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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10251. Wien, Dienstag, den 7. März 1893

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Concerte.


0002Ed. H. Wien gedeiht auch im Musikgenuß immer groß-
0003städtischer und vergönnt sich nicht selten zwei Concerte an
0004Einem Abend. Trifft da ein gutes mit einem uninteressanten
0005zusammen, so freut sich des Kritikers „entmenschtes Herz“;
0006das kleinere Concertchen bleibt ihm erspart. Geschieht es
0007aber, wie in voriger Woche, daß das Abschiedsconcert des
0008Böhmischen Quartetts“ mit dem ersten Auftreten
0009einer der berühmtesten Sängerinnen, Madame Albani,
0010zusammenfällt, dann empfinden wir es ganz ausnahmsweise
0011als ein schmerzliches Geschick, nicht in zwei Concerten zugleich
0012sein zu können. Die Neigung zog mich weit stärker zu dem
0013„Böhmischen Quartett“, das ein neues Quartett von
0014Grieg und Brahms’ herrliches Clavierquintett in F-moll
0015spielte und damit, verläßlichem Bericht zufolge, das
0016Publicum enthusiasmirt hat. Unserem Leserkreis ge-
0017bührte jedoch ein Bericht über Madame Albani,
0018die, wie gesagt, noch niemals in Wien gesungen hat.
0019Ich hatte bereits im Jahre 1886 Gelegenheit, sie in London 
0020zu hören: ebenso vortrefflich als Gretchen im „Faust“,
0021wie als Oratorien-Sängerin in Gounod’s „Mors et Vita“.
0022Die eine Seite ihres Talents, die dramatische, bleibt den
0023Wienern leider vorenthalten; die andere, ihre Gesangskunst,
0024hat in dem Concert vom 27. Februar vollständig gesiegt.
0025Nach dem Andante der Casta Diva-Arie wußte Jedermann,
0026daß er hier vor einer großen Künstlerin stehe; man brauchte
0027noch gar nichts von ihrer brillanten Coloratur gehört zu
0028haben. Denn mehr als diese ist der Vortrag einer einfachen,
0029ausdrucksvollen Cantilene der richtigste Probirstein voll-
0030endeter Meisterschaft. Wie Jenny Lind und Adelina
0031Patti, so dürfte auch die Albani heute vielleicht noch
0032eher Rivalinnen in der Kehlenfertigkeit finden, als in dem
0033schönen Vortrage eines Andante. Die Stimme der Albani ist
0034ein hoher Sopran von weichem, flötenartigem Timbre, voll-
0035kommen ausgeglichen und tadellos geschult. Nicht mehr in
0036der ersten Blüthe, scheint sie gegen Kraftanstrengungen sich
0037zu wehren; doch klingt die Höhe im Piano und Mezza voce 
0038noch immer rund und einschmeichelnd. Bewunderungswürdig
0039ist der lange Athem der Albani, die edle Gleichmäßigkeit
0040ihres Portamento, das allmälige Schwellen und Absterben
0041des Tones. Ihr Vortrag hat echt musikalische Empfindung,
0042ihre Coloratur zierliche Leichtigkeit; nur in dem Triller
0043konnte man einigemale den genauen Abstand der beiden
0044Töne vermissen. Die Arie aus Haydn’s „Schöpfung“
0045sang sie Englisch, das Duett aus dem „Fliegenden
0046Holländer“ (mit dem tüchtigen ungarischen Bariton Herrn
0047Ney) in deutscher Sprache. Abermals ein Beweis,
0048daß gute Sänger und Sängerinnen in Erlernung fremder
0049Sprachen einen unschätzbaren Vortheil besitzen an ihrem
0050feinen musikalischen Gehör und der Geschmeidigkeit ihrer
0051Sprechorgane. Wir haben dieselbe Erfahrung gemacht an der
0052Artôt, die bei ihrem ersten Besuche in Wien sehr wenig
0053Deutsch verstand und bald darauf große Rollen in deutscher
0054Sprache sang; ähnlich an Herrn van Dyck. Madame
0055Albani hat vor einigen Jahren in Berlin das Kunststück
0056fertig gebracht, die Elsa im „Lohengrin“ deutsch zu singen,
0057ohne Deutsch zu verstehen; es wurde ihr jedes Wort einzeln
0058vorgesprochen, und sie behielt das schnell Gelernte so gut,
0059daß ihre Aussprache tadellos geklungen haben soll. Neben
0060dem außerordentlichen Erfolg der Albani hatte die in dem
0061Concert mitwirkende Pianistin Fräulein Wilhelmine Bibl 
0062keinen leichten Stand. Wir haben wiederholt ihr zierliches
0063und correctes Clavierspiel zu loben Anlaß gehabt; für
0064Liszt’sUngarische Phantasie“ reichen diese friedlichen
0065Qualitäten nicht aus. Fräulein Bibl brachte gewissenhaft
0066alle Noten, aber nur die Noten und obendrein aus Noten.
0067Die „Ungarische Phantasie“ ist ein Stück von hinreißender
0068Wirkung, das aber hinreißend gespielt sein will, keck, tem-
0069peramentvoll, mit freiester, fast übermüthiger Beherrschung
0070der technischen Schwierigkeiten. Nichts für Damen, höchstens
0071für die Carreño oder für Sophie Menter.


