Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9872. Wien, Donnerstag, den 18. Februar 1892
[1]Hofoperntheater.
(„Werther“, Oper in drei Acten von J. Massenet.)
0003Ed. H. Auf die Frage, welche musikalische Individualität
0004wol die nächste Verwandtschaft mit Goethe’s Werther-Dich-
0005tung offenbare, möchte ich mit dem Namen Schumann
0006antworten. Sein tiefes, nach Innen zehrendes Gefühlsleben,
0007sein sensitives, liebenswürdig träumerisches Wesen — das
0008Alles müßte zu den „Leiden des jungen Werther“ wie ein
0009harmonischer Oberton erklingen. Für alle die poetischen Ele-
0010mente, welche die wunderbare Dichtung Goethe’s beherrschen,
0011finden wir in Schumann’s Musik die entsprechenden Töne:
0012für das innige Naturleben mit seinen geheimnißvollsten
0013Regungen den „Eichendorff’schen Liederkreis“; für die Her-
0014zensgeschichte den „Heine- und Rückert-Cyklus“; für den
0015düsteren Ausgang endlich den „Manfred“. Eine Oper
0016freilich bedarf neben der Lyrik noch einer starken
0017dramatischen Triebkraft, und diese ist nirgends schwerer
0018auszulösen, als aus dem Wertherstoffe. Schumann, dem der
0019dramatische Nerv und noch mehr das Auge für Theater-
0020wirkung fehlte, wäre uns nach dieser Richtung unzweifelhaft
0021viel schuldig geblieben. Er scheint auch einen „Werther“ nie
0022im Sinne gehabt zu haben, obschon er mit seinem Opern-
0023project „Abälard und Heloise“ nicht gar weit davon stand.
0024Kein einziger deutscher Tondichter hat, trotz der verlockenden
0025Popularität des Stoffes, nach Goethe’s „Werther“ gegriffen.
0026Zunächst wol aus pietätvoller Scheu — wie denn überhaupt
0027unsere Classiker nicht von Deutschen, sondern von Franzosen
0028und Italienern für Opernzwecke benützt zu werden pflegen
0029— sodann aus begründetem Mißtrauen gegen die undramatische
0030Natur des Werther. Die romanischen Völker standen dem Ge-
0031dichte objectiver, unbefangener — um nicht zu sagen ungenirter
0032— gegenüber, durften sich auch mehr als die Deutschen das
0033Talent zutrauen, dem Werther aus Eigenem das nöthige
0034Theaterblut einzuflößen. Es ist bezeichnend, daß die erste
0035Werther-Oper von einem Franzosen herrührt, von Rodolphe
0036Kreuzer, demselben, welcher durch die Dedication der be-
0037kannten Beethoven’schen Violin-Sonate ein Stück Unsterblich-
0038keit mitgenießt. Kreuzer’s einactige Oper „Werther et Char-
0039lotte“ wurde inmitten der Pariser Revolutionsstürme im
0040Februar 1792 zum erstenmale gegeben, also genau hundert
0041Jahre vor der Première des „Werther“ von Massenet.
