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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9849. Wien, Dienstag, den 26. Januar 1892

[1]

Musik.


0002Ed. H. „Brahms und Joachim“ — so hieß die
0003Signatur der letzten Musikwoche. Nichts konnte erwünschter
0004sein. Brahms und Joachim bilden heute unstreitig die stärksten
0005Pfeiler guter Musik; jener als schaffender, dieser als aus-
0006übender Meister. Der Eine wie der Andere hat sich auf
0007seinem Gebiet zum Ersten unter den Zeitgenossen aufge-
0008schwungen; Beide schaffen seit nahezu fünfzig Jahren unbe-
0009irrt im Dienste des Idealen, sind wahre Priester der Musik
0010ohne pietistischen Beischmack. Jedem von ihnen dankbar
0011anhänglich, freuen wir uns doch am meisten, wenn Beide
0012zusammen musiciren; ein wohlthuendes Bild erprobter
0013Künstler- und Männerfreundschaft. „Zwei geniale Burschen“,
0014wie Robert Schumann sie in Düsseldorf genannt, lernte ich
0015Brahms und Joachim im Frühling 1855 dort kennen,
0016bei dem von Hiller dirigirten Musikfest. Sie erinnerten mich an
0017die schmucken Holkischen Jäger in Wallenstein’s Lager, wenn sie
0018so fröhlich Arm in Arm den „Ananasberg“ herabschritten, ein
0019bescheidenes Hügelchen, auf dem ein nach rheinischen Begriffen
0020vorzüglicher Kaffee geschänkt wurde. Der zweiundzwanzig-
0021jährige Brahms, ein schmächtiger Idealjüngling mit rosig
0022zartem Gesicht und langem Blondhaar; der um zwei Jahre
0023ältere, ernster blickende Joachim, gleichfalls bartlos, dunkel
0024von Teint und Haaren — wie freuten sie sich gemeinsam
0025der blühenden Pfingstzeit! Wie leuchtete auf ihren Gesichtern
0026das beneidenswerthe Glück: Ruhm in jungen Jahren! Und
0027wieder sehen wir sie jetzt Hand in Hand vor das Publicum
0028treten, das sie mit anhaltend herzlichem Zuruf begrüßt. In
0029den siebenunddreißig Jahren seit jenem Düsseldorfer Musikfest
0030hat Brahms Zeit gehabt, sich einen ehrwürdig weißen Bart
0031und Joachim wenigstens einen graugesprenkelten anzuschaffen;
0032im Uebrigen sind Beide stramm und frisch geblieben. Im
0033tüchtigen Musiciren webt eine erhaltende, verjüngende
0034Kraft. Das zeigten uns wieder die beiden Kammermusik-
0035Abende des trefflichen Berliner Quartetts (Joachim,
0036de Ahna, Wirth und Hausmann), dem sich der
0037Meiningen’sche Hofmusiker Mühlfeld mit der Clarinette
0038und Brahms am Clavier anschlossen. Wir hörten da
0039je ein Quartett von Mozart (G-dur) und Schumann 
0040(F-dur), zwei von Beethoven (C-dur, op. 59, und
0041B-dur, op. 130) und die neuen Clarinett-Compositionen
0042(Trio und Quintett) von Brahms. Die beiden letzteren
0043— die stärksten Magnete des so anziehenden Programms —
0044sind gelegentlich ihrer Erstaufführung bei Rosé und Hellmes-
0045berger besprochen worden. Ich könnte kaum Neues von
0046ihnen melden, höchstens Schöneres; denn sie haben mir noch
0047besser gefallen, als damals. Dem Publicum schien es ebenso
0048zu gehen, da es beiden Werken nicht mehr ganz fremd
0049gegenüberstand. Unbeschreiblichen Jubel erregte wieder das
0050Quintett, dieses Meer von Wohllaut, Wärme und genialen
0051Ideen. Daß das A-moll-Trio von der helleren Sonne des
0052Quintetts überstrahlt wurde, ist begreiflich. In allen Theilen
0053kunstvoll und geistreich, vermag es doch nur in Einem Satze
0054— dem Schubert verwandten, lieblichen Allegretto — un-
0055mittelbar und unwiderstehlich zu fesseln. Den Themen der
0056übrigen drei Sätze fehlt die reizvolle, sich einprägende Melodik,
0057und während im Quintett die Instrumente aus voller
0058Seele singen, ziehen sie im Trio vor, zu grübeln, zu
0059reflectiren. Die Aufführung war von idealer Schönheit.