0072Eine jüngere italienische Sängerin hat Wien auf ihrem
0073ersten künstlerischen Ausflug berührt: Maria Palloni.
0074Sie ist die Tochter des kürzlich in Rom verstorbenen Com-
0075ponisten und Dirigenten Palloni, von dem die Tagliana 
0076vor zwanzig Jahren eine Arie in Wien gesungen hat.
0077Fräulein Palloni’s tiefer Mezzosopran besticht durch jugend-
0078liche Frische in tiefer und hoher Lage, während das
0079Medium einen etwas heiseren Beiklang hat. Sie besitzt die
0080beste italienische Methode und excellirt besonders im
0081Triller. Was man jedoch von einer Italienerin fast
0082als selbstverständlich erwartet, Temperament, Glanz und
0083Leidenschaft, war gerade in Fräulein Palloni’s Vortrag nicht
0084zu finden. Es mag an einer zufälligen Verstimmung gelegen
0085haben. Die talentvolle junge Künstlerin, die auch an ihrer
0086Erscheinung einen werthvollen Empfehlungsbrief besitzt, wurde
0087auf das lebhafteste ausgezeichnet. Sie hat ohne Zweifel eine
0088schöne Zukunft. Herr Hugo Becker, in dessen Concert
0089Fräulein Palloni gesungen hat, begann mit der großartigen
0090Violoncell-Sonate op. 102 von Beethoven. Frau v. Zacharias 
0091(unter ihrem Mädchennamen Lotte Eisl rühmlich bekannt)
0092spielte den Clavierpart gut musikalisch, mit sicherer Auffassung
0093und Technik. Nur die linke Hand hätten wir kräftiger hervor-
0094tretend gewünscht. Das melodieführende Violoncell klingt,
0095besonders unter den Händen eines Becker, so voll und
0096stark, daß der Pianist nicht zu fürchten hat, es zu decken; es
0097bedarf im Gegentheil eines sehr festen harmonischen Unter-
0098baues. Sehr schön spielte Herr Becker ein neues brillantes
0099und doch nicht fades Concertstück von Antonio Bazzini,
0100der in seinem hohen Alter jetzt einen merkwürdigen Com-
0101positions-Johannestrieb erlebt.


0102Das Waldhorn, gleich dem Violoncell eine Lieblings-
0103stimme der musikalischen Romantik, ist ihm auch darin ver-
0104wandt, daß es aus seinem eigentlichen Bereich, dem Orchester,
0105losgelöst, als Concert-Instrument leicht ermüdet. Herr
0106L. Savart hat in seinem Concert dieses Uebel nach Mög-
0107lichkeit getilgt, sowol durch seine künstlerische Behandlung des
0108Waldhorns, wie durch sein interessantes Programm, das sehr
0109wenig bekannte Compositionen von Händel, Mozart und
0110Weber ans Licht förderte. ... Die unserem Publicum be-
0111reits vortheilhaft bekannte Violin-Virtuosin Fräulein Irene
0112v. Brennerberg hat mit dem Vortrage von Vieux-
0113temps’
 D-moll-Concert einen neuen großen Erfolg erzielt. ...
0114In Herrn Labor schätzen wir einen unserer gediegensten
0115und feinsten Musiker. Als solchen und als vortrefflichen
0116Orgelspieler hat ihn neuerdings sein Concert im großen
0117Musikvereinssaal unanfechtbar hingestellt. Mit seiner Schülerin [2]
0118Fräulein Margarethe Demelius, einer Tochter des unver-
0119geßlichen Rechtsgelehrten und Universitäts-Professors, spielte
0120Herr Labor zwei Impromptus für zwei Claviere; eines von
0121Thieriot, das andere von Reinecke. Fräulein Demelius 
0122erwies sich mit ihrer soliden Technik und ihrem feinen Ge-
0123schmack als Labor’s würdige Partnerin.


