Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9835. Wien, Dienstag, den 12. Januar 1892
[1]Concerte.
0002Ed. H. Das wichtigste musikalische Ereigniß der Woche,
0003ja ohne Zweifel des ganzen Jahres, ist Brahms’ neues
0004Quintett in H-moll für Clarinette und Streichquartett.
0005Lange hat kein Werk ernster Kammermusik im Publicum so
0006unmittelbar gezündet, so tief und lebhaft gewirkt. Das
0007Quintett ist ein breiter ausgeführtes, bedeutenderes Seiten-
0008stück zu dem jüngst besprochenen Clarinett-Trio in A-moll.
0009Noch stärker und geheimnißvoller als in letzterem waltet
0010hier der eigenartige Zauber des Clarinettenklanges. Wie dem
0011bildenden Künstler ein gegebenes äußerliches Mittel, ein be-
0012stimmtes Material, Maß oder Local häufig zum künstleri-
0013schen „Motiv“ wird, ihm neue Ideen zuführt, so hat
0014Brahms’ jüngstes dankbares Adoptivkind, die Clarinette, ihn
0015zu reizenden neuen Erfindungen und Combinationen ange-
0016regt. Der erste Satz, ein mäßig bewegter Sechsachteltact,
0017fließt in idyllischem Behagen und leicht getrösteter Wehmuth
0018dahin; erst knapp vor dem Ende gibt es ein heftiges Aufstürmen
0019aller Instrumente, die sich dann besänftigt gegen die Tiefe beugen
0020und pianissimo schließen. Der bedeutendste von den vier Sätzen
0021und überhaupt eines der schönsten, wärmsten Stücke von
0022Brahms ist das Adagio in H-dur. Die Clarinette intonirt
0023eine sanft melancholische Liedweise, die in den Anfangs-
0024tacten und ihrer ganzen Stimmung an das Adagio des
0025F-dur-Quintetts op. 88 erinnert. Alle vier Streichinstrumente
0026(con sordini) tragen behutsam auf leisen weichen Accorden
0027den lieblich einfachen Gesang. Ein Verzögern des Tempos
0028leitet in einen merkwürdigen neuen Abschnitt, einen Mittel-
0029satz in A-moll. Die Clarinette hat sich aus ihrer coordinirten
0030Stellung zur Oberherrschaft, zum Solo-Instrumente erhoben.
0031Gleichsam improvisirend, durchmißt sie in frei schweifenden
0032Passagen wiederholt den ganzen Umfang ihres Tonreiches.
0033Ihre Emancipation vom regelmäßigen Rhythmus, ihr
0034Schluchzen und Klagen hat sie von den Zigeunern. Allmälig
0035fluthet dieses freie Phantasiren wieder in das ursprüngliche
0036Bett zurück und der Satz klingt leise verhallend aus. Das
0037ganze Stück ist wie in dunkles Abendroth getaucht. Wer
0038Heine’s „Klangbildertalent“ besitzt, dem dürfte das Bild
0039eines jungen Hirten auftauchen, der in der Einsamkeit einer
0040ungarischen Ebene schwermüthig seine Schalmei bläst. In diese
0041tröstliche Entlastung seines Gemüths mischt sich unbewußt
0042seine Freude an der kunstreichen Behandlung des Instru-
0043ments. Auf das Adagio folgt ein Andantino in D-dur von
0044etwas gleichmüthigem Charakter; es übergeht in ein „Presto
0045non assai“, dessen kurzes, geschwätziges Motiv an Aehn-
0046liches von Brahms erinnert. Nach einer kunstvollen, inter-
0047essanten Durchführung schließt auch dieser Satz, wie alle
0048übrigen, pianissimo. Zu bedeutenderer Höhe hebt sich wieder
0049das Finale, das, schon in der Form, völlig Neues bringt.
0050Es besteht nämlich aus fünf Variationen über ein sehr ein-
0051faches Lied, dessen zweiter Theil repetirt wird. Man kennt
0052Brahms’ souveräne Beherrschung der Variationenform.
0053Seine unerschöpfliche, immer geistreiche Verwandlungskunst
0054fesselt uns auch hier von Anfang bis zu Ende. Und dieses
0055Ende gehört zu den merkwürdigsten Zügen des Quintetts;
0056das Finale schließt, aus einem raschen Tempo sich allmälig
0057verlangsamend, genau mit den sanft elegischen Schlußtacten
0058des ersten Satzes.
