Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10386. Wien, Sonntag, den 23. Juli 1893
[1]Neue Musik-Literatur.
(Maurel. Otto Nicolai. Reisende Musikerinnen. Spitta.)
0003Ed. H. Sind gründliche physiologische Kenntnisse un-
0004entbehrlich, um gut zu singen? Ist es die Wissenschaft der
0005Physiologie und Anatomie, von der wir das Ideal des
0006schönen Gesanges zu erwarten haben? Ich glaube nicht.
0007Wissenschaftliche Einsicht kann niemals schaden, gewiß. Aber ich
0008kann mich schwer von der Ueberzeugung losmachen, daß Gesangs-
0009kunst vornehmlich durch lebendiges Beispiel, durch den Unter-
0010richt eines tüchtigen Sängers erlangt werde, ohne daß Lehrer und
0011Schüler mehr als die allgemeinsten, jedem Gebildeten geläu-
0012figen Begriffe von der Structur und Function der Stimm-
0013organe besitzen. Wären Kehlkopfspiegel der Zauberstab für
0014die schönste Tonbildung und anatomische Präparate das
0015sichere Heilmittel gegen die Verderbniß unserer Gesangskunst,
0016dann müßten ja unsere berühmten Laryngoskopen die besten
0017Gesangslehrer, vielleicht gar die vollkommensten Sänger sein.
0018Mit den beim Clavierspiel zusammenwirkenden Muskel-
0019thätigkeiten verhält es sich nicht viel anders. Wer das
0020classische Werk des Physiologen Weber über die menschliche
0021Hand noch so fleißig studirt hat, er wird darum als Pianist
0022nicht über ein geläufigeres Passagenspiel, einen klangvolleren
0023Anschlag und lebendigeren Vortrag verfügen. Und der vir-
0024tuoseste Ballettänzer, der erfolgreichste Tanzlehrer, ist es
0025derjenige, der von jedem Muskel, jedem Nerv des Fußes
0026am genauesten Rechenschaft zu geben weiß? Einen Ballet-
0027meister würde ich mir lieber unter den Schülern Taglioni’s
0028aussuchen als unter jenen von Hyrtl. Physiologie und aus-
0029übende Kunst sind in der Praxis getrennte Gebiete. Herrn
0030Maurel kennen wir von seinem Jago und Falstaff her
0031als einen Gesangskünstler von meisterhafter Technik und
0032feinem Geschmack. Wie commandirt er seine folgsame Stimme,
0033wie weiß er sie jedem Ausdruck anzupassen! Angehende Sänger
0034können ungemein viel lernen, wenn sie Maurel hören —
0035mehr, als wenn sie ihn lesen. Sein neues Buch heißt: „Un
0036Problême d’art“ (Paris 1893, chez Tresse et Stock).
0037Victor Maurel gehört zu jenen intelligenten Sängern, welche
0038neben ihrem künstlerischen einen aparten wissenschaftlichen
0039Ehrgeiz besitzen und uns literarisch beibringen möchten,
0040was nur durch lebendige Unterweisung sich lernen läßt. Das
0041„Kunstproblem“, welches er in seinem Buche zu lösen unter-
0042nimmt, lautet: „Auf welchem Wege können wir die mensch-
0043liche Stimme tauglich machen, alle Wirkungen hervorzu-
0044bringen, deren die Gesangskunst fähig ist?“ Darauf ant-
0045wortet Maurel kurz und bündig: „Durch die Wissenschaft
0046der Physiologie!“ Den Beweis für seine Thesis führte er
0047in breiter Ausführlichkeit, mit fast pedantischer Einschachte-
0048lung von Abtheilungen und Unterabtheilungen, deren Ein-
0049theilungsgrund er bei jedem Capitel von neuem wiederholt.
0050Der erste Theil des Buches handelt von den drei
0051Qualitäten des Tones, in deren Wechselwirkung jede
0052stimmliche Production — Sprache und Gesang — besteht: die
0053Höhe, die Stärke und die Klangfarbe. Der Verfasser erklärt
0054nun, welche Stimmwerkzeuge bei jeder dieser drei Eigen-
0055schaften in Function treten; wie die Stimmbänder, der Kehl-
0056kopf, die Lunge, die Lippen. Jede der drei Tonqualitäten
0057wird nun einzeln vorgenommen und physiologisch geprüft.