0124Auf dem Programm des fünften Quartett-Abends von
0125Rosé prangte zwar kein neues Werk, wol aber ein neuer
0126Pianist: Max Pauer . Er ist geborener Clavier-
0127Virtuose und Clavier-Professor, nämlich ein Sohn unseres
0128seit 40 Jahren in London thätigen Landsmannes Ernst
0129Pauer
, und diesem an Talent und Länge nachgerathen.
0130Der Name Pauer bedeutet eine gute Empfehlung und nicht
0131blos für Wien. Max Pauer ist mit 21 Jahren Professor
0132am Kölner Conservatorium geworden und zählt in Deutsch-
0133land bereits zu den besten Meistern seines Instruments.
0134Bei Rosé hat er Schumann’s Es-dur-Quintett mit außer-
0135ordentlichem Beifall gespielt. Sein demnächst stattfindendes
0136eigenes Concert wird uns reicheren Stoff bieten zu einem
0137Urtheil über seine künstlerische Individualität.


0138Ein Virtuose, der keine Kritiken mehr nöthig hat, ist
0139Alfred Grünfeld. Ein Blick auf den gedrängt vollen
0140großen Musikvereinssaal und das jubelnde Publicum hätten
0141jeden Zweifel an Grünfeld’s beispielloser Beliebtheit sofort zer-
0142streuen müssen. Grünfeld belebt mit und ohne Clavier die
0143besten Kreise der Wiener Gesellschaft als liebenswürdig
0144moussirendes Element, als guter Geist der Unterhaltung,
0145als Classiker des Anekdotenvortrages. Das ist so bekannt wie
0146seine glänzende Technik, sein sprühender Rhythmus, sein klang-
0147voller Anschlag, sein unerschöpfliches Gedächtniß. Man braucht
0148darum nicht mit Allem einverstanden sein, was in seinem
0149letzten Concert vorkam. Wenn Grünfeld die E-moll-Fuge 
0150von Mendelssohn wie ein melancholisch verträumtes
0151Notturno auszittern läßt; wenn er Schumann’s anspruchs-
0152lose „Träumerei“ (aus den Kinderscenen) in fast unhör-
0153barem Pianissimo, mit Verschiebung, vor sich hinflüstert
0154und auf dem zweigestrichenen A des sechsten Tactes so
0155lange liegen bleibt, daß jeder Zusammenhang verloren
0156geht; wenn er in einem Beethoven’schen Rondo,
0157das nur klar und freundlich gespielt sein will, stellen-
0158weise schmachtet, fiebert, träumt, wo nichts zu schmachten,
0159zu fiebern, zu träumen ist — so verdient ein solches Ein-
0160schmuggeln modernster Virtuosen-Manieren schwerlich An-
0161erkennung. Unwillkürlich mußte ich an Alexander Dreyschock 
0162denken, welcher, gereizt durch das stereotype Lob seiner
0163colossalen Bravour, später in jedem Stück „Gefühl“ produ-
0164cirte, immer viel zu viel und an unrechtem Orte. Am
0165bestechendsten wirkt Grünfeld’s Individualität, wo rhyth-
0166mischer Schwung der Musik mit seiner eigenen frischen
0167guten Laune zusammenströmen, wie in seiner „Tanz-
0168Arabeske“, seiner „Ungarischen Rhapsodie“ und Chopin’s 
0169(in seiner Echtheit nicht ohne Grund bestrittenem) E-moll-
0170Walzer. Auch die Transscription des Feuerzaubers aus der
0171Walküre“ wird ihm kaum Jemand nachspielen. Grünfeld’s
0172außerordentlicher Erfolg spiegelte sich in dem stürmischen
0173Beifalle wie in dem fast unersättlichen Verlangen des Publi-
0174cums nach Wiederholungen und immer neuen Zugaben.