0042Nach Rodolphe Kreuzer haben auch einige Italiener
0043zweiten und dritten Ranges Werther-Opern zur Auf-
0044führung gebracht: Benvenuti, Pucitta und
0045Coccia zu Anfang dieses Jahrhunderts, Gentili
0046und Aspa in den Sechziger-Jahren. Das Alles
0047ist längst verweht und verschollen. Die naive, ausschließlich
0048melodische Compositionsweise jener älteren Tondichter konnte
0049sich einem Stoffe wie Werther nicht anpassen; das Compo-
0050niren wurde unabsichtlich zum Parodiren. Unsere moderne
0051Musik, die mit der psychologischen Sonde in jeden Gefühls-
0052reflex einzudringen gelernt hat und dessen „wahrheitsgetreue“
0053Darstellung auch auf Kosten musikalischer Schönheit anstrebt,
0054sieht die Sache aus einem andern Gesichtspunkte an und
0055kommt mit den neuen Methoden und Hilfsmitteln ihr jeden-
0056falls näher. Unsere heutigen Opern-Componisten haben eine
0057früher nicht gekannte Pietät für das Original-Drama, dem
0058sie ihr Libretto nachbilden. Ehedem machten Textdichter und
0059Componisten sich einfach gar nichts aus der Original-
0060Dichtung; jetzt folgt man derselben so getreu, als es inner-
0061halb der Bedingungen eines gesungenen Werkes eben mög-
0062lich ist. Man vergleiche in Bezug auf das Textbuch den
0063„Romeo“ von Gounod mit dem von Bellini, Verdi’s
0064„Othello“ mit dem von Rossini, Gounod’s „Faust“ mit
0065dem Spohr’schen u. s. w. Dieses gewissenhaftere Verhalten
0066gegen Goethe’s Werther beobachtet auch Massenet. Der
0067Schauplatz, die Personen, die Motivirung, der Verlauf der
0068Handlung, Alles ziemlich getreu nach Goethe, bis auf den
0069Schluß. Dieser ist hinzuerfunden, halb willkürlich, halb
0070nothgedrungen; denn sollte überhaupt aus „Werther“ eine
0071Oper werden, so mußte man wol Lotten noch einmal mit
0072dem sterbenden Werther zusammenbringen. Der Schluß
0073widerstrebt uns, ist aber leichter zu tadeln, als zu verbessern.
0074Der erste Act spielt in dem Gartenhaus des Amt-
0075mannes. Wir sehen die fröhliche Kinderschaar, der Lotte das
0076Abendbrot austheilt, den eintretenden Werther, der die Scene
0077entzückt betrachtet. Manche charakteristischen Züge und Reden
0078sind glücklich aus Goethe herübergenommen, z. B. wie
0079Werther das kleinste Kind an sich drückt und küßt, mit
0080Lottes Zurechtweisung: „Der Vetter thut dir nichts!“ Nun
0081kommen die Bekannten, um Lotte zum Ball nach Wahlheim
0082abzuholen. Hier sind ein paar die Scene belebende Neben-
0083figuren hinzuerfunden: zwei nach dem Wirthshaus gravi-
0084tirende Freunde des Amtmanns und ein für Klopstock
0085schwärmendes Brautpaar — kleine Beigaben, die man dem
0086Librettisten willig zugestehen kann. Findet er doch keine
0087brauchbaren Nebenfiguren in Goethe’s Roman; weder die
0088Begegnung Werther’s mit dem Wahnsinnigen, noch der ver-
0089abschiedete Knecht oder das „adelige Fräulein von B.“ waren
0090für die Handlung zu verwenden. — Bei hereinbrechen-
0091der Nacht kehrt Werther mit Lotte vom Balle heim;
0092er ist Feuer und Flamme, spricht ihr von Liebe
0093— da ruft der Vater: „Albert ist schon zurück!“
0094Zum erstenmal hört Werther diesen Namen und erfährt
0095von Lotte dessen Bedeutung. Sie kehrt still ins Haus zurück;
0096Werther stürzt mit dem Ausruf: „Ein Anderer ihr Gemal!“
0097verzweifelt davon. ... Der zweite Act spielt auf dem
0098freien Platz vor der Dorfkirche in Wahlheim. Albert und
0099Lotte, seit drei Monaten glücklich verheiratet, kommen zur
0100Feier der goldenen Hochzeit des Pastors. Voll Schmerz und
0101Eifersucht blickt Werther ihnen nach. Er beschließt zu fliehen,
0102für immer. Lotte versüßt ihm ihren strengen Tadel mit dem
0103Vorschlag, zum Weihnachtsfest wiederzukommen. Hier packt
0104ihn zuerst der Gedanke an Selbstmord. „Wenn sich ein
0105Kind zu früh nach Haus zurückgefunden“ — die Stelle ist
0106ziemlich getreu nach Goethe. Sophie (so heißt auch bei
0107Goethe Lottens jüngere Schwester) kommt mit einem Blumen-
0108strauß fröhlich herangesprungen und fordert Werther zum
0109Tanz auf. Er aber rennt wie ein Wahnwitziger querfeldein,
0110während der Festzug der Dorfbewohner mit Vivat-
0111Rufen über die Bühne zieht. ... Im dritten
0112Act blicken wir durch Lottens Fenster auf schnee-
0113bedeckte Dächer. Es ist Weihnachtsabend. Lotte sucht die
0114Briefe Werther’s hervor und liest sie mit schmerzlicher Be-
0115wegung. Da tritt unerwartet Werther ein. Er liest ihr aus
0116Ossian vor: „Was bin ich aufgewacht, die schöne Frühlings-
0117zeit?“, getreu nach Goethe. Die Scene spielt sich ab, wie
0118im Roman. Nachdem Werther Lotte leidenschaftlich an seine
0119Brust gedrückt, springt sie auf und eilt auf „Nimmerwieder-
0120sehen“ in ihr Gemach, das sie versperrt. Werther eilt davon. [2]
0121Albert tritt ein und gleich nach ihm ein Diener mit dem
0122Briefe Werther’s, worin er um Albert’s Pistolen bittet.
