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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9826. Wien, Sonntag, den 3. Januar 1892

[1]

Hofoperntheater.

(„Ritter Pasman.“ Komische Oper in drei Acten von Ludwig Doczi. Musik von Johann Strauß.)


0003Ein Kuß! Was ist ein Kuß?
0004L. Doczi, „Der Kuß“, II. Act, 2. Scene.


0005Ed. H. Auf einer jener Hofjagden, welche zur Mechanik
0006der komischen Opern zu gehören scheinen, geräth der junge
0007König von Ungarn unerkannt auf das Gebiet seines Vasallen,
0008des Ritters Pasman, und verliebt sich flugs in dessen schöne
0009Frau Eva. Er benützt eine kurze Abwesenheit des Gatten,
0010um, mit dessen Helm bekleidet, im Abenddunkel Eva zu
0011küssen, worüber sie in unsäglichen Schmerz und er in tiefe
0012Reue versinkt. Pasman’s Knappe, der die Scene belauscht
0013hat, meldet sie seinem Herrn. Dieser flucht seiner verzweifeln-
0014den Frau und jagt zu Roß dem Frevler nach, welcher mit
0015seinem Gefolge bereits ohne Abschied sich davongemacht hat.
0016Dies der Inhalt der beiden ersten Acte. Der dritte führt
0017uns an den Hof, wo der König mit seiner jungen Gemalin 
0018zärtliche Betheuerungen wechselt. Da pocht Pasman als
0019Rächer seiner Ehre wüthend an das Thor. Der König läßt schnell
0020seinen Hofnarren, mit dem Purpur bekleidet, den Thron
0021einnehmen, während er selbst im Narrenkleide sich abseits
0022hält. Sein Stellvertreter hört die Klage des alten Ritters
0023und entscheidet, nachdem es sich angeblich blos um einen
0024Kuß auf die Stirne handelt: Pasman dürfe nun
0025seinerseits auch die Königin auf die Stirne küssen. Indem
0026Pasman dies ohneweiters thut, gibt der König sich zu er-
0027kennen und befiehlt, Pasman einzukerkern. Da stellt sich die
0028Königin besänftigend dazwischen und drückt dem Ritter, „der
0029seine Ehre gewahrt“, selbst noch einen Kuß auf die Stirne.