0060Joachim’s „Berliner Quartett“, das wir bereits
0061vor zwei Jahren schätzen gelernt, bedarf keiner neuen Lobes-
0062erhebung; es besteht aus vier vortrefflichen Musikern, deren
0063Kunst und Spielfreudigkeit im Zusammenwirken noch zu
0064wachsen scheint. Neu war uns hingegen Herr Mühlfeld.
0065Wir entsinnen uns keines Clarinett-Virtuosen, der sein
0066schwieriges Instrument so meisterhaft behandelt hätte. Sein
0067Ton ist in allen drei Registern gleich rund, klangvoll und
0068warm; selbst die gefährlichsten hohen Töne, wie sie in den
0069leidenschaftlichen Stellen des Quintett-Adagios in Anspruch
0070genommen sind, klingen nicht schreiend. Mächtig wirken die
0071tiefen Chalumeaux-Töne, zauberhaft das Pianissimo in der
0072Mittellage. Herr Mühlfeld spielte seinen Part ungefähr, wie
0073ein seelenvoller italienischer Gesangsmeister ihn vortragen
0074würde. Wir danken Joachim und seinen Genossen zwei un-
0075vergeßlich schöne Abende.


0076Gleichzeitig mit Joachim’s erstem Kammermusik-Abend
0077spielte das Quartett Rosé bei Bösendorfer — gleichfalls
0078bei gedrängt vollem Saal. Eine sehr erfreuliche Thatsache,
0079welche pessimistischen Anschauungen gegenüber nachdrücklich
0080betont zu werden verdient. Wenn den Wienern Vortreffliches
0081geboten wird, so gehen sie nicht daran vorüber. Von den 
0082durchschnittlich 40 Concerten im Monat, mit denen wir be-
0083glückt werden, kann freilich nicht jedes verlockend sein. Und
0084da erfreut uns die Wahrnehmung, daß unsere Concertbesucher
0085sich jetzt viel eifriger der guten Orchester- und Kammermusik
0086zuwenden, als den Virtuosen-Productionen. Im letzten Rosé-
0087Quartett ist, wie uns berichtet wird, eine Sonate für Violine
0088und Clavier von Robert Fischhof mit großem Beifall von
0089Herrn Rosé und dem Componisten gespielt worden. Herr
0090Fischhof hat das für beide Spieler sehr dankbare Stück bereits
0091wiederholt in Paris mit bedeutendem Erfolg vorgetragen.


0092Die dritte Quartett-Soirée des Herrn Julius
0093Winkler
erfreute durch die sehr gelungene Ausführung
0094eines vortrefflichen Programms. Ein entzückend liebliches
0095Quartett von Mozart (D-dur, aus den dem König von
0096Preußen gewidmeten) versetzte gleich anfangs Alles in die
0097glücklichste Stimmung. Das darauf folgende Trio von
0098Brahms für Clavier, Geigen und Waldhorn ist bereits
0099öfter gespielt worden, aber kaum noch so schön. Es ist nicht
0100leicht, in einer Stadt, deren beste Bläser doch nur an das
0101Orchesterspiel gewöhnt sind, einen vollkommen ausreichenden
0102Künstler für diese sehr schwierige Waldhornpartie zu finden.
0103Herr Savart, ein im Prager Conservatorium gebildeter
0104junger Musiker, zeigte sich durch Schönheit des Tones und
0105seelenvollen, dabei stets discreten Vortrag dieser Aufgabe
0106durchaus gewachsen. Da auch die Violinstimme durch Herrn
0107Winkler und der Clavierpart durch Herrn Hugo Rein-
0108hold
vorzüglich ausgeführt wurden, so gewährte das Trio,
0109dessen Schönheiten eben nicht auf der Oberfläche liegen,
0110einen seltenen Genuß. Das eigenartige, ideenreiche Werk
0111ist auch formell einzig in seiner Art — ein Trio mit
0112Waldhorn und Violine hat es vor Brahms nicht gegeben.