0123Lotte übergibt diese, wirft aber, von böser Ahnung getrieben,
0124sofort den Mantel um und eilt in Werther’s Wohnung.
0125Dieses „erste Bild“ des dritten Actes ist von dem in
0126Werther’s Stube spielenden „zweiten Bild“ durch ein sehr
0127langes Orchesterstück getrennt. Während dieses Intermezzos
0128entwickelt sich aus dem Dunkel eine charakteristische Land-
0129schaft: das winterlich beschneite Wetzlar. Lotte findet Werther
0130bereits mit durchschossener Brust. Nach einem letzten leiden-
0131schaftlichen Zwiegespräch stirbt er in ihren Armen, während
0132aus dem gegenüberliegenden Hause des Amtmanns der
0133Weihnachtsjubel der Kinder erschallt.
0134Massenet hat sich mit ganzer Seele in diesen Stoff
0135versenkt und ihn mit liebevollem künstlerischen Ernst gestaltet.
0136Es ist ihm gelungen, die ganze Oper hindurch eine merk-
0137würdig einheitliche Stimmung festzuhalten. Im Interesse
0138dieser Einheit hat er auf Arien und Duette, auf Chöre und
0139Finales verzichtet. Von einem französischen Componisten, der
0140durch Masseneffecte und sinnlichen Glanz zu wirken gewohnt
0141ist, verlangte der „Werther“ starke Selbstverleugnung. Sie
0142gereicht dem Componisten des „Cid“ und der „Esclarmonde“
0143zur Ehre. Massenet hat in Begeisterung für Goethe’s
0144Werther die Oper zu seiner eigensten Befriedigung componirt
0145und thatsächlich für das seit acht Jahren fertige Werk keine
0146Aufführung angestrebt. Erst die treffliche Wiener Vorstellung
0147seiner „Manon“ offenbarte ihm in van Dyck und der Renard
0148eine unverhoffte Verkörperung Werther’s und Lottens.
0149Etwa Gounod’s „Faust“ ausgenommen, findet sich in der
0150neueren französischen Opern-Literatur kein Werk, das deutschem
0151Musikcharakter so nahe kommt, wie Massenet’s „Werther“.
0152Ein Tropfen deutschen Blutes fließt übrigens nicht blos
0153in dieser Musik, sondern thatsächlich in Massenet’s Adern.
0154Er ist der Sohn eines Elässers, dessen Vater als Soldat
0155während der napoleonischen Feldzüge eine Preußin aus der
0156Gegend von Bromberg geheiratet hatte. Bis zu seinem
0157sechsten Jahre hat Massenet nur Deutsch gesprochen; seither
0158ward ihm hinreichende Muße, es wieder zu vergessen. Seine
0159Vorliebe für Richard Wagner flocht ein neues Band zwischen
0160Massenet und Deutschland. Schon seine früheren Opern
0161verrathen zeitweilig Wagner’sche Einflüsse; der „Werther“
0162adoptirt vollständig Wagner’s Methode: die im Orchester
0163fortspinnende „unendliche Melodie“, an welche die Sing-
0164stimmen ihren Sprechgesang gleichsam anheften. Das ist nicht
0165schlechtweg Wagner’sche Erfindung, sondern findet sich in ein-
0166fachster Erscheinung schon stellenweise bei Herold, Halévy, Auber.
