Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10272. Wien, Mittwoch, den 29. März 1893
[1]Aus meinem Leben.
Von Eduard Hanslick.
0003(October 1848.)*)
0008In Wien wurde es allmälig immer schwüler; immer
0009drohender das Wetterleuchten der politischen Atmosphäre.
0010Nach dem kindischen Barricadenbau vom 26. Mai mußte
0011jeder Unbefangene einsehen, daß wir auf einer schiefen Ebene
0012herabrollten. Und wir rollten immer schneller und schneller
0013bis zu dem grausigen 6. October, dem Tage der Ermor-
0014dung des Kriegsministers Latour durch einen wüthenden
0015Pöbelhaufen. Auf dem Wege nach meiner Wohnung war
0016ich unwillkürlich von einer fluthenden Menschenmenge mit
0017fortgedrängt worden auf den „Hof“. Da sah ich die Leiche
0018Latour’s, blos mit einem Leintuche bekleidet, an einem
0019Laternenpfahle aufgehenkt, vor der Hauptwache des Kriegs-
0020ministeriums, wo unbegreiflicherweise der Officier mit seiner
0021Compagnie unthätig zusah. Der Pöbel hatte die Gasflammen
0022über dem Haupte des Ermordeten angezündet und schrie
0023und johlte um die Leiche herum, setzte sie auch zeitweilig
0024durch einen Stoß in schaukelnde Bewegung. Ich drängte
0025mich, im Innersten schauernd, aus der Menge heraus, welche
0026den ganzen Platz anfüllte, und rannte fast bewußtlos nach
0027Hause. Da zündete ich meine Lampe an und schlug einen Band
0028Goethe auf, um mich rein zu waschen von dem Gesehenen.
0029Am nächsten Morgen nahm ich in meinem gewöhn-
0030lichen Kaffeehause eine Zeitung zur Hand; da war der
0031Mord Latour’s als eine Heldenthat des Volkes gepriesen.
0032Ich konnte einen Ausruf des Abscheus nicht unterdrücken.
0033Da fuhr mich eine Stimme vom Nebentische höhnisch an:
0034„Na, ist vielleicht schad’ um ihn? Ist Ihnen vielleicht gar
0035leid um ihn?“ — „Ja,“ antwortete ich kurz und ging, um
0036jeder weiteren Replik auszuweichen. Böse Worte folgten
0037mir. Mich entsetzte diese moralische Verwilderung des sonst
0038so gutmüthigen Wiener Volkes. Die sittliche Rohheit, die
0039sich in den Urtheilen der revolutionären Blätter und des
0040aufgehetzten Volkes aussprach, schien mir nicht viel besser,
0041als jene gräßliche Unthat selbst.
0042Ich suchte mich wieder in mein Studium zu vertiefen,
0043aber es war kaum möglich, der zerstreuenden und auf-
0044regenden Gewalt des politischen Sturmwindes zu entgehen.
0045Meine Verwandten und fast alle Beamten hatten längst
0046Wien verlassen. Ich pflegte Abends, im September und
0047October, wo die Sehnsucht nach einer freundschaftlichen An-
0048sprache und einer Erinnerung an Kunst und Wissenschaft
0049fast brennend geworden, in einer kleinen Weinstube in der
0050Bäckerstraße mit den Componisten Nottebohm und
0051Franz Jüllich, dem Musikschriftsteller Graf Laurencin
0052und einem in skandinavischer Literatur thätigen Beamten,
0053Karl Oberleithner, mich zusammenzufinden. Diese
0054Weinstube, in welcher wir uns meist ganz ungestört be-
0055fanden, hatte Nottebohm entdeckt, der Kenner und Schätzer
0056eines „schönen Weines“. Wir Anderen waren Laien in diesem
0057Fache; insbesondere Laurencin und ich bewiesen es, von
0058Nottebohm verspottet, indem wir nur ein Gläschen süßen
0059Tokaiers oder Rusters tranken. Einige Schnitten Wurst
0060dazu, das war das ganze Gelage.
