künstlerischer Genuß zwei verschiedene Dinge sind,
0286darüber muß freilich Jeder mit sich im Reinen sein. Den
0287Monolog des Faust oder der Iphigenia möchte ich nicht von
0288einem Kinde vortragen hören und wäre es noch so talent-
0289voll und gut gedrillt. Ja die kleinsten, anscheinend leichtesten
0290Gedichte von Heine und Lenau werden inhaltlos oder falsch
0291im Munde halbwüchsiger Mädchen oder Knaben. Und ebenso
0292verhält es sich in der Musik mit den Charakterstücken von
0293Schumann, Chopin, Brahms. Robert Hamerling sagte ein-
0294mal in einem Aufsatz über Claviermusik rund heraus, er
0295möchte allen jungen Leuten unter 18 Jahren verbieten, Schu-
0296mann und Chopin zu spielen. Leider sucht sich unsere concer-
0297tirende junge Mädchenschaar gerade das Schwierigste und
0298Individuellste von Schumann, Chopin und Brahms zum
0299Vortrag heraus. Fast höre ich das noch lieber von dem kleinen
0300Koczalski, der eben nur die Noten spielt und nicht einmal reif
0301ist für die Affectation, mehr als die Noten spielen zu wollen.