0113Herr Winkler brachte als dritte Nummer Beethoven’s 
0114großes A-moll-Quartett, op. 132, nachdem Tags vorher
0115Joachim mit dem Beethoven’schen B-dur-Quartett, op. 130,
0116geschlossen hatte. Ich weiß, daß es fast überall Sitte ist, das
0117schwere Geschütz der letzten Beethoven’schen Quartette an
0118letzter Stelle aufzuführen, glaube aber trotzdem, daß sich
0119gegen diese Reihenfolge Erhebliches einwenden läßt. Im ganzen
0120Bereich der Quartettmusik gibt es keine Compositionen, die
0121so große Anforderungen an die Aufmerksamkeit der Zuhörer
0122stellen, als diese letzten Beethoven’schen. An Umfang und
0123mysteriöser Gedankentiefe alles Aehnliche überragend, erfordern [2]
0124sie eine geistige Concentration, welche von einem Publicum,
0125das in gedrängt vollem heißen Saal bereits zwei Quartette
0126gespannter Aufmerksamkeit verfolgt hat, kaum zu erwarten
0127ist. Mit einiger Uebertreibung hat bekanntlich Schumann 
0128behauptet, von drei Quartetten höre der Musiker nur Eines,
0129der Dilettant zwei, das große Publicum alle drei. Auf jeden
0130Fall wird das dritte Quartett im Auditorium stets eine
0131geringere Empfänglichkeit vorfinden, als die beiden ersten
0132Stücke. Und das ist doch gerade für Beethoven nicht zu
0133wünschen.


0134Virtuosen-Concerte gab es in den letzten vierzehn Tagen
0135von jeder Gattung — mehr als genug. Es soll nicht ver-
0136schwiegen sein, daß viele davon recht mittelmäßig besucht
0137waren und selbst die scheinbar „erfolgreichen“ selten einen
0138finanziellen Erfolg erzielten. Man weiß ja, wie heutzutage
0139in der Noth „salle comble“ gemacht wird. Das Publicum
0140ist dieser Ueberschwemmung mit kleinen Virtuosen-Concerten
0141herzlich müde — aber da nützt keine Warnung. Als eine
0142beachtenswerthe Erscheinung nennen wir die hessische Kammer-
0143sängerin Fräulein Finkenstein. Ihre Stimme, ein kräf-
0144tiger wohllautender Alt, ist so gut geschult, daß sie trotz ihres
0145schweren Kalibers Triller und Coloraturen mühelos bewäl-
0146tigt. Ihr correcter, nobler Vortrag macht einen durchaus
0147künstlerischen Eindruck, der allerdings die Poesie und seelen-
0148volle Innigkeit nicht erreicht, durch welche die Spies und
0149mehr noch die Barbi uns gefangen nehmen. ...
0150Eine virtuose Pianistin lernten wir in Fräulein Sophie
0151v. Poznanska kennen. Das temperamentvolle junge
0152Mädchen, das mit ihren schwarzen Augen und pikantem
0153russischen Näschen gar frisch und zuversichtlich in
0154die Welt hinausschaut, ist eine Schülerin Rubinstein’s.
0155Sie hat ihrem Meister wirklich Einiges abgelernt; den safti-
0156gen schönen Anschlag, den kühnen Wurf im Passagenspiel,
0157leider auch das Uebertreiben der schnellen Tempi, wie es am
0158auffallendsten in den Davidsbündlertänzen von Schumann 
0159hervortrat. So viel Kraft und Ausdauer sind bewunderungs-
0160würdig bei so zarter Leiblichkeit. Daß Fräulein Poznanska 
0161sich keine leichten Aufgaben stellt, bewies gleich ihre erste
0162Vortragsnummer, Chopin’s H-moll-Sonate, welche sie tech-
0163nisch vollkommen bewältigte. Ihr Meister Rubinstein war 
0164nicht sehr vortheilhaft vertreten durch ein Salonstücklein, das
0165Melodie“ überschrieben ist, sich aber weder durch Melodie
0166noch sonst irgend etwas auszeichnet. Fräulein Poznanska 
0167spielte unter großem Beifalle den ganzen Abend hindurch allein.