0061Gustav Nottebohm, ein Westfale und Protestant, der als
0062angehender Componist sich noch der Unterweisung und Auf-
0063munterung Mendelssohn’s zu erfreuen gehabt, war ein tüchtig
0064geschulter Musiker. Sein feines, etwas anlehnendes Talent
0065hat er in einigen Clavierstücken in gewinnendster Weise be-
0066wiesen, aber nicht lange cultivirt. Er wendete sich mit Vor-
0067liebe bald der theoretischen und geschichtlichen Seite seiner
0068Kunst zu und genoß als Lehrer der Composition, wie als
0069musikalischer Forscher bekanntlich großes Ansehen. Seine
0070Bücher „Beethoviana“, „Mozartiana“, seine thematischen
0071Kataloge der Beethoven’schen und Schubert’schen Werke sind
0072Muster einer gewissenhaften, reinlichen Arbeit. In unserem
0073kleinen Kreise war er der Aelteste und übte eine gewisse Auto-
0074rität. Er war ein spröder Hagestolz und Sonderling. Unter
0075einer außerordentlich breiten, zurückfliegenden Stirne blitzten
0076zwei giftig blaue Aeuglein hervor, welche neben der rothen
0077Nase und dem röthlichen Bart noch greller schienen. Er
0078hatte keine gesellschaftlichen „Manieren“, eckige Bewegungen,
0079eine scharf abgehackte, in kurzen Sätzen springende Rede-
0080weise. Ein durchaus ehrenwerther, selbstständiger, in seiner
0081Lebensführung anspruchsloser Mann, war er doch keines-
0082wegs ein liebenswürdiger oder bequemer Gesellschafter. Aber
0083ich hielt mich gern zu ihm, da mir der Verkehr mit einem
0084tüchtigen, praktischen Musiker, der mehr Bildung besaß als
0085die meisten seiner Wiener Collegen, werthvoll war, und seine
0086warme Verehrung für Mendelssohn und Schumann, sowie
0087sein Widerwille gegen Liszt’s Compositionen mich sympathisch
0088berührten. In späteren Jahren haben Beschäftigung und
0089Geselligkeit uns weiter von einander entfernt, wie dies leider
0090in großen Städten zu gehen pflegt. Nottebohm ist nach
0091kurzer Krankheit im Jahre 1882 gestorben; ein Verlust für
0092seine Freunde und für die Musikwissenschaft.
0093Ein Original ganz anderer Art war Graf Ferdi-
0094nand Laurencin. Im Gegensatze zu dem verstandes-
0095scharfen, kritischen Nottebohm war er der musikalische
0096Enthusiast vom reinsten Wasser. Mir ist nie wieder ein
0097Mensch begegnet, den Musik so vollkommen entzücken und
0098beglücken konnte, der so ausschließlich in Musik webte, lebte
0099und — starb. Er war der Sohn eines Kammerherrn des
0100Cardinals Erzbischofs Rudolph und hat seine erste Jugendzeit
0101am Hofe dieses musikliebenden Fürsten in Olmütz verlebt.
0102Er erinnerte sich noch des vortrefflichen Clavierspieles des Erz-
0103herzogs, dem bekanntlich Beethoven Unterricht ertheilt und
0104seine Missa solennis gewidmet hat. Seine musikalischen Stu-
0105dien hatte Laurencin bei Tomaschek und bei dem Organisten
0106Pietsch in Prag betrieben. Dann übersiedelte er nach Wien,
0107wo er, mit einer bescheidenen Apanage von seiner Mutter
0108ausgerüstet, hauptsächlich der Musik lebte. Wer kannte ihn
0109nicht, den auffallend kleinen Mann mit dem sehr großen
0110Kopfe und den über die Brille hinausschielenden kurzsich-
0111tigen Aeuglein? Wer hat ihn nicht an Sonntag Vormittagen,
0112mit einer dicken Partitur unter dem Arm, durch die Straßen
0113eilen sehen? Laurencin pflegte nämlich, der Musik wegen, zwei
0114Messen nach einander zu hören; er rannte von der Minoriten-
0115kirche in die Hofburgcapelle und von da sofort in das
0116Mittagsconcert der Philharmoniker oder der Gesellschaft der
0117Musikfreunde. Um halb 5 Uhr Nachmittags war er in der
0118Quartett-Production Jansa’s oder Hellmesberger’s (welche
0119erst in späteren Jahren auf die Sieben-Uhr-Stunde verlegt
0120wurde) und um 7 Uhr, wenn es eine classische Oper gab, [2]
0121auf der vierten Galerie des Hofoperntheaters. Er konnte
0122unglaubliche Massen von Musik vertragen mit der gleichen
0123Empfänglichkeit. Selbst die allerbekanntesten Werke, wie
0124Beethoven’s Quartette op. 18, oder Mozart’s G-moll-
0125Symphonie, verfolgte er in jeder Aufführung eifrig mit-
0126lesend in der Partitur. Dabei kritzelte er unaufhörlich mit
0127seinem Bleistift Notizen, deren Inhalt ich niemals ent-
0128räthseln oder erfahren konnte. Bei jeder schönen Stelle, und
0129deren gab es für Laurencin sehr viele, nickte er vergnügt
0130mit dem Kopfe, that einen Ausruf des Entzückens, schmun-
0131zelte, lachte und setzte seinen Bleistift in wüthende Bewe-
0132gung. Seine musikalische Empfänglichkeit und Begeisterung
0133kannte keine Grenzlinie. Eine canonische Stimmführung in
0134irgend einer unbedeutenden Schulmeistermesse, eine sentimen-
0135tale Modulation von Spohr, der gewaltigste Bach’sche Choral
0136und Beethoven’s Neunte Symphonie — Alles tauchte den
0137beneidenswerthen Mann in die gleiche Fluth von Entzücken.