0059Eine Styl-Eigenthümlichkeit, die sich in fast allen neue-
0060ren Kammermusiken von Brahms ausprägt, erscheint beson-
0061ders auffällig in dem H-moll-Quintett: der viel engere Zu-
0062sammenhang, das Einheitliche im Charakter aller vier Sätze.
0063In dem Quintett gehört Alles einer Farbenscala an, so
0064mannigfaltiges Leben auch darin herrscht. Während bei Haydn
0065und Mozart (anfangs auch bei Beethoven) die einzelnen
0066Sätze sich hauptsächlich durch den Contrast von einander ab-
0067heben, auf ein schwermüthiges Adagio ein um so fröhlicheres
0068Scherzo setzen und jedenfalls mit einem rasch fortströmenden,
0069heiter oder leidenschaftlich aufgeregten Finale schließen, sehen
0070wir Brahms bemüht, die vier Sätze in leiseren Stimmungs-
0071übergängen einander zu nähern. Das eigentliche Scherzo läßt
0072sich kaum mehr bei ihm blicken, noch weniger der Menuett;
0073an dessen Stelle tritt meistens ein „Andantino quasi Alle-
0074gretto“, ein „Allegretto non troppo“. Die mäßigend zurück-
0075haltenden Bezeichnungen „non troppo“, „non assai“, „quasi“
0076u. s. w. sind charakteristisch für den späteren Brahms, der
0077nicht gern über ein gewisses Niveau der Gemüthsbewegung
0078hinausgeht und grelle Contraste lieber meidet als auf-
0079sucht. Daß manchem Hörer nach einem wenig bewegten ersten
0080Satz ein herzhaft fröhliches Scherzo, nach einem düste-
0081ren Adagio ein feurig fortstürmendes Finale erwünschter
0082schiene, soll weder verschwiegen noch getadelt werden.
0083Aber das Gefühl der Enttäuschung, wo es überhaupt eintrat,
0084wird schnell verschwinden. Wer sich ernst und liebevoll mit
0085Brahms beschäftigt hat, dem wird auch der maßvollere, ab-
0086geklärte Styl seiner späteren Epoche mit all seinen Eigen-
0087heiten bald lieb und vertraut werden. Man darf behaupten,
0088daß jede größere Composition von Brahms eine heimliche
0089Wohlthat in sich birgt, nämlich die, uns zuverlässig beim
0090zweiten Hören mehr Freude zu machen, als beim ersten.
0091Nicht jede besitzt aber neben und vor dieser Tugend noch
0092den Vortheil, uns augenblicklich und unbedingt einzunehmen,
0093wie dies der Fall war mit dem Clarinett-Quintett, als es
0094jüngst bei Rosé zu einem gänzlich unvorbereiteten Publicum
0095sprach. Es ist von den Herren Rosé, Siebert, Bachrich
0096und Hummer, denen sich der tüchtige Clarinettist Herr
0097Steiner anschloß, vortrefflich gespielt worden.
0098Wer von den concertirenden Virtuosen der letzten Woche
0099das größte Aufsehen gemacht hat? Der kleinste Pianist, Raoul
0100Koczalski, und die jüngste Violinspielerin, Bianca
0101Panteo. Das frische, blauäugige Mädchen mit dem hellen
0102Teint und dem lang herabhängenden Blondhaar sieht mehr
0103deutsch als italienisch aus. Die junge Virtuosin — sie hat
0104das Mailänder und das Pariser Conservatorium mit Aus-
0105zeichnung absolvirt — ist ein gesundes, unverkrüppeltes
0106Talent, dem eine bedeutende Zukunft bevorsteht. Der auf-
0107fallend große Ton, den sie ihrer prächtigen Geige entlockt,
0108ihre hochentwickelte Geläufigkeit, die Sicherheit ihrer Technik
0109wie ihres Gedächtnisses glänzten besonders in dem Vortrag
0110der G-moll-Sonate von Tartini und des Perpetuum
0111mobile von F. Ries. Dabei verräth sie keinerlei Anstren-
0112gung; vielmehr macht die unbefangene kindliche Heiterkeit des
0113rothwangigen Mädchens den angenehmsten Eindruck. ... Zwei
0114junge und doch schon zur vollen Meisterschaft gediehene Violin[2]-
0115spieler sind kürzlich in eigenen Concerten mit großem Erfolg
0116aufgetreten. Den Einen, Hanns Wessely, haben wir gelegentlich
0117seines ausgezeichneten Vortrages des Violin-Concerts von
0118Brahms bereits gewürdigt. Der Name des Anderen, Max
0119Lewinger, war bisher unbekannt, dürfte aber bald zu den
0120gefeierten gehören. Der etwa zwanzigjährige unscheinbare
0121junge Mann spielte das Mendelssohn’sche Concert mit einer
0122Vollendung, wie wir es nur von den größten seiner Geigen-
0123collegen gehört haben. Mit imponirender Ruhe beherrscht er
0124die größten technischen Schwierigkeiten, und sein musikalisches
0125Verständniß und feines, warmes Gefühl stehen mit seiner
0126Bravour auf gleicher Höhe. Sowol Wessely wie Lewinger
0127sind Schüler unseres ausgezeichneten Violin-Professors
0128M. Grün. Er kann auf Beide stolz sein ... Von Beifall
0129umrauscht und mit Blumen bedeckt, kann die Pianistin
0130Fräulein Ella Pancera mit Befriedigung auf ihr letztes
0131Concert zurückblicken. Sie ist eine erstaunliche Bravour-
0132spielerin. Wir würden sie eine große Künstlerin nennen,
0133wäre ihr Vortrag so geistvoll und beseelt, wie er technisch
0134brillant ist.