0175Noch sind zwei Componisten-Concerte, ein polnisches
0176und ein russisches, zu verzeichnen: Herr Ladislaus
0177Zelenski, Director des Krakauer Conservatoriums, hatte
0178für seine musikalische Exposition den großen Musikvereins-
0179saal, Herr Adolph Barjansky aus Odessa den kleinen
0180gewählt. In ihrer künstlerischen Höhe verhalten sich diese
0181beiden Componisten ungefähr zu einander wie ihre Concert-
0182locale. Freilich hat weder der Pole den großen, noch der
0183Russe den kleinen Saal zu füllen vermocht, es dürften Beide
0184ihre heimatlichen Erfolge in deren Wirkung auf Wien über-
0185schätzt haben. Herr Zelenski, ein gründlich geschulter, sehr
0186tüchtiger Musiker, beherrscht die musikalischen Formen, die
0187contrapunktischen und harmonischen Mittel mit der Sicher-
0188heit des erfahrenen Praktikers. Sein Styl erinnert zumeist
0189an Mendelssohn, über welchen hinaus er nicht weiter ins
0190Moderne vordringt. Ein französischer Schriftsteller hat un-
0191längst gesagt, Genie sei Arbeit und Geduld. Ein
0192schönes Wort, das man auf jedes Manuscript von
0193Beethoven setzen könnte. Wie hat sich dieser Mann
0194geplagt, mit welcher Geduld an seiner Arbeit geschaffen
0195und gebessert, bis er die Werke hervorbrachte, die wir
0196nicht genug bewundern können. Aber dieses Wort ist so
0197hoch, daß es auch nur auf solche Leute paßt. Denn Arbeit
0198und Geduld machen doch das Genie nicht aus; das thut
0199nur der „göttliche Funke“. Sonst wären Zelenski’s 
0200Waldklang“ — eine Concert-Ouvertüre nach Mendels-
0201sohn’schem Zuschnitt — beinahe ein „geniales“ Werk. Außer-
0202dem gab es von größeren Compositionen Zelenski’s einen
0203Männerchor mit Orchesterbegleitung, der 46. Psalm —
0204anspruchsvoller und doch weniger gehaltvoll als Kößler’s 
0205jüngst gehörte Composition desselben Textes — dann eine
0206Baßarie aus der Oper „Conrad Wallenrodt“. Sie ist in
0207alter Form (Recitativ, langsamer und schneller Satz) und
0208in jenem altmodischen Geist componirt, der uns mit Anstand
0209langweilt. Merkwürdigerweise fehlte in allen diesen Werken
0210vollständig jenes Element, das wir am sichersten er-
0211wartet hatten: das nationale. Nicht der leiseste Hauch
0212polnischen Musikgeistes streift diese Compositionen; sie
0213könnten von einem Autor herrühren, der niemals aus
0214Leipzig oder Braunschweig herausgekommen ist. Nach diesen
0215umfangreichen Probestücken redseliger Capellmeistermusik
0216wirkten mehrere von Fräulein Beeth sehr hübsch gesungene
0217polnische Lieder ganz erquickend. Sie haben auch den stärksten
0218Beifall gefunden. Könnten Zelenski’s Werke, wegen ihres
0219Mangels an Originalität, hier keinen starken Eindruck
0220machen, so danken wir ihnen doch die Bekanntschaft eines
0221Mannes, der als musikalischer Organisator, Lehrer und Di-
0222rigent sich so große Verdienste um das Kunstleben seiner
0223Vaterstadt gesammelt und die höchste Achtung seiner Lands-
0224leute errungen hat. Der letzte geniale polnische Tondichter
0225von bleibender Bedeutung war Chopin. Der talentvolle
0226Moniuszko hat nie über sein Land hinaus gewirkt und
0227wird nie europäische Bedeutung erlangen. Seitdem ist Alles
0228still. Die Czechen und die Russen haben neuestens in der
0229Musik einen großen Vorsprung über die Polen gewonnen.