0138Er hatte in diesem Gebahren ohne Frage etwas Komi-
0139sches, aber auch etwas Liebenswürdiges, durch kind-
0140liche Naivetät Rührendes. Es versteht sich fast von
0141selbst, daß einer solchen Gewalt fast elementarischen
0142Musikempfindens nicht eine gleiche Stärke ästhetischen Ur-
0143theiles zur Seite stand. Laurencin war auch sehr leicht aus
0144seiner ursprünglichen Ansicht zu verdrängen. Wir gingen
0145einmal zusammen zu einer Aufführung von Haydn’s mir
0146damals noch nicht bekannten „Sieben Worten“. Auf dem
0147Wege hin überströmte Laurencin von Bewunderung dieses
0148Werkes und versprach mir Wunderdinge davon. „Nun, was
0149habe ich dir gesagt?“ fragte er freudestrahlend beim Heraus-
0150gehen. „Aufrichtig gestanden,“ erwiderte ich, „habe ich mich
0151schrecklich gelangweilt.“ Ich suchte dieses pietätlose Wort
0152nach Möglichkeit zu rechtfertigen und empfing nach einer
0153Weile Laurencin’s zustimmendes Votum: „Ja, du hast
0154Recht, es ist doch eigentlich ein Zopf!“ Laurencin schrieb
0155unter dem Namen Philokales in die Wiener Musikzeitung
0156von August Schmidt und versah sie insbesondere mit Be-
0157richten über die Kirchenmusik-Aufführungen. Er hatte einen
0158Artikel über Mendelssohn’s „Elias“ angekündigt, ein Werk,
0159von dessen Schönheit er ganz erfüllt war. Der Gewalt
0160seiner Empfindung entsprach aber leider auch ein in Super-
0161lativen überströmender, sich in den längsten Perioden fort-
0162windender Styl. Laurencin hat viel Hegel gelesen, was
0163schwerlich zur Klärung seiner etwas confusen Darstellungs-
0164weise beitragen konnte. Da begann er nun mit einer langen
0165philosophischen Untersuchung des Begriffes „Oratorium“,
0166welche mehrere Nummern der Zeitung füllte, dann folgte
0167ein historischer Rückblick, abermals von ansehnlicher Länge,
0168endlich war er bei der Ouvertüre angelangt und kam unter
0169der bedrohlich anwachsenden Ungeduld der Leser und der
0170Redaction nicht vom Fleck mit seiner gründlichen Analyse.
0171Der Aufsatz gelangte ungefähr bis zur Kritik der zweiten
0172oder dritten Nummer des Oratoriums — da riß dem guten
0173August Schmidt die Geduld: er strich das fürchterliche
0174„Fortsetzung folgt“ unbarmherzig von dem Manuscript und
0175versetzte dem bestürzten Grafen den vernichtenden Bescheid:
0176„Jetzt ist’s aus.“ Es ist niemals eine Fortsetzung des groß-
0177artigen „Elias“-Artikels erschienen.
0178Mit einem schüchternen Versuch, Laurencin als Musik-
0179referenten vorzuschlagen, bin ich einmal schlecht angekommen.