0167Wagner hat diese, vor ihm nur nebenher und sehr frei ver-
0168wendete Begleitungsform zum festen Stylprincip erhoben,
0169streng durchgeführt und gleichsam versteinert. Für den Con-
0170versationsstyl, wie er im „Werther“ vorherrscht, scheint diese
0171Methode beinahe geeigneter, als für das Pathos heroischer
0172großer Opern; der ungezwungene Dialog im Familienstück
0173mit seiner raschen Rede und Gegenrede entspricht besser solchem
0174rhythmisch freien Sprechgesang. Bei Massenet ist der
0175orchestrale Unterbau nicht so kunstvoll, wie bei Wagner, hin-
0176gegen einfacher, natürlicher und faßlicher; es wird dem Ohr
0177nicht zugemuthet, fortwährend ein dichtes Gewebe einander
0178durchkreuzender Motive zu entwirren. Massenet behandelt
0179solche Gesprächsscenen ungemein geschickt. Längere, abgeschlossene
0180Ariosos, auf einfach accordischer Grundlage, tauchen nur
0181ganz vereinzelt auf; Werther’s Naturschwärmerei bei seinem
0182Eintritt im Garten, dann im zweiten Acte seine in drei
0183kurzen Strophen wiederholte Melodie in As-dur, endlich
0184seine Ossian-Strophe im dritten Act. Mit zwei kurzen fröh-
0185lichen Strophenliedchen bringt Sophie etwas Sonnenschein
0186in das sich verdüsternde Gemälde. Als wiederkehrende Er-
0187innerungsmotive verwendet Massenet meistens längere, ge-
0188schlossene Melodien, wie das feierlich schwärmerische Liebes-
0189thema bei der Heimkehr vom Ball im Neun-Achtel-Tact,
0190Lottens tröstender Zuspruch im zweiten Act, Werther’s zu
0191Anfang der Ouvertüre sich ankündigendes Verzweiflungs-Motiv.
0192Diese musikalischen Anspielungen sind sparsam angebracht und
0193sehr einpräglich. Von ihrer rein melodischen Seite betrachtet,
0194kann Massenet’s Erfindung weder reich noch sehr originell heißen;
0195fast scheint er sie im „Werther“ noch geflissentlich nieder-
0196zuhalten, um die schlichte Gleichmäßigkeit des Gemäldes nicht
0197durch allzu vordrängende Reize zu unterbrechen. Mancher in
0198schwerflüssiger Declamation sich ausbreitenden Scene hätte
0199eine reizvollere Melodie, eine lebendigere Rhythmik nicht
0200geschadet. Der dramatische Ausdruck ist im Rührenden wie
0201im Leidenschaftlichen gut getroffen und von überzeugender
0202Kraft. Die Ausbrüche höchster Leidenschaft bei Werther sind
0203allerdings nicht frei von einer gewissen theatralischen Ekstase;
0204das hängt so enge zusammen mit dem französischen Opern-
0205styl, überhaupt mit der in allen Künsten theatralischen Natur
0206der Franzosen, daß wir deutschen Hörer es zu dem vielen Guten
0207und Echten eben mit in den Kauf nehmen müssen. Bedeu-
0208tender als seine melodische Erfindung ist Massenet’s Talent, die
0209eigenartige Stimmung einer Scene musikalisch zu packen und
0210festzuhalten. Wie schön empfunden ist die Heimkehr Werther’s
0211mit Lotten vom Balle. Das Vorspiel, in welchem abgerissen
0212flatternde Tacte des Ländlers mit der schwärmerischen
0213Liebesmelodie wechseln, malt schon die ganze Situation. In
0214dem Gespräch Lottens mit Sophie im dritten Act, das sich
0215über eine ungemein zarte Orchester-Melodie fortspinnt, findet
0216Massenet Töne rührendster Herzlichkeit. Werther’s Erscheinen
0217im dritten Act macht nicht nur Lotten, sondern auch dem
0218Hörer das Blut erstarren. Tieftraurig mit einem er-