0030Man wird zugeben, daß diese Handlung sehr dürftig ist
0031für eine Oper, die volle drei Stunden spielt und nach dem
0032unverkürzten Original-Libretto mehr als vier Stunden zu
0033spielen hätte. Es widerstrebt mir, mit einem hochbegabten
0034Dichter wie Doczi nicht mehr Umstände machen zu sollen,
0035als mit einem gewöhnlichen Librettisten. Wer zwei köstliche
0036Stücke geschrieben, wie „Der Kuß“ und „Letzte Liebe“, der
0037hat den Anspruch, daß man ihn (wie Grillparzer einmal
0038verlangte) „nur mit dem Hut in der Hand“ kritisire. Also, mit 
0039dem Hut in der Hand, erlaube mir, den „Ritter Pasman“
0040für ein unglückliches Opernbuch zu halten. Ein echter Poet,
0041ist Doczi der Mehrzahl unserer Textdichter an Begabung
0042und Kunstverstand hoch überlegen. Aber eine bessere komische
0043Oper dürfte trotzdem mancher seiner Stiefbrüder in Apollo 
0044fertig kriegen. Unwillkürlich muß man an Rubinstein 
0045denken, der eines Tages, um etwas ganz Apartes
0046zu erlangen, einen Operntext bei Friedrich Hebbel be-
0047stellte. Der Dichter, welchem damals das hohe Honorar will-
0048kommen schien, machte sich an die ganz ungewohnte Aufgabe
0049und löste sie so, daß Rubinstein das Manuscript als völlig
0050unmöglich in sein Schreibpult verschloß, wo es noch heute
0051liegen dürfte. So schlimm steht es natürlich mit unserm
0052Ritter Pasman“ keineswegs; Johann Strauß ist von Doczi 
0053noch immer viel besser bedient worden, als Rubinstein von
0054Friedrich Hebbel. Aber Doczi’s poetische Diction und ero-
0055tische Spruchweisheit ersetzen uns nicht den Mangel an dra-
0056matischem Leben. Wie langsam und zäh spinnt sich die Hand-
0057lung ab! In den beiden ersten Acten kommt sie nicht vom
0058Fleck: immer dieselbe Saaldecoration, dieselben Personen,
0059dieselbe Geschichte. Es lag, meine ich, auf der Hand, diese
0060beiden Acte in Einen zusammenzuziehen. Dann wäre bei-
0061sammen geblieben, was unmittelbar zusammengehört, und
0062jede der beiden Hälften hätte durch Kürzung überflüssig
0063langer Reden einen lebendigeren Fortgang gewonnen. Die
0064ganze langgestreckte Handlung dreht sich um einen Kuß,
0065nährt sich kümmerlich von einem Kuß. Statt „Ritter
0066Pasman“ könnte die Oper denselben Titel führen wie
0067Doczi’s berühmtes Lustspiel. Aber wie ganz anders, wie fein
0068und geistvoll hat Doczi dort das Thema angestimmt, variirt,
0069bekämpft, vertheidigt, um es schließlich wie in einem viel-
0070stimmigen Musikstück harmonisch ausklingen zu lassen! Die
0071hübsche Schlußmoral des Stückes: „Der beste Kuß, das lern’
0072von mir als Christ — Ist der, an dem nichts zu bereuen
0073ist“ — krönt auch die Oper, nur mit der nicht glücklichen
0074Aenderung: „Der schönste Kuß ist weit und breit — Doch
0075der Kuß der Barmherzigkeit.“ Bei momentan still-
0076stehender Handlung überrascht uns Doczi in seinem Lustspiel
0077mit Reden, welche, wie die beiden Paraphrasen von „Noth-
0078wendigkeit
“ und „Gelegenheit“ im ersten Act, zu
0079den reizendsten Gedankenspielen moderner Poesie gehören.
0080Solche Ausführungen sind natürlich in einer durchaus ge-
0081sungenen Oper unmöglich. Indessen auch weitläufig Reden
0082und Gegenreden, wie sie im „Ritter Pasman“ fortwährend die
0083Handlung aufhalten, bilden eine Gefahr für die Oper, denn
0084die Musik braucht viel Zeit und vermag einen ausführlichen
0085Dialog nicht so rasch dahingleiten zu lassen, wie ein Lustspiel.
0086Erst der dritte Act, in dem endlich auch die Scene wechselt,
0087erweckt lebhafteres Interesse und einige Neugierde, wie der
0088Knoten sich lösen werde. Aber der Zuschauer, der hier schon
0089etwas ermüdet anlangt, muß sich knapp vor dem Schluß
0090noch von vielen unnütz retardirenden Auseinandersetzungen auf-
0091gehalten sehen. Der Rothstift des Directors hat, wie man sich
0092aus dem unverkürzt gedruckten Textbuch überzeugen kann,
0093recht fleißig darin gewaltet — sicherlich zum begreiflichen
0094Schmerz des Dichters und Componisten, aber, wie ich glaube,
0095zum entschiedenen Vortheil der Oper. Die sichere Wirkung
0096des Ganzen ist des Opfers etlicher Einzelheiten werth. Und
0097diese Kürzungen, welche Director Jahn im Einvernehmen
0098mit dem musterhaft zuvorkommenden und bescheidenen Com-
0099ponisten vornahm, haben thatsächlich nur das am leichtesten
0100Entbehrliche getroffen.