0180Es war bei Dr. Ignaz Kuranda, dem Herausgeber der
0181„Ostdeutschen Post“ und hochverdienten Begründer der
0182„Grenzboten“, die als verbotener, gierig verschmauster Lecker-
0183bissen eine so wichtige Rolle gespielt haben im vormärzlichen
0184Oesterreich. Wir Wiener wissen, daß der geistvolle Kuranda
0185mitunter recht komisch aussehen konnte. Die illustrirten Witz-
0186blätter lebten geraume Zeit von seiner mit drei Linien um-
0187rissenen, sofort kenntlichen Caricatur. Wenn das kleine
0188hagere Männchen in Eifer gerieth — und das geschah
0189sehr leicht — dann schien seine berühmte Nase noch
0190weiter vorzuspringen, seine Bewegungen überhasteten sich
0191und seine Stimme überschlug in einen wunderlichen,
0192orientalisch modulirenden Discant. Kuranda ersuchte mich
0193eines Tages, das Musikreferat in der „Ostdeutschen Post“
0194zu übernehmen. Das konnte ich nicht, denn ich sollte eben
0195nach Klagenfurt verbannt werden — nicht wie Görgey aus
0196politischen, sondern aus bureaukratischen Gründen. „So
0197schlagen Sie mir jemand Anderen vor!“ Das war damals
0198wirklich nicht leicht; doch äußerte ich nach einigem Nach-
0199denken, Laurencin würde vermuthlich gern für die „Ost-
0200deutsche Post“ schreiben. „Ja, er wird schreiben, freilich er
0201wird schreiben,“ sprudelte Kuranda, „aber“ — und hier flog
0202seine Stimme in die höchste Octave — „aber wer wird’s
0203lesen?“ Das klang so schlagend und zugleich so komisch, daß
0204ich vor Lachen nichts entgegnen konnte.
0205Eine durchaus innerliche musikalische Natur, hatte
0206Laurencin unüberwindlichen Abscheu vor der „verfluchten
0207Politik“ und jeder dahin einschlägigen Discussion. In
0208Momenten der größten politischen Aufregung und Be-
0209stürzung, während des Barricadenkampfes und des An-
0210marsches Jellacic’ gegen Wien fand ich Laurencin in seiner
0211hochgelegenen Stube emsig vertieft in Hegel’s „Phäno-
0212menologie“ oder in die H-moll-Messe von Bach. Er wußte
0213gar nicht, was draußen vorging, wollte es auch nicht wissen.
0214Eine zeitlang prakticirte er beim Landesgerichte und sollte
0215die erste Richteramtsprüfung machen. Da hatte er denn an-
0216statt Hegel und Bach das Strafgesetzbuch vor sich liegen.
0217Aber bei seiner philosophischen Gründlichkeit und Umständ-
0218lichkeit blieb er immer an dem §. 7 haften, so daß man in
0219jedem Sinne sagen darf, er ist in seiner richterlichen Lauf-
0220bahn nicht über den „Versuch“ hinausgekommen. Eine kleine
0221Erbschaft von seiner Mutter machte es ihm später möglich,
0222diesem Berufe, für den er schlechterdings nicht paßte, rasch
0223Adieu zu sagen. Laurencin hatte sich mit einer nicht mehr ganz
0224jungen hochgebildeten Dame verlobt, welche als Gouvernante bei
0225einer gräflichen Familie in Böhmen lebte. Ich ergötzte mich
0226oft daran, ihn Abends im „Juridisch-politischen Leseverein“,
0227diesem wohlthätigen Asyl für uns studirende Junggesellen,
0228emsig schreiben zu sehen, einen dicken Folianten vor sich. „Was
0229schreibst du denn da?“ — „O,“ erwiderte er mit einem
0230glückstrahlenden Lächeln, „an meine göttlichst liebenswür-
0231digste Antoinette.“ — „Und so viele Blätter?“ — „Ja, ich
0232schreibe ihr täglich sechzehn bis vierundzwanzig Seiten, und
0233ja kein Wort von der gottverdammten Politik — nur was
0234mein Herz mir dictirt!“ Seine Mutter, „die alte aristokra-
0235tische Frau“, wie er oft schmähte, wollte die Heirat nicht zu-
0236geben. Später erreichte er doch sein Ziel und ward einer der
0237glücklichsten Ehemänner, die es gegeben hat. Der kleine Laurencin
0238neben seiner ungewöhnlich großen Frau bot freilich einen
0239komischen Anblick, aber seine Ehehälfte (von Ambros „sein
0240Ehe-Siebenachtel“ genannt) wußte ihm das Leben zu glätten
0241und zu verschönern. Es war der härteste Schlag für ihn,
0242als der Tod ihm seine Antoinette raubte, und nie hat er
0243sich völlig von diesem Schlage erholt. Die Musik mußte [3]
0244ihm nun Alles sein und ward auch thatsächlich sein Alles.