0230Neben Zelenski, dem solid geschulten, erfahrenen Fach-
0231musiker, spielt Herr Barjansky mehr die Rolle des
0232kunstbegeisterten, liebevollen Dilettanten. Er ist, dem Ver-
0233nehmen nach, ein reicher Kaufmann, dem sein Geschäft hin-
0234reichende Muße gönnt, die Tonkunst mit ernster Hingebung
0235zu pflegen. Von seinen jüngst aufgeführten Werken haben
0236wir eine Violoncell-Sonate und ein Streichquartett gehört,
0237aus denen musikalische Empfindung und ein glückliches, rein-
0238gestimmtes Gemüth sich in einfachen Worten ausspricht.
0239Der Styl gehört einer früheren Epoche an, deren bescheidene
0240Genügsamkeit uns unwiederbringlich verloren ist. Bar-
0241jansky’s Kammermusik dürfte heute wenige Zuhörer finden,
0242die bei den zahllosen Wiederholungen ein und desselben
0243Motivs, bei der Einförmigkeit seiner Begleitungsfiguren und [3]
0244der Schüchternheit seiner Modulationen nicht ungeduldig
0245werden. Verschrobenes, Unlogisches oder gar Häßliches findet
0246sich nirgends in diesen Compositionen. Man kann ihnen
0247deßhalb auch nicht gram werden; ihre stillvergnügte Bescheiden-
0248heit hat vielmehr etwas Rührendes. Herr Barjansky, der
0249sich auch als sehr tüchtiger Pianist erwies, möge sich nicht
0250abschrecken lassen von weiterem gedeihlichen Fortschreiten.


0251Herr Director Gericke erfreute uns in dem letzten
0252Gesellschaftsconcerte mit einer sorgfältigen Aufführung von
0253Schumann’s Cantate „Das Paradies und die Peri“. Wie
0254hoch die „Peri“ in der Liebe des Publicums steht, bewies
0255der enorme Andrang zu diesem Concerte. Die zarten, ele-
0256gischen Gesänge dieses Werkes sind von bezauberndem Duft;
0257es sind ihrer nur zu viele neben einander und der Duft
0258schließlich von narkotischer Schwere. Vielleicht ist es nur ein
0259individueller Eindruck, daß mir die „Peri“ in ihrer Ge-
0260sammtwirkung nicht mehr ganz die frühere Begeisterung zu
0261wecken schien. An der Spitze der Solisten standen unsere be-
0262währtesten Gesangs-Notabilitäten: Frau Materna und
0263Herr Walter. Frau Materna, deren prachtvolle Leistung
0264als Peri vom Jahre 1888 noch in Aller Erinnerung
0265fortlebt, stand diesmal unter dem Drucke eines kaum
0266überstandenen Unwohlseins, das sie aber siegreich nieder-
0267kämpfte. In dem schönen Solo „Schlaf’ wohl“ hörten
0268wir den weichsten Klang, in der anstrengenden Schlußarie
0269die volle Kraft ihres Organs. Herr Walter hat schon
0270vor fünfunddreißig Jahren zum erstenmale die Tenorpartie
0271gesungen! Er ist noch immer der Unübertroffene, Unersetz-
0272liche. Unter den kleineren Partien ragte Baronin Leonore
0273Bach hervor durch den sympathischen Klang ihres Soprans
0274und ihren poesievollen Vortrag. Fräulein Bertha Wider-
0275mann
, ein Liebling des Grazer Concertpublicums, sang
0276die Partie des Engels mit kleiner, aber wohlklingender
0277Stimme, reiner Intonation und musterhaft deutlicher Aus-
0278sprache. Alles Lob gebührt den Chören unseres Sing-
0279vereins
und dem Soloquartett: Fräulein Chotek,
0280Fräulein Salter, Herrn Erxleben und Herrn Eugen
0281Weiß. Die Baritonpartie war einem jungen Sänger zu-
0282getheilt, dessen Intelligenz sich leider machtlos erwies gegen
0283die Sprödigkeit seines klanglosen Organs. Für die nächste
0284Saison hoffen wir auf ein Händel’sches Oratorium oder
0285eine bedeutendere neue Tondichtung. Dicht gesät sind die Novi-
0286täten allerdings nicht auf diesem Felde.