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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 9882. Wien, Sonntag, den 28. Februar 1892

[1]

Rossini.

(Zu seinem hundertsten Geburtstag.)


0003Ed. H. „Sie gratuliren mir zu meiner Rüstigkeit?
0004Ich habe ja erst kürzlich meinen achtzehnten Geburtstag ge-
0005feiert!“ So scherzte der zweiundsiebzigjährige Rossini, als
0006ich mich über sein gutes Aussehen freute. Er war am
000729. Februar des Schaltjahres 1792 geboren, hatte also that-
0008sächlich nur alle vier Jahre einen Geburtstag. Der stets
0009heitere alte Herr hätschelte dieses Datum als einen will-
0010kommenen Anlaß zu allerhand Spässen. Ich war so glück-
0011lich, ihn in den Jahren 1860 und 1864 wiederholt in seiner
0012Villa zu Passy besuchen zu dürfen und auch in seiner Stadt-
0013wohnung einer seiner berühmten Musik-Soiréen beizuwohnen.
0014Er bot das schöne Bild eines weltberühmten Mannes, der
0015freiwillig den Strom der Vergessenheit überschifft und alle
0016schlimmen Leidenschaften weit hinter sich am Ufer zurück-
0017gelassen hat. Seine ruhige Heiterkeit und Liebenswürdigkeit
0018wird Jedem, der ihn gekannt, eine theure, unverwischbare
0019Erinnerung bleiben. Als ein Weiser, „der sich ohne Haß vor
0020der Welt verschließt“, hatte er seit zwanzig Jahren keine
0021Einladung angenommen, kein Theater besucht und, kleine
0022Spazierfahrten ausgenommen, sein Haus nicht ver-
0023lassen. Freilich kam die Welt zu ihm, und oft mehr, als ihm
0024bequem war. Er mußte sich viel anbeten und anwundern
0025lassen, aber auch das ertrug er mit einem reizenden, halb
0026gutmüthigen, halb satirischen Humor. Sein ausdrucksvolles
0027Gesicht leuchtete fast immer in dem Abendroth einer fröh-
0028lichen Behaglichkeit. Ernste, gerührte Stimmung überkam
0029ihn nur, wenn er von seiner Kindheit und seinen Eltern
0030sprach. Als Kind armer Leute hatte er eine Jugend voll
0031Arbeit und Entbehrung erlebt — eine trübselige Jugend
0032könnte man sagen, hätte sein übermüthig glückliches Tem-
0033perament Trübsal aufkommen lassen. Seinen Geburtsort
0034Pesaro verließ er schon als Kind und zog mit seinen musi-
0035cirenden Eltern auf kleinen Bühnen herum. Der Vater blies
0036das zweite Horn im Orchester, die Mutter, die eine hübsche 
0037Stimme besaß, aber keine Note kannte, war Sängerin. Der
0038kleine Gioacchino leistete von seinem zehnten Jahr an den
0039Eltern Beistand. Er sang in den Kirchen, accompagnirte im
0040Theater auf dem Clavier, repetirte mit den Künstlern, gab
0041eine kleine Rolle in Paër’s „Camilla“, dirigirte Orchester-
0042concerte und brachte vergnügt den Eltern seinen kärglichen
0043Verdienst. Sobald er im Stande war, zu componiren, schuf
0044er gegen sechs Opern in einem Jahre, weil eine jede ihm
0045200 Lire eintrug. Die kindliche Liebe, die sein ganzes
0046Leben erfüllte, zwang ihn, viel und schnell zu produ-
0047ciren. Es ist ein sehr verbreiteter Irrthum, daß Rossini 
0048in seiner Jugend nichts gelernt habe. Nur schneller
0049lernte er, als Andere, und mehr aus lebendiger Praxis, als
0050aus Büchern. Selbst ein guter Sänger, wußte er stimm-
0051gemäß zu schreiben; tägliche Uebung machte ihn zum tüch-
0052tigen Clavierspieler und Begleiter; als Concert-Dirigent
0053wurde er mit dem Orchester und jedem einzelnen Instrument
0054vertraut. Die trockene Lehrmethode des alten Padre Mattei 
0055an der Musikschule (Liceo) von Bologna konnte dem leb-
0056haften, von Melodien übersprudelnden Jungen freilich keine
0057Leidenschaft für Fugen und contrapunktische Kunststücke ein-
0058flößen; trotzdem wurde er in 18 Monaten der beste Schüler
0059am Lyceum. Die Quartette von Haydn und Mozart spielte
0060er leidenschaftlich gern und dirigirte als 19jähriger Jüngling
0061die „Schöpfung“ von Haydn, die er vollständig bis in die
0062kleinsten Recitative auswendig wußte. Die Vorliebe für unsere
0063deutschen Classiker hat sein ganzes Leben treulich begleitet.
0064Aber Naturell, Talent, Jugendeindrücke — Alles trieb den
0065jungen Rossini zum Theater. Vor mir liegt seine Opera
0066buffa „L’inganno felice“, die sein erster nachhaltiger Er-
0067folg in Italien und auch in Deutschland unter dem Titel
0068Die Getäuschten“ beliebt war. Der ganze Rossini steckt
0069schon in diesem Jugendwerk, das einer genialen Impro-
0070visation gleicht. Mit 18 Jahren hatte er die theatralische
0071Laufbahn begonnen, mit 21 war er der erklärte Liebling der
0072Nation.