0219schütternden Schmerzenslaut am Schlusse klingt die
0220Ossianstrophe in Fis-moll. Einer Gefahr, die theils aus
0221dem sentimentalen Stoff, theils aus der Wagner’schen
0222„Unendlichkeit“, entsprang, ist der Componist nicht ganz
0223entgangen; sie heißt Monotonie. In langer Folge
0224reihen sich breit ausgesponnene Andante- und Adagiosätze
0225aneinander. Manche würden wol durch ein weniger schlep-
0226pendes Tempo gewinnen (wie die erste Cantilene Werther’s
0227in D-dur und sein Duett mit Lotte nach dem Ball); andere,
0228wie die lange, erschütternde Sterbescene und das übermäßig
0229ausgedehnte, ermüdende Vorspiel dazu durch bescheidene
0230Kürzungen. Mit Meisterschaft ist das Orchester behandelt
0231und ganz verschieden von der glänzenden, oft lärmenden
0232Instrumentirung in Massenet’s früheren Opern; die ein-
0233fache bürgerlich-idyllische Herzensgeschichte spiegelt sich auch in
0234dem größtentheils bescheidenen Orchesterklang. Mit sordinirten
0235Geigen und einigen Harfentönen, einer schüchternen Figur der
0236Flöte oder Clarinette erreicht Massenet hier seine besten Wirkun-
0237gen, nämlich gerade die, welche die Situation verlangt. Die Po-
0238saunen pausiren die längste Zeit; nur den stärksten Leidenschafts-
0239ausbrüchen leihen sie ihre erschütternden Accorde — dann freilich
0240nicht knickerisch. So wirkt Vieles zusammen, um Massenet’s
0241„Werther“ zu einem durchaus interessanten Werk von vor-
0242nehmem Geist und zarter Empfindung zu machen, das
0243weniger den lärmenden Applaus als das herzliche Mitgefühl [3]
0244der Hörer vor Augen hat und durch bedeutende Schönheiten
0245uns für manche ermüdende Länge entschädigt. „Manon“
0246bietet in Handlung und Musik reichere Abwechslung, mehr
0247Farbe und Leben; sie dürfte in der Gunst des Publicums
0248den Sieg über „Werther“ behaupten. Jedenfalls bezeichnen
0249diese beiden Werke, welche an musikalischem Werth Massenet’s
0250große tragische Opern zweifellos überragen, die Stylgattung,
0251für welche sein Talent am glücklichsten organisirt ist: die
0252theils heitere, theils rührende Conversations-Oper, die in-
0253time Musik.
0254Sehr werthvoll für den Erfolg der Oper ist die muster-
0255hafte deutsche Uebersetzung von Max Kalbeck. Wer eine
0256richtige Einsicht in die Schwierigkeit dieser Aufgabe hat, der
0257wird Kalbeck als einen musikalischen Uebersetzer allerersten
0258Ranges anerkennen. Um nur eine unbedeutende Kleinigkeit
0259zu erwähnen: hundertmal werden in dem französischen Text-
0260buch die Namen „Werther“ und „Charlotte“ genannt,
0261natürlich mit dem Accent auf der zweiten Sylbe — wie ge-
0262schickt weiß da Kalbeck, ohne an der Musik zu ändern, immer
0263einen Ausweg zu finden! Wir kennen allerdings einen Ueber-
0264setzer, der, unbekümmert um den musikalischen Accent, auch
0265im Deutschen Werthér und Lotté declamirt hätte. Eine
0266einzige Stelle Kalbeck’s erregt uns Bedenken. Werther
0267schweigt in dem schmerzlichen Gedanken, Lotte würde ihn ge-
0268liebt haben, wäre Albert ihm nie zuvorgekommen: „C’est
0269moi, qu’elle pouvait aimer!“ Kalbeck übersetzt: „Ich
0270war geliebt von ihr!“ Das konnte Werther unmöglich
0271sagen und sagt es auch nicht, weder bei Goethe noch bei Massenet.