0168Das ist etwas einförmig, doch immerhin noch besser als die
0169kläglichen „Zwischennummern“, mit denen wir in jüngster
0170Zeit so häufig bewirthet wurden: distonirende Sängerinnen,
0171unreife Pianisten, talentlose Pianistinnen. Unsere Concert-
0172Arrangeure, welche fremden Virtuosen diese bedenklichen „ein-
0173heimischen Kräfte“ als Mitwirkende empfehlen oder octroyiren,
0174mögen bedenken, daß für das Wiener Concert-Publicum das
0175Schlechteste doch nicht gerade gut genug ist — nicht einmal
0176in „Zwischennummern“. Diese liberale Praxis dürfte, länger
0177fortgesetzt, den Besuch der Virtuosen-Concerte noch vermin-
0178dern, was sie in der That nicht nöthig haben.


0179Von größeren Concerten ist noch die Aufführung der
0180Jahreszeiten“ durch die Gesellschaft der Musikfreunde
0181zu nennen. Das trotz seiner 90 Jahre noch immer jugend-
0182frische Meisterwerk Haydn’s wurde mit warmer Theilnahme
0183gehört und brachte dem Dirigenten Herrn Gericke, sowie
0184den Solosängern Fräulein Standthartner, Herrn
0185Walter und Herrn Staudigl reichlichen Beifall. Ins-
0186besondere Fräulein Standthartner, die wir zum ersten-
0187male in einer umfangreichen Partie hörten, darf sich ihres
0188Erfolges freuen. Ihre kleine, aber geschmeidige Sopranstimme
0189kommt dem Ausdrucke zierlicher, heiterer Lyrik willig ent-
0190gegen. Einen besseren „Lucas“ als Herrn Walter konnte
0191dieses „Hannchen“ sich schwerlich wünschen. Was dieser un-
0192verwüstliche Gesangskünstler auch vortragen mag, es klingt
0193Alles liebenswürdig. Ist vollends die Musik selbst so liebens-
0194würdig, wie die Tenorpartie in den „Jahreszeiten“, so gibt
0195es einen vollen Genuß, eine reine Freude.


0196„In all’ und jeder Zeit verknüpft sich Lust und Leid“ —
0197so lautet das Motto über Schumann’s Davidsbündlertänzen.
0198Auch ein Musik-Feuilleton kann nicht immer so heiter
0199schließen, als es angefangen hat. Die musikalischen Kreise
0200Wiens sind schmerzlich bewegt von dem plötzlichen Hinschei-
0201den eines Sängers, der seine Kunst zwar nicht berufsmäßig,
0202aber mit desto leidenschaftlicherer Hingebung ausgeübt hat.
0203Feldmarschall-Lieutenant Anton Haizinger ist niemals 
0204öffentlich aufgetreten, hat aber einen weiten Kreis von Freun-
0205den und Bekannten jahrelang durch seine Gesangsvorträge
0206erfreut. Man wunderte sich oft, daß er sich nicht der Bühne
0207gewidmet hatte. Günstiger konnte man zu diesem Behuf
0208nicht auf die Welt kommen, denn als Sohn der großen
0209Schauspielerin Amalie Haizinger und des gefeierten Teno-
0210risten Anton Haizinger. Mama Haizinger, bis ins hohe
0211Alter ein unvergleichlicher und unersetzlicher Schmuck des
0212Burgtheaters, war selbst eine talentvolle, wenngleich natura-
0213listische Sängerin. Sie gehörte noch zu jenen gefeierten ersten
0214Darstellerinnen der „Preciosa“, welche die Lieder des Zigeuner-
0215mädchens sehr beifällig sangen, und noch vierzig Jahre später
0216freute sich das ganze Burgtheater, wenn sie in „Lorle“ die
0217kleinen zweistimmigen Volkslieder mit ihrer Tochter Louise
0218Neumann anstimmte. Der Vater unseres Generals Haizinger 
0219war der erste Adolar in Weber’s „Euryanthe“. Bei der
0220ersten Aufführung dieser für Wien geschriebenen Oper
0221(25. October 1823) errang er den Beifall des Publicums
0222und des persönlich dirigirenden Componisten. Er besaß eine
0223kräftige, wohlgeschulte Tenorstimme und war perfect musi-
0224kalisch. „Da ist Feuer und Kraft in der Höhe!“ schrieb von
0225ihm C. M. Weber. Sein Vortrag war mehr correct als