0073Die musikalischen Zeitverhältnisse standen günstig für
0074das Auftreten Rossini’s. Nach dem Erlöschen des glänzenden
0075neapolitanischen Dreigestirns der Opera buffa — Piccini, 
0076Paisiello und Cimarosa — war eine Art genieloses Inter-
0077regnum eingetreten, in welchem zwei Componisten von
0078schwächerer Begabung, Simon Mayr und Ferdinand Paër,
0079herrschten. Ihre Musik hatte technische und formale Vorzüge,
0080aber kein Feuer, keine Originalität. Die Italiener lechzten
0081nach einem genialen neuen Componisten, der frisches Leben
0082in die verkümmerte Opernmusik brächte. Da erschien der
0083junge Rossini wie ein Held und Erretter. „Tancred“ und
0084Die Italienerin in Algier“, beide aus demselben
0085Jahre 1812, haben seinen Ruhm in Italien fest begründet
0086und auch nach Deutschland verbreitet, wo Rossini von 1816 
0087an Mode wurde. Daß „Tancred“ mit der Gewalt einer
0088überraschenden Offenbarung einschlug, wird man heute
0089freilich nur mit Mühe verstehen, so veraltet und durch
0090tausendfältige Nachahmung abgenützt klingen uns diese
0091tändelnden Melodien und endlosen Coloraturen. Allein die
0092originelle, erneuernde Kraft eines Componisten will an
0093seinen Vorgängern, nicht an seinen Nachfolgern gemessen sein.
0094Man sehe sich die gefeiertesten Werke der vor-Rossini’schen
0095Opera seria an, zum Beispiel Cimarosa’s „Horazier“, Paër’s
0096Achilles“, Simon Mayr’s „Lodoïska“, dann wird man
0097erkennen, wie berauschend neu Alles im „Tancred“ gewesen
0098gegen die steife conventionelle Musik seiner Vorgänger. Diesen
0099natürlicheren, volksthümlicheren Ton, diese Frische und
0100Lebendigkeit hat Rossini aus der Opera buffa, der wahren
0101Heimat seines Talentes, in die Adern ihrer vornehmeren
0102Schwester, der Opera seria, zuerst hinübergeleitet. Bald
0103schwärmte auch Deutschland für den „Tancred“, die „Italie-
0104nerin“ und den „Barbier von Sevilla“, so heftig die schul-
0105meisterliche Kritik gegen die „Seichtigkeit und Unwissenheit“
0106Rossini’s predigen mochte. Die deutsche Kritik hat von jeher
0107zu viel Respect gehabt vor der musikalischen Tugend und
0108Gelehrsamkeit und zu wenig vor der Gottesgabe des Talents.
0109Wenn das deutsche Publicum wirklich einige Vorliebe für
0110Fremdes hegt, so wird dieser Fehler wettgemacht durch die
0111Geringschätzung ausländischer Opern seitens der deut-
0112schen Kritik. München war die erste Stadt in
0113Deutschland, wo (1816) Rossini’sche Opern von einer
0114italienischen Truppe gegeben wurden. Von dort kommt auch [2]
0115(in die Leipziger Musikzeitung) die erste Stimme, die
0116muthig und wohlwollend den Chor der Rossini-Verächter
0117durchdringt. Ich will sie, dem heutigen Tag zu Ehren, aus
0118der Vergessenheit ziehen. „Gewiß,“ schreibt der Münchener
0119Musiker, „gewiß eine vortreffliche Musik, im neuesten Ge-
0120schmack, aber — wie Manche hier sagen — „ohne Charak-
0121ter“. Ob wirklich echter Gesang in diesem Sinn Charakter
0122haben kann? da er ja, ohne Worte schon, wie die Licht-
0123oder elektrische Materie oder der Magnetstrom, an und für
0124sich schon den Menschen hinreißt und ihn auf eine sinnliche
0125Weise genießen macht. Tancred’s Musik hat keinen Cha-
0126rakter, ist nicht tragisch, nicht komisch; sie ist etwas Eigenes
0127in ihrer Art, das Jedem gefällt. Sie gefällt wie ein schönes
0128Gesicht, dem selbst der Feind nicht absprechen kann, daß es
0129schön ist.“