0135Am letzten Sonntag hörten wir „Don Juan“. Nicht
0136den von Mozart — nein, ganz im Gegentheil. Richard
0137Strauß heißt der Componist des neuesten „Don Juan“,
0138den die Philharmoniker uns vorgeführt haben. Das Werk,
0139ganz allgemein „Tondichtung“ überschrieben, nähert sich in
0140Form und Inhalt am meisten den symphonischen Dichtun-
0141gen von Liszt. Als Motto ist der Partitur ein längeres
0142Citat aus Lenau’s „Don Juan“ vorgesetzt. „Der Zauber-
0143kreis, den unermeßlich weiten, — Von vielfach reizend schö-
0144nen Weiblichkeiten — Möcht’ ich durchzieh’n im Sturme
0145des Genusses“ u. s. w. Daß die Tendenz des musikalischen
0146Nachmalens, Nachdichtens von Richard Strauß mit Bewußt-
0147sein cultivirt wird, bezeugen auch seine übrigen symphonischen
0148Dichtungen, z. B. „Tod und Verklärung“, „Macbeth“.
0149Ganz so weit geht er noch nicht, wie ein neuester englischer
0150Componist (Wadham Nicholl), der sein Orchesterwerk
0151Hamlet, „eine Seelenstudie“ (a psychic sketch) nennt!
0152Aber die Tendenz ist doch dieselbe: die reine Instrumental-
0153Musik als bloßes Mittel zur Schilderung bestimmter Vor-
0154gänge zu benützen, mit musikalischen Mitteln nicht zu musi-
0155ciren, sondern zu dichten und zu malen. Hektor Berlioz ist
0156bekanntlich der Stammvater dieser sich noch immer vermeh-
0157renden jungen Generation von Tonpoeten. Mit Liszt und
0158Wagner bildet er die Dreieinigkeit, auf welche im
0159Wesentlichen Alles zurückzuführen ist, was diese Jün-
0160geren können und wollen. Sie haben in einseitigem
0161Studium dieser drei genialen Orchesterkünstler sich eine er-
0162staunliche Virtuosität in Klangeffecten erworben, die kaum
0163mehr zu überbieten ist. Die Farbe ist ihnen Alles, der
0164musikalische Gedanke nichts. Was ich gelegentlich des
0165„Meeres“ von Nicodé ausgesprochen, gilt noch viel mehr
0166von Richard Strauß: Die Virtuosität im Orchestriren ist
0167heute ein Vampyr geworden, welcher der schöpferischen Kraft
0168unserer Tondichter das Blut aussagt. An Erfolgen fehlt
0169es dieser Art von äußerlich blendenden Compositionen nicht.