0101Außer dem Fehler, an sich kein gutes Libretto zu sein,
0102hat Doczi’s „Pasman“ noch einen zweiten: er ist (ich halte
0103noch immer den Hut in der Hand) kein Textbuch für
0104Johann Strauß
. Der Dichter, welcher ein Libretto für einen
0105bestimmten Componisten schreibt, soll dessen Eigenart kennen
0106und respectiren. Und wer kennt nicht seit 30 Jahren den
0107so ausgeprägten Charakter der Strauß’schen Muse? Wer
0108wüßte nicht, worin ihre Stärke liegt, wohin ihre Neigung
0109zielt, worauf ihre Triumphe beruhen? Strauß braucht, um
0110sich treu zu bleiben, was jeder seiner Verehrer wünschen
0111muß, einen herzhaft fröhlichen Stoff, lustige Situationen,
0112komische Figuren. Doczi’s Textbuch ist überwiegend senti-
0113mental, ja in seinen entscheidendsten Scenen hart ans Tra-
0114gische streifend. Welch herzbrechendes Lamento erheben Eva 
0115und der König im zweiten Act wegen eines geraubten
0116Kusses! In welcher Othello-Wuth tobt der eifersüchtige
0117Pasman das ganze zweite Finale hindurch, das er mit
0118dem Aufschrei schließt: „Ungetreues Weib! Ich fluche dir!“
0119Kann da eine heitere Stimmung aufkommen? Ist das eine
0120„komische Oper“, wie sie doch auf dem gedruckten Textbuch
0121und dem Clavierauszug genannt wird? Die spärliche Si-
0122tuations-Komik, durch welche der Dichter stellenweise die [2]
0123schwüle Atmosphäre zu erfrischen sucht, besteht doch nur in
0124ganz verbrauchten Verkleidungsspässen, über die kein Mensch
0125lacht: der König, der Pasman’s Helm aufsetzt, der Hofnarr 
0126als König verkleidet u. dgl. Ebensowenig Komik steckt in den
0127Charakteren: Eva und der König sind schwärmerisch-senti-
0128mental, die Leute ihrer Umgebung unbedeutend und physiogno-
0129mielos. Der Hofnarr ist ein Lustigmacher von Profession,
0130man weiß, wie es mit diesen aussicht. Sie erinnern uns
0131im Theater immer an den König Ludwig XIII. von Frank-
0132reich. Dieser Monarch war höchst traurigen Gemüths, hatte
0133aber einen Hofnarren, Namens Angely, und der war noch
0134viel trauriger, und das erheiterte den König. Und Pasman?
0135Grob und gewaltthätig ist er, aber nicht komisch, nicht ein-
0136mal lustig, trotz seines unmäßigen Trinkens. Doczi’s Text-
0137buch liest sich sehr hübsch, aber es hat un-
0138zweifelhaft die freie schöpferische Kraft des Compo-
0139nisten, dieses Componisten, mehr gehemmt als be-
0140flügelt. Der Inhalt nöthigte ihn, größtentheils ernst-
0141haft, empfindsam, leidenschaftlich zu sein, während er
0142gerade in seiner heiteren Musik so unwiderstehlich ist. Die
0143langgestreckten, durchaus gesungenen Verse, die durch keine
0144Prosastellen oder Secco-Recitative unterbrochen sind, zwingen
0145ihn zu einem fortlaufenden tactmäßigen Arioso, aus dem
0146sich abgerundete Musikstücke nur selten scharf herausheben.
0147In diesem Arioso-Styl mit seinem häufigen Tact- und
0148Tempowechsel erinnert Strauß (der übrigens keine Leitmotive
0149verwendet) sehr häufig an den Dialog in den „Meister-
0150singern“. Er hat sich in diesen ihm bisher ganz fremden
0151Styl und fremden Ton mit einer geradezu überraschenden
0152Geschicklichkeit hineingearbeitet. Von vielen Seiten vernahm
0153man den bewundernden Ausruf: Das hätten wir Strauß 
0154gar nicht zugetraut! Trotzdem bleibt meines Erachtens für
0155sein eigenartiges und in so langjährig gleichmäßiger Praxis
0156festgehaltenes Talent die ältere Form der komischen Oper
0157mit gesprochenem Dialog (wie bei Lortzing) oder mit leichten,
0158den Conversationston streifenden Recitativen (wie bei Flotow)
0159die allergeeigneteste. Strauß hat auch im „Pasman“ feine,
0160anmuthige und geistreiche Musik geschaffen und sich insbe-
0161sondere als großer Meister der Instrumentationskunst gezeigt.
0162Sein Orchester ist immer klangschön, vornehm, charakteristisch
0163und doch niemals lärmend oder aufdringlich. An vielen Stellen
0164ist es wahrhaft entzückend und jungen Componisten zum
0165Studium zu empfehlen. Wir vermissen auch auf seiner 
0166neuen höheren Staffel dramatischen Styls nirgends den
0167feinen, geschmackvollen Weltmann und guten Musiker —
0168was uns abgeht, ist unser lieber alter Johann Strauß.
0169Daß Jedermann die neue Oper mit dem lebhaftesten Inter-
0170esse und Vergnügen hören wird, dafür bürgt schon der
0171Name des Componisten. Es würde heute zu weit führen,
0172wollten wir alle reizenden Einzelheiten derselben aufzählen;
0173das mag später einmal nachgeholt werden. Aber ausdrücklich
0174hervorheben müssen wir die Balletmusik im dritten Act.
0175Sie ist das weithin glänzende Kronjuwel dieser Partitur. Das
0176konnte kein Anderer als Johann Strauß machen! Ist er
0177doch von Haus aus und in seinem ganzen Wesen „abso-
0178luter“ Musiker, das heißt in seinem musikalischen Erfinden
0179nicht gern an die Fessel des Wortes, des Textes gebunden.
0180Mit den ersten Tacten des Pasman-Ballets scheinen ihm
0181plötzlich Flügel gewachsen, und mit jugendlicher Kraft und
0182Freudigkeit schwingt er sich in die Lüfte; Textbuch und Dichter
0183verschwinden aus seinen Augen — „jetzt bin ich allein Herr!“
0184Das Ballet beginnt — auf die böhmische Heimat der Köni-
0185gin anspielend — mit einer in slavischem Bauerncostüm
0186getanzten Polka. Die Musik, von reizend prickelndem Ryth-
0187mus und entzückendem Orchesterklang, gehört zu den schönsten
0188Tanzstücken von Strauß. Hierauf folgt ein ungemein gra-
0189ziöser, feiner Shawltanz in langsamem Dreivierteltact — ein
0190glücklicher Contrast zu der vorhergehenden Polka. Das Tempo
0191beschleunigt sich ein wenig und drängt zu einem Walzer in
0192F-dur, einem Tanzstück von idealer Feinheit und Poesie.
0193Wollte schon nach der Polka der Beifall des Publicums kein
0194Ende nehmen, so brach nach dem Walzer ein förmlicher
0195Jubel los. Aber es sollte noch besser kommen: ein Czardas
0196von energisch nationalem Charakter. Wie rasen die
0197Geigen, wie schluchzen die Clarinetten, wie hämmert das
0198Cymbal im Orchester! Außerordentlich ist die anwachsende
0199Steigerung in Tempo, Rhythmus und Klangfülle, womit
0200das Stück bis zum athemlosen, berauschenden Taumel an-
0201schwillt. Diese unvergleichliche Balletmusik wäre für sich
0202allein im Stande, jede Oper bleibend zu einem Zugstück zu
0203machen. Sie weckt in mir einen oft, aber vergeblich ausge-
0204sprochenen alten Wunsch: Strauß möchte uns ein vollstän-
0205diges Ballet schenken. Er ist heute der einzige Componist,
0206der das mit höchster Wirkung vermöchte. Und mit spielender
0207Leichtigkeit. Verdankt nicht das Divertissement „Wiener
0208Walzer“ seinen enormen Erfolg zum guten Theile Strauß’-
0209schen Melodien? Und verdankten nicht die besten französischen
0210Ballette ihren Erfolg der Musik von berühmten Opern-
0211componisten wie F. Hérold, Adam, Halévy? Ver-
0212dunkeln nicht heute noch die Ballette von Delibes seine
0213Opern? Strauß brauchte nur zu wollen, um, diesen Namen
0214sich anreihend, ein Bühnenwerk zu schaffen, das seine schön-
0215sten, eigensten Vorzüge zu einem prachtvollen Bouquet ver-
0216einigt.