0130Nach Rossini’s ersten Erfolgen streiten sich alle italieni-
0131schen Hauptstädte um ihn. Er selbst ist bald in Venedig, in
0132Mailand, in Neapel und streut überall mit vollen Händen
0133aus. Auf den Barbier folgt Otello, la Ceneren-
0134tola
, la Gazza ladra, Armida, Moïse, la
0135Donna del lago
, Maometto. Diese zweite (nea-
0136politanische) Periode seines Schaffens grenzt ans Wunder-
0137bare. Der Impresario Barbaja engagirt Rossini mit
0138einem Jahresgehalt von 8000 Francs und verpflichtet ihn,
0139jährlich zwei Opern zu schreiben. Er schreibt deren vier.
0140Wenn man Rossini’s Flüchtigkeit tadelt, so erwäge man doch
0141auch die schwierigen Verhältnisse, unter denen er schuf —
0142Zwangslagen, die sich heute kein Componist würde gefallen
0143lassen. Er mußte mit den elendesten Textbüchern vorlieb
0144nehmen und erhielt niemals ein fertiges Libretto, sondern
0145componirte die Introduction, ehe noch die folgende Nummer
0146gedichtet war. Seine Poeten hatten oft keine Idee von den
0147musikalischen Erfordernissen; er mußte mit ihnen und für
0148sie arbeiten. Er war verpflichtet, die Rollen bestimmten
0149Sängern anzupassen und nach deren Wünschen abzu-
0150ändern, sämmtliche Proben zu überwachen, und das Alles
0151gegen ein elendes Honorar. Für den „Tancred“ erhielt
0152er 500 Francs! „Ausgenommen während meines Auf-
0153enthaltes in England,“ erzählte Rossini, „habe ich nie durch 
0154meine Kunst genug eingenommen, um mir etwas zurücklegen
0155zu können. Und in London habe ich nicht als Componist,
0156sondern als Accompagnateur in vornehmen Soiréen Geld
0157gemacht.“ Trotz dieser Fesseln sehen wir Rossini als Künstler
0158fortschreiten; zwar kommt er vor dem „Tell“ nicht auf
0159durchgreifende Wandlungen seines Styls, aber schon „Otello“
0160zeigt einen bedeutenden Aufschwung über das dramatische
0161Niveau des „Tancred“. Barbaja wendete sich, durch die
0162Revolution von Neapel vertrieben, nach Wien, wo er das
0163kaiserliche Operntheater nächst dem Kärntnerthor pachtete.
0164Dort gab er mit Rossini — welcher seine Primadonna
0165Isabella Colbrand geheiratet hatte — und einer vortreff-
0166lichen Truppe im Frühjahre 1822 die Opern „Zelmira“,
0167Corradino“ und „Elisabetta“.*) Der Erfolg überstieg alle
0178Erwartungen. Es war ein allgemeines Schwärmen; schrieb doch
0179sogar der Philosoph Hegel nach Berlin: „So lang’ ich noch
0180Geld habe für die italienische Oper, gehe ich von Wien nicht fort!“
0181Rossini sprach stets mit liebenswürdiger Wärme von diesen
0182Wiener Tagen, die er zu seinen glücklichsten zählte. In Wien 
0183habe er zum erstenmal in seinem Leben ein musikalisch theil-
0184nehmendes Publicum vorgefunden, ein Publicum, das nicht
0185blos einzelne Arien, sondern die ganze Oper aufmerksam an-
0186hört, ohne zu plaudern. Er lernt in Wien Beethoven 
0187kennen (daß ihn dieser nicht empfangen habe, ist eine
0188Fabel), desgleichen Weber, Franz Schubert, Weigl 
0189und Salieri, mit dem er am meisten verkehrt. Nach drei
0190Monaten verläßt Rossini Wien und wird nach einem Auf-
0191enthalt in London in Paris seßhaft. Hier schreibt er (1829)
0192für die Große Oper sein letztes und größtes Werk, den
0193Wilhelm Tell“.