0245Im Jahre 1891 hatte ich noch die Freude, im engsten
0246Freundeskreise den siebzigsten Geburtstag Laurencin’s zu
0247feiern. Durch allerlei Künste hatte ich dieses Datum aus-
0248gekundschaftet. Wie erquickte uns seine kindliche Freude, sein
0249dankerfülltes Gemüth! In einem scherzhaften Toast sagte ich,
0250auf seine Hinneigung zur neudeutschen Schule anspielend,
0251Laurencin habe zwar den übermäßigen und den verminderten
0252Dreiklang verherrlicht, aber seine Seele werde dereinst sicher-
0253lich in Gestalt eines reinen Dreiklanges zum Himmel auf-
0254steigen. Wir ahnten nicht, daß dies so bald geschehen werde.
0255Laurencin hat seinen siebzigsten Geburtstag nur um wenige
0256Wochen überlebt.
0257Wenn wir in unserem stillen Weinstübchen uns des
0258Abends von Musik unterhielten, so betraf das natürlich
0259nur unsere musikalischen Studien und Erinnerungen. Von
0260lebendiger Musik künstlerischen Gehalts war ja in dem
0261ganzen Revolutionsjahre nichts zu vernehmen. Die Concert-
0262säle waren geschlossen, die Oper, die sich mit dem aller-
0263nöthigsten Personal und abgespielten Werken behalf, verödet.
0264Dafür hörte man allenthalben das „Fuchslied“, das zu einer
0265Art harmloser Marseillaise der Studenten geworden war,
0266und das lyrische Frag- und Antwortspiel „Was ist des
0267Deutschen Vaterland“. Ein sehr reactionärer hoher Militär-
0268Beamter, in dessen Familie ich viel verkehrte, ärgerte sich
0269täglich einigemale darüber, daß eine Treppe über ihm das
0270„Fuchslied“ gespielt wurde; sofort setzte er sich ans Clavier
0271und spielte mit aller Macht die österreichische Volkshymne.
0272Man replicirte oben noch stärker mit „Was kommt dort von
0273der Höh’?“, worauf unten in wüthendem Fortissimo „Gott
0274erhalte unsern Kaiser“ gehämmert wurde. Dieses musikalische
0275Duell zwischen zwei unsichtbaren Gegnern wiederholte sich
0276mehrmals des Tages. Eine recht schöne Unterhaltung.
0277Das alte harmlose „Fuchslied“ hatten die Wiener aus
0278Benedix’ Studenten-Lustspiel „Das bemooste Haupt“ kennen
0279gelernt, das allabendlich im Theater an der Wien gegeben
0280wurde. In diesem Stücke kommt auch eine solenne „Katzen-
0281musik“ vor, die, von dem lernbegierigen Wien schnell aufge-
0282faßt und begeistert acclamirt, bald unzählige Katzenmusiken
0283ins Leben rief. Unvergeßlich bleibt mir eine davon, die mit
0284Thalberg’s Abschiedsconcert in komische Verbindung gerieth.
0285Der berühmte Pianist, nach seiner letzten Nummer stürmisch
0286hervorgerufen, setzte sich nochmals ans Clavier und begann
0287mit der Volkshymne, welcher ohne Zweifel brillante Varia-
0288tionen folgen sollten, aber schon während der ersten Tacte
0289hörte man verdächtiges Pfeifen und Miauen von der Straße
0290her — Thalberg merkte Unheil und schloß resignirt mit dem
0291Thema ohne Variationen. Und in der That gerieth man
0292aus dem Concertsaal unmittelbar in ein anderes, sehr kräf-
0293tiges Concert, welches in der Eigenschaft eines Ständchens
0294der k. k. Polizei-Direction gebracht wurde. Das Publicum
0295war hier noch viel, viel zahlreicher als in Thalberg’s Con-
0296cert, schien aber nicht ebenso beifallslustig und anerkennend
0297— es pfiff aus Leibeskräften.