0170Ich habe Damen und Wagner-Jünglinge von dem Strauß’-
0171schen „Don Juan“ mit einer Begeisterung reden hören, daß
0172ihnen bei der bloßen Erinnerung ein wollüstiger Schauer
0173über den Rücken zu laufen schien. Andere fanden das Ding
0174einfach abscheulich, und diese Empfindung scheint mir die rich-
0175tigere zu sein. Das ist kein „Ton-Gemälde“, sondern ein
0176Tumult von blendenden Farbenklecksen, ein stammelnder Ton-
0177rausch, halb Bacchanale, halb Walpurgisnacht. Es heißt
0178Herrn Richard Strauß viel zu viel Ehre erweisen, wenn
0179man ihn (wie irgendwo zu lesen stand) mit Hanns Makart
0180vergleicht, der selbst in seinen schwächsten Stunden ein größerer
0181Künstler war und die Grenzen seiner Kunst rein hielt. Aber
0182ein scharfes Wort, das der Aesthetiker Vischer einst über
0183Makart’s „Abundantia“ aussprach, kann man immerhin auf
0184diesen „Don Juan“ anwenden. „Man hat hier,“ sagt Vischer,
0185„nicht etwa ein Bild trunkener, doch gesunder Sinnenselig-
0186keit vor sich, wogegen nur ein Pietist und Moralist eifern
0187könnte, sondern ein Bild nervös erhitzter und auf der Höhe
0188der heißgebrühten Wonne schon halb brecherischer Sinnlich-
0189keit.“ Wer nichts Anderes von einem Orchesterstück verlangt,
0190als daß es ihn in die wüste Ekstase eines nach „allen Weib-
0191lichkeiten“ lechzenden Don Juan versetze, dem mag diese
0192Musik gefallen; denn mit ihrer raffinirten Geschicklichkeit
0193erreicht sie den genannten Zweck, so weit er eben musi-
0194kalisch erreichbar ist. Der Componist gleicht da einem
0195routinirten Chemiker, der alle Elemente musikalisch-sinn-
0196licher Aufreizung äußerst geschickt zu einem betäubenden
0197„Luftgas“ zu mischen versteht. Für mein Theil mag ich bei
0198aller Anerkennung solcher Mischkunst doch nicht ihr Opfer
0199sein, kann es nicht einmal, weil dergleichen musikalische
0200Narkosen mich vollständig kalt lassen. Schade, daß es nicht
0201auch eine musikalische „Freie Bühne“ gibt für den emancipirten
0202Naturalismus in der Instrumentalmusik, das wäre der
0203rechte Ort für „Tongemälde“ à la Richard Strauß. Ob er
0204ein großes Talent sei? Höchstens ein großes Talent für
0205falsche Musik, für häßliche Musik. Daß er, als Zögling der
0206Berlioz-Liszt-Wagner’schen Schule den denkbar größten
0207Apparat für seine „Tondichtung“ in Bewegung setzt, ver-
0208steht sich von selbst. Gleich im vierten Tact rauschen zwei
0209Harfen „glissando“ in die Höhe und werden die Becken
0210„mit Holzschlägel“ tractirt, bald darauf vereinigen sich
0211abenteuerlich glucksende Töne der Flöten mit dem Geschmetter
0212aller Blechinstrumente, die höchsten (bisher im Orchester un-
0213gebräuchlichen) Töne der Violine schneiden glasscharf in unser
0214Ohr, ein Glockenspiel erhebt jeden Augenblick sein kindisches
0215Geklingel — kurz ein Effect jagt den andern, tödtet den andern.
0216Dazwischen fliegen kleine Melodie-Ansätze, Fetzen Wagner’scher
0217Motive rathlos umher; wir warten vergebens auf eine Ent-
0218wicklung musikalischer Ideen, auf ein bischen logisches Denken
0219und natürliches warmes Empfinden, bis wir schließlich ebenso
0220matt zusammenknicken, wie dieser Don Juan, dem nach
0221Lenau und Richard Strauß „der Brennstoff verzehrt ist“.
0222Fast möchten wir wünschen, es würden bald noch recht viel
0223solcher Tongemälde componirt als non plus ultra einer falschen,
0224zügellosen Richtung. Eine gesunde Reaction könnte dann
0225nicht ausbleiben, die Rückkehr zu einer gesunden, zu einer
0226musikalischen Musik. Das Unglück ist, daß die meisten unserer
0227jüngeren Componisten in einer fremden Sprache denken
0228(Philosophie, Poesie, Malerei) und das Gedachte erst in die
0229Muttersprache (Musik) übersetzen. Leute wie Richard Strauß
0230übersetzen obendrein schlecht, nämlich unverständlich, geschmack-
0231los, überladen. Wir sind nicht so sanguinisch, den Rückschlag
0232gegen diesen emancipirten Naturalismus der Instrumental-
0233musik für unmittelbar bevorstehend zu halten — aber kommen
0234muß er.