0194Es ist von mehr als symbolischer Bedeutung, daß die
0195Wiener Hofoper ihre heutige Festvorstellung aus dem „Bar-
0196bier von Sevilla“ und dem zweiten Act des „Tell“ zusammen-
0197stellt. Der Barbier und Tell — das ist leider für uns der
0198gesammte Rossini. Diese zwei lebendigsten und genialsten
0199Opern des Pesarers sind die einzigen Goldmünzen aus
0200seiner reichen Schatzkammer, welche heute noch circuliren
0201und ihren vollen Werth behalten haben. Die eine bedeutet
0202sein Bestes im komischen, die andere sein Höchstes im ernsten
0203Styl. Der „Barbier“ ist in seiner Art noch origineller, einheit-
0204licher, vollendeter; man sucht vergebens nach einem lebendigeren
0205Ausdruck von Rossini’s Genie. Im „Tell“ sehen wir seine
0206dramatische Kraft in ihrer höchsten Entfaltung und im
0207Dienste der bedeutendsten Aufgabe. Eine so imposante Wand-
0208lung, wie sie Rossini, nachdem er 40 Opern geschrieben,
0209schließlich im Tell aufweist, kommt in der Geschichte der
0210Musik kein zweitesmal vor. Die beiden ersten Acte gehören
0211zu dem Schönsten, was die moderne Große Oper aufzu-
0212weisen hat. In Deutschland leben der „Barbier“ und „Wil-
0213helm Tell“ in unverkümmerter Jugend fort. Tell wird
0214größtentheils gut gegeben, für den Barbier fehlen auf deut-
0215schem Boden die Gesangs-Virtuosität und, was diese theil-
0216weise ersetzen könnte: das hinreißende südliche Temperament.
0217In Paris wird die Rossini-Feier sich auf Tell beschränken
0218müssen; der Barbier liegt nicht im Bereich der heutigen
0219französischen Sänger. Italien wiederum dürfte sich blos an
0220den Barbier halten; Wilhelm Tell ist im Vaterland Rossini’s
0221niemals heimisch geworden und hatte stets gegen den italie-
0222nischen Geschmack und die mangelhafte Schulung der Chöre
0223zu kämpfen. Und die besten seiner übrigen Opern? Die
0224heutige Jugend hat keine Vorstellung von der Wirkung,
0225welche ein ausgezeichnetes italienisches Künstler-Ensemble mit
0226der „Cenerentola“ oder der „Italienerin in Algier“ hervor-
0227bringt. Mir selbst war wenigstens ein letzter schöner Nach-
0228glanz davon beschieden; zuerst die italienischen Vorstellungen
0229mit der Tadolini in den Vierziger-Jahren, sodann jene
0230mit Adelina Patti und mit Désirée Artôt. Vollendete
0231Gesangskünstlerinnen wie diese drei, virtuose Tenoristen wie
0232Carrion und Calzolari, Baritons wie Debassini, [3]
0233Everardi, Graziani, Baßbuffos wie Zucchini 
0234oder Bottero gibt es auch in Italien nicht mehr. Seit-
0235dem Alles auf den Ruin der Gesangskunst hinarbeitet, ist
0236jede Hoffnung auf ein Wiederaufleben so genußreicher
0237Rossini-Abende geschwunden.


0238Rossini’s Einfluß war groß und weitverbreitet. Nicht
0239nur das Publicum, auch die Componisten riß sein Zauber
0240unwiderstehlich mit fort, am meisten natürlich die kleineren
0241Maëstri Italiens, welche die unglückliche Idee hatten, ihn
0242zu copiren — ihn, dessen Genie sich nicht copiren ließ und
0243dessen Manieren von ihm selbst bis zum Ueberdruß wieder-
0244holt worden sind. Aber auch glänzende, selbstständige Talente,
0245wie Meyerbeer, Auber, Herold, Bellini, Donizetti und der
0246frühere Verdi, haben ihm anfangs vergnügte Heerfolge ge-
0247leistet, bis sie später zum Ausdruck ihrer eigensten Indivi-
0248dualität gelangten. Sogar deutsche Zeitgenossen Rossini’s
0249haben, tadelnd und zähneknirschend, ihm seine Effecte abzu-
0250gucken versucht; finden sich doch selbst in Schubert und
0251Weber hin und wieder Rossini’sche Anklänge. In Deutsch-
0252land — wo er übrigens am schwächsten geherrscht — ist
0253Rossini’s Einfluß seit Wagner’s Auftreten völlig verschwun-
0254den, in Italien desgleichen seit Verdi’s Aïda, seit Boito 
0255und Mascagni. In Frankreich hat die Einwirkung seines
0256Tell“ noch nicht ganz aufgehört, wie die großen Opern
0257von Meyerbeer und Halévy, von Gounod und Massenet 
0258zeigen.