0226leidenschaftlich und erinnerte im Verein mit seinem steifen
0227Spiel an den ehemaligen Schullehrer. Ich denke mir ihn
0228ungefähr wie eine ältere Ausgabe des trefflichen Vogl in
0229München, von dessen schimmernder Lohengrin-Rüstung man
0230auch noch einige Schulstäubchen wegblasen möchte. In London 
0231hat Haizinger in den denkwürdigen deutschen Opern-Vor-
0232stellungen (1832) an Seite der Schröder-Devrient den
0233Florestan mit großem Erfolg gesungen. („A meritorious musi-
0234cian with an ungainly presence“ kritisirte ihn Chorley.) Wie es
0235gekommen ist, daß der Sohn dieses Elternpaares, der stattliche
0236junge Mann mit der herrlichen Stimme, sich nicht der Oper
0237widmete? Es ist eine alte Erfahrung, daß die meisten
0238Theaterkinder durchaus zur Bühne wollen, die Eltern aber
0239desto nachdrücklicher dagegen sprechen. Erstere sehen nur die
0240verlockenden Seiten, Letztere nur die dunklen des Theater-
0241lebens. Dem jungen Haizinger ließ man gar nicht Zeit zu
0242einem Schwanken in der Berufswahl. Auf den Rath einer
0243hochgestellten Persönlichkeit schickten ihn die Eltern von Karls[3]-
0244ruhe in eine militärische Akademie nach Wien, da sie hoff-
0245ten, das unbändige Naturell des Knaben durch militärische
0246Erziehung zu dämpfen. Siebzehnjährig trat Haizinger als
0247Lieutenant aus der Akademie, um bald als Ordonnanz-
0248Officier des Feldmarschalls Radetzky dessen ausgesprochener
0249und bevorzugter Liebling zu werden. Durch seinen Gesang wurde
0250er auch in allen militärischen Kreisen ein Freudenbringer. So
0251blieb Haizinger Soldat, ein tapferer Officier und guter Kamerad.
0252Das Soldatische in seinem Wesen erschien mir stets charak-
0253teristisch auch für die Art seines Vortrags. Da klang Alles
0254beherzt, kraftvoll, entschlossen, von Enthusiasmus durchglüht.
0255Wenn Haizinger den „Zwerg“, „Die Allmacht“, „Kriegers
0256Ahnung“ und ähnliche starke Lieder sang, so packte er die
0257Hörer durch das Erz seiner ausdauernden Stimme und den
0258männlichen, energisch declamirten Vortrag. Er beherrschte ein
0259sehr großes Repertoire von Liedern, die er auswendig sang.
0260Da stellte er sich mit dem Rücken gegen das Clavier und
0261gerieth, da er kein Notenblatt in Händen hatte, unversehens
0262in ein leichtes Agiren. Wenn ihn der Rhythmus anfeuerte,
0263that er auch unwillkürlich einige Schritte vorwärts, wodurch
0264kecke Lieder wie „Der Hidalgo“ von Schumann eine
0265ganz eigene Lebendigkeit erhielten. Ich habe Haizinger 
0266zum erstenmal vor fünf Jahren zu hören bekommen,
0267als sein von Mama Haizinger mir oft gepriesener
0268„herrlicher Tenor“ doch nicht mehr viel Schmelz
0269und Wohllaut besaß. Daß er „für seine Jahre“ noch prächtig
0270singe, mochte er freilich nicht hören; er wollte lieber gar
0271nicht, als mit dieser Einschränkung gelobt sein. Mit seiner
0272Kunst nahm er es sehr ernst. Er lernte nicht leicht, aber
0273wenn er ein Lied einmal inne hatte, so saß es in seinem
0274untrüglichen Gedächtniß fest für die Ewigkeit. Noch in seinen
0275letzten Augenblicken revoltirte der Sänger in ihm. Durch
0276seine Fieberphantasien klangen unaufhörlich Bruchstücke aus
0277Schubert’schen Liedern. Zuletzt, als deutliche Todesahnung,
0278das „Nachtstück“ mit dem ergreifenden Schluß: „Der Alte
0279horcht, der Alte schweigt; der Tod hat sich zu ihm geneigt“.
0280Mit diesen Worten, diesen Tönen auf den Lippen ist Hai-
0281zinger gestorben. Auf sein Grabmal gehört unter dem Namen
0282Haizinger, der für sich schon ein künstlerisches Allianz-
0283wappen bedeutet, als Emblem: Leyer und Schwert.