0217An dem glänzenden Erfolg der Novität, der in unge-
0218zählten Hervorrufen des Componisten und der Darsteller sich
0219abspiegelte, hatte die musterhafte Aufführung wesentlichen
0220Antheil. Herr Director Jahn dirigirt die Oper mit jener
0221unvergleichlichen Feinheit und Effectkenntniß, die wir an
0222ihm kennen und jederzeit gerne rühmen. Mit dem Glanze
0223des Orchesters harmonirte die Pracht der scenischen Aus-
0224stattung, insbesondere der Aufzüge und Tänze im dritten
0225Act. Von den Sängern hatten Fräulein Renard (Eva)
0226und Herr Schrödter (König) die anstrengendsten Auf-
0227gaben und den größten Erfolg. Fräulein Renard excellirt
0228namentlich in einer „Walzer-Arie“, welche Eva trotz ihrer
0229Kußverzweiflung zu singen sich nicht versagen kann. Es
0230ist dies weniger ein Walzer, als ein feines, pikantes Musik-
0231stück, das sich ängstlich zusammennimmt, ja nicht für einen
0232Walzer gehalten zu werden. Für die Rolle des Pasman 
0233ist Herr v. Reichenberg durch das Martialische seiner
0234Persönlichkeit und die dröhnende Kraft seiner Stimme wie
0235geschaffen. Zwei kleinere, aber wichtige Partien sind die des
0236Kammermädchens Gundy und des Hofnarren Rodomonte.
0237In Fräulein v. Artner besitzt die Oper eine schätzbare
0238Repräsentantin aller durch „Schneidigkeit“ hervortretenden
0239Zofen, somit auch der Gundy. Ungemein schön singt Herr
0240Ritter (Rodomonte) die Classification der Küsse im dritten
0241Act, eine der hübschesten Melodien der Partitur; er ver-
0242steht die nicht allzu häufige Kunst, solche Stellen mit dem
0243vollen Wohlklang des Tones zu singen und zugleich muster-
0244haft zu declamiren. Der stiefmütterlich bedachten Königin 
0245leiht Frau Forster wenigstens die Anmuth ihrer Erschei-
0246nung. Zwei kleinere Rollen, Mischnu und Omodé, werden
0247von den Herren Felix und Schittenhelm sorgfältig
0248gegeben. So wirkte denn Alles glücklich zusammen, um die
0249oft verschobene und lang erwartete Première des „Ritter
0250Pasman“ zu einem erfolgreichen und festlichen Abend zu
0251gestalten.