0259Nach seinem epochemachenden Wilhelm Tell war Rossini 
0260nicht wieder zur Composition einer Oper zu bewegen. Mit
026137 Jahren schloß er freiwillig seine Carrière ab, nach einer
0262schon in frühester Jugend begonnenen rastlosen und ruhm-
0263vollen Thätigkeit. Was ihn zu dieser frühen Resignation
0264veranlaßt habe? Es ist nie völlig aufgeklärt worden;
0265Rossini hat sich, selbst auf Hiller’s directe Anfrage, niemals
0266bestimmt darüber ausgesprochen. Keinesfalls war seine
0267musikalische Schöpferkraft versiegt; die blühende Melodien-
0268schönheit seines Stabat mater (1841) beweist das Gegen-
0269theil. Dennoch fehlte ihm wol die Hoffnung, seinen
0270Tell noch zu überbieten, und er verschmähte es, mit
0271schwächeren Werken sich dem Almosen bloßer Pietät auszu-
0272setzen. Den Glanz seiner Popularität überlebt zu haben,
0273machte ihm wenig Kummer; Niemand konnte von Rossini’-
0274scher Musik bescheidener denken und sprechen, als er selbst.
0275„Das sind kleine Sachen,“ meinte er lächelnd, „die einst
0276in der Mode waren und es jetzt nicht mehr sind.“
0277Als Rossini im Jahre 1869 zur ewigen Ruhe einging, war
0278er für die Kunst bereits seit 40 Jahren todt. Aber an ihm
0279selbst, an seinem Leben, seinem sprühenden Geist, seinem
0280herzlichen Wohlwollen erquickte sich Jeder, dem es vergönnt
0281war, mit dem Alten zu verkehren. Als eine weithin strah-
0282lende Erscheinung, als einer der genialsten und liebenswür-
0283digsten Tondichter, steht Rossini in der Musikgeschichte
0284unverrückbar fest. Seit 76 Jahren ist sein „Bar-
0285bier“, seit 63 Jahren sein „Tell“ die Freude und Bewun-
0286derung Europas, und beide werden es hoffentlich noch sehr
0287lange bleiben. Sein Vaterland Italien und die geliebte Heim-
0288stätte seiner letzten 40 Jahre, Paris, erfüllen nur eine schöne
0289Pflicht, indem sie den hundertsten Geburtstag Rossini’s feiern.
0290Auch Deutschland wird in herzlicher Dankbarkeit nicht
0291zurückstehen. Einige goldene Worte von Moriz Hart-
0292mann
, die mir aus dem Herzen gesprochen sind, mögen den
0293Schluß dieses Gedenkblattes bilden. Solche Sing- und Wunder-
0294vögel, wie Rossini, sagte Hartmann, kehren nicht mit
0295jedem neuen Frühling, sondern erst mit neuen Jahrhunderten
0296wieder. Wer kann es berechnen, wie viele Millionen Herzen
0297er seit einem halben Jahrhundert an tausend verschiedenen
0298Punkten der liederreichen Erde erfreut hat? Es würde ein
0299großes Volk heiterer, lächelnder, lachender Menschen aus-
0300machen. Wenn man Eroberern und sogenannten Schlachten-
0301helden Monumente setzt und sie in Epopöen besingt, die
0302Millionen elend machen, was verdient ein solcher Herz-
0303erfreuer, Gramverscheucher, Tröster und Schöpfer zahlloser
0304glücklicher, melodiendurchwebter Stunden! Könnte man diese
0305Stunden sichtbar oder chronologisch berechenbar aneinander-
0306fügen, es gäbe ein goldenes Zeitalter, eine saturninisch schöne
0307Epoche des Menschengeschlechtes, wie sie die liebevollsten
0308Dichter träumten, und über jenem Volke, diesem Reiche des
0309Glückes, würde ein Himmel lachen, wie aus dem „Ecco
0310ridente il cielo!“

Fußnoten
  • *)Viel früher als im Kärntnerthor-Theater erschienen Rossini’sche
    Opern im Theater an der Wien. Hier wurde schon 1817 
    Tancred“ von einer italienischen Sänger-Gesellschaft gegeben; in
    den drei folgenden Jahren in deutscher Sprache: „Elisabeth,
    Königin von England“, „Othello“, „Die diebische Elster“, „Der Barbier
    von Sevilla“, „Cenerentola“, „Die Italienerin in Algier“, „Der
    Türke in Italien“ u.s.w. Von den deutschen Sängern waren ins-
    besondere der Tenor Jäger und die Primadonna Henriette Vio 
    (verehelichte Spitzeder) ausgezeichnet. In der „Diebischen Elster“ betrat
    (1821) der Tenorist Anton Haizinger zum erstenmale die Bühne.