0272Das Wiener Hofoperntheater kann mit berechtigtem
0273Stolz sich seiner Werther-Vorstellung rühmen. Herr Massenet
0274dürfte kaum auf irgend einer anderen Bühne eine gleiche
0275vortreffliche Aufführung seines Werkes erleben. Die Renard
0276und van Dyck, die Forster und Neidl — Alle wie
0277geschaffen für die vier Hauptrollen! Es bleibt Keines hinter
0278dem Andern zurück, doch glauben wir, schon ob des Ge-
0279wichts seiner Aufgabe, Herrn van Dyck (Werther) zuerst
0280nennen zu sollen. Er stand gleich hoch als Sänger und
0281Schauspieler, oder vielmehr der Sänger und der Schau-
0282spieler waren so vollkommen in Eins verschmolzen, wie es
0283in seinem Vortrag Ton und Wort sind. Mit dem Ausdruck
0284„deutliche Aussprache“ ist diese vollendete Kunst van Dyck’s,
0285singend zu sprechen und sprechend zu singen, lange nicht er-
0286schöpft. Die ganze Rolle war mit eindringendem Kunstver-
0287stand angelegt und mit ungeschwächter geistiger und physischer
0288Kraft bis ans Ende durchgeführt. Nur ein Künstler
0289ersten Ranges vermag die in den verschiedensten Stimmungs-
0290nuancen wechselnden Scenen im zweiten Acte so zu spielen
0291und zu singen, wie Herr van Dyck. Fräulein Renard be-
0292tritt die Scene als ein schönes, getreues Abbild der Goethe’-
0293schen Lotte. Ja, das sind „die schwarzen Augen, die lachen-
0294den Lippen, die frischen muntern Wangen“, die Werther
0295nach dem Balle so schwärmerisch beschreibt! Nur hätten wir
0296Ton und Geberde mehr naiv und unbefangen gewünscht,
0297nicht so pathetisch, schwer und sentimental. Goethe’s Lotte ist
0298nicht ein melancholisches Seitenstück, vielmehr ein heiteres,
0299gesundes Gegenstück zu Werther, und in den beiden ersten
0300Acten ist die Darstellerin durch nichts gehindert, sich diesem
0301Goethe’schen Original viel mehr zu nähern, als Fräulein
0302Renard es thut. Im dritten Act kann sie allerdings nicht
0303mehr Goethe, sie muß Massenet folgen. Hier, wo
0304Lotte zum erstenmale in die schmerzlichsten Accente der
0305Leidenschaft ausbricht, entfaltete Fräulein Renard die ganze
0306Fülle ihres starken und glänzenden Talents. Sie ist
0307in diesen Scenen unübertrefflich. Die Sophie der
0308Frau Forster gehört zu den lieblichsten Erscheinungen, die
0309uns auf der Bühne begegnet sind. Ihre recht schwierigen
0310Lieder singt sie mit entzückender Anmuth und breitet ganz
0311wie in der „Cavalleria rusticana“ ein Stück goldenen Son-
0312nenscheins über die Scene. Herr Neidl gibt den Albert
0313mit ungesuchter Würde und Herzlichkeit, Herr Mayerhofer
0314den Amtmann mit behaglichster Laune. Die Herren Stoll,
0315Schittenhelm und Felix unterstützen sehr sorgfäl-
0316tig das Ensemble. Besondere Anerkennung verdient die vor-
0317treffliche, der Zeit und dem Ort genau angepaßte Ausstat-
0318tung. Herr Director Jahn dirigirt die Oper, um derer
0319schönes Gelingen er die größten Verdienste hat. Den glän-
0320zenden Erfolg der Vorstellung und die den Sängern wie
0321Herrn Massenet zu Theil gewordenen Auszeichnungen haben
0322wir bereits gemeldet. Massenet’s „Werther“ bedeutet über-
0323dies ein interessantes musikhistorisches Factum. Außer Cheru-
0324bini’s „Fanisca“ (1807) dürfte „Werther“ die einzige von
0325einem berühmten französischen Tondichter componirte Oper
0326sein, deren allererste Aufführung in Wien in deutscher
0327Sprache stattgefunden hat.