0298Wenige Tage, bevor in Wien das „Fuchslied“ für immer
0299verstummen sollte, an einem sonnigen October-Nachmittag,
0300stieß ich nächst der Universität auf den Dr. Alfred
0301Becher. Er hatte sich aus dem harmlosen Componisten
0302und Musik-Kritiker in den radicalsten Journalisten der Re-
0303volutionspartei umgewandelt. Das Gewehr geschultert, mit
0304rasselndem Schleppsäbel und zerknülltem Calabreser begrüßte
0305er mich kurz: „Wohin? Kommen Sie mit mir auf die
0306Rothenthurmbastei, wir brauchen noch junge Leute!“ —
0307„Fällt mir nicht ein,“ erwiderte ich. „Aber Sie, lieber
0308Becher, sollten lieber mit mir kommen; ich wäre glücklich,
0309sähe ich Sie wieder zu Ihrer Kunst, zur Musik, zurückkehren
0310aus diesem aussichtslosen, verderblichen Treiben!“ — „Wird
0311auch geschehen, wird gewiß bald geschehen!“ rief er mir be-
0312gütigend zu und eilte weiter. Ich habe ihn nie wieder ge-
0313sehen. Er war kriegsrechtlich wegen Hochverraths verurtheilt
0314und am 23. November 1848 erschossen worden. Obgleich
0315ich eigentlich nie in intimerem freundschaftlichen Verkehre
0316mit ihm gestanden habe, ging mir sein schreckliches Ende doch
0317sehr nahe. Becher war ein unsteter, leidenschaftlicher, aber
0318sehr begabter und im Grunde redlicher Mensch gewesen;
0319überdies der beste Musikkritiker des vormärzlichen Wien, ja
0320der einzige, der überhaupt ernst zu nehmen war. Von
0321deutschen Eltern in Manchester geboren, hatte er in Leipzig
0322Musik studirt und eine große Verehrung für Mendelssohn
0323von dort mitgenommen. In Wien — ich weiß nicht, welcher
0324Anlaß ihn hergeführt — gab er einige Musikstunden, com-
0325ponirte und schrieb zeitweilig für die „Sonntagsblätter“ und
0326Schmidt’s Musikzeitung. Er hielt viel größere Stücke auf
0327seine Compositionen, als auf seine Kritiken; mir schien das
0328Umgekehrte richtig. Er war ein grübelnder Componist, welcher
0329geistreiche, oft abstruse Combination für musikalische Erfin-
0330dung hielt. Ein Heft Clavierstücke, meines Wissens die einzige
0331gedruckte Composition von ihm, gewährte, theilweise an
0332Mendelssohn anlehnend, noch einiges Vergnügen; eine
0333Symphonie und ein Streichquartett hingegen, beide auf den
0334späteren Beethoven „fortbauend“, machten den Eindruck des
0335trostlos Erzwungenen. Grillparzer hat Becher’s Musik mit
0336folgendem Epigramm von wahrhaft vernichtender Anschaulich-
0337keit charakterisirt:
0338Dein Quartett klang, als wenn Einer
0339Mit der Axt gewicht’gen Schlägen
0340Und drei Weiber, welche sägen,
0341Eine Klafter Holz verkleiner’!
0342Wie eine traurige Ironie des Schicksals erscheint es,
0343daß Becher im letzten Spirituel-Concert (Ende April) einen
0344Trauermarsch mit Chor: „Ueber den Gräbern der am
034513. März Gefallenen“, zur Aufführung brachte, in deren
0346Schlußstrophe er die österreichische Volkshymne verwebte!
0347Wenige Monate nach dieser patriotischen Gelegenheits-Musik
0348wurde der Componist als Hochverräther hingerichtet. Becher
0349frappirte durch seine auffallende Erscheinung; eine lange,
0350hagere Gestalt mit einem Shakespeare-Kopfe, von dessen
0351hoher, bereits etwas kahler Stirne lange, graublonde Haare
0352bis auf die Schultern fielen. Er war sehr nachlässig gekleidet,
0353nervös-unruhig in seinen Bewegungen und sah in Folge
0354seines unregelmäßigen Lebens früh gealtert aus. Becher
0355mochte viel Aehnlichkeit mit dem genialen, unordentlichen und
0356gleichfalls dem Weine ergebenen F. A. Kanne haben, dem
0357besten Wiener Musikkritiker zu Beethoven’s Zeit. Die Namen
0358Kanne und Becher waren für Beide sehr bezeichnend. Wie
0359es geschehen konnte, daß dieser der Politik ganz fernstehende
0360fünfundvierzigjährige Mann sich so weit in das wüste Treiben
0361der extremsten Wiener Revolutionspartei verstricken ließ, ist
0362mir nie ganz klar geworden. Er hat seine nachgiebige
0363Schwäche und Verblendung schwer gebüßt. Dem politischen
0364Fortschritt ist er von gar keinem Nutzen gewesen, für die
0365musikalische Bildung Wiens hätte er gewiß noch sehr förder-
0366lich gewirkt.