0058Nachdem oft eine Collision eintritt, muß der Sänger ein
0059„Equilibrist sein, der mit den drei Eigenschaften des Tones
0060spielt“. Wie Maurel ausdrücklich betont, berücksichtigt sein
0061Buch lediglich die technische Seite des Gesanges. Es
0062wäre uns gewiß erwünscht gewesen, einen Künstler wie Maurel
0063auch über die ästhetische Seite seiner Kunst sprechen zu hören:
0064über den Ausdruck verschiedener Empfindungen und Situa-
0065tionen, über das Vorherrschen der recitirenden oder der
0066gesangvollen Tonbildung, über die Auffassung einzelner Rollen
0067und Scenen. Nichts von alledem. Die bisherigen Methoden
0068des Gesangsunterrichtes verurtheilt Maurel sammt und
0069sonders mit dem Worte „Empirismus“: d. h. Beobachtung
0070der Wirkungen, ohne Kenntniß der Ursachen. An jenen
0071ausgezeichneten Sängern, welche sich dem Unterrichte widmen,
0072respectirt Maurel nur die gute Absicht, spricht ihnen aber
0073entschieden die Fähigkeit ab, ihre Kunst auf Schüler über-
0074tragen zu können, „denn sie besitzen keine gründliche Kennt-
0075niß der physiologischen Gesetze und haben keine Idee von
0076der dreifachen Qualität des Tones“. Ein Aufschwung der
0077Gesangskunst sei nur möglich, wenn der Unterricht auf streng
0078physiologisch wissenschaftlicher Grundlage geschieht und die
0079Persönlichkeit des Meisters verschwindet (s’efface) vor der
0080Einheit und Unpersönlichkeit der Wissenschaft. Maurel faßt
0081schließlich seine Anforderungen an die Sänger „oder wenig-
0082stens an die Gesangslehrer“ in Folgendem zusammen: „Sie
0083müssen aufs gründlichste alle Wissenschaften studiren, welche
0084directe oder indirecte Beziehungen zur Tonbildung haben;
0085also mit der theoretischen und Experimental-Physik an-
0086fangen, sodann zur Anwendung der Physik auf Musik
0087fortschreiten; weiter zur theoretischen und praktischen Ana-
0088tomie (!), zur theoretischen und praktischen Physiologie,
0089um schließlich anzulangen bei der Anwendung der Physiologie
0090auf den Gesang.“ Kein Zweifel, daß die meisten unserer
0091bereits zahllosen Gesangslehrer ihre Aufgabe zu leicht nehmen.
0092Wenn aber der französische Unterrichtsminister, dem Maurel’s
0093Buch gewidmet ist, dessen Anforderungen billigt, dann dürfte
0094bald nichts schwieriger zu erlangen sein, als ein Befähigungs-
0095Diplom zum Gesangsunterricht.
0096Das Auftreten Maurel’s in Verdi’s „Falstaff“ hat
0097allenthalben die Erinnerung an Otto Nicolai’s Oper
0098„Die lustigen Weiber von Windsor“, wachgerufen und nicht
0099zum Nachtheile des deutschen Componisten. Fast gleichzeitig
0100mit „Falstaff“, also in günstigem Zeitpunkte, sind bei Breit-
0101kopf & Härtel „Otto Nicolai’s Tagebuchblätter“ er-
0102schienen, herausgegeben mit biographischen Ergänzungen von
0103B. Schröder. An eine Veröffentlichung dieser rein per-
0104sönlichen flüchtigen Aufzeichnungen hat Nicolai selbst niemals
0105gedacht. Sie notiren in Schlagworten die bekannten Sehens-
0106würdigkeiten, die er in Venedig, Rom, Neapel, Bologna
0107besichtigt, die Bekanntschaften, die er gemacht, die Lectionen,
0108die er schönen Engländerinnen und Russinnen gegeben u. s. w.
0109Dazwischen laufen zahlreiche rothe Fäden stärkerer oder schwächerer
0110Liebesneigungen, die uns einen Blick in das leicht erreg-
0111bare, leidenschaftliche Gemüth des jungen Künstlers gewäh-
0112ren. Mancher dieser Fäden drohte, sich unfehlbar zu einem
0113Strick um seinen Hals zu winden. Der Herausgeber scheint
0114mir seine löbliche Pietät für Nicolai etwas zu weit auszudehnen,
0115wenn er bei dem Abbruch dieser Liebesaffairen stets die „moralische [2]
0116Kraft und starke, zielbewußte Selbstbeherrschung“ Nicolai’s
0117rühmt, während es doch fast immer äußere Zwischenfälle waren,
0118die, ohne sein Zuthun, ihn aus den Armen gefährlicher Zaube-
0119rinnen retteten. Eine derselben, in den Tagebüchern „Armida“
0120genannt, war die Gattin eines auch von Nicolai geachteten
0121Mannes. Nicolai’s glühende Leidenschaft für sie fand eben
0122so grenzenlose Erwiderung. „Diese ganze Zeit,“ heißt es in
0123dem Mailänder Tagebuche von 1837, „ist nur in der Liebe
0124zu Armida hingegangen.“ Als Capellmeister ans Kärntner-
0125thor-Theater berufen, fühlt sich Nicolai unfähig, sie zu ver-
0126lassen, und macht ihr den Vorschlag, mit ihm nach Wien zu
0127ziehen. Armida ist aber klüger als er und mag ihre ge-
0128borgene, glänzende Existenz an der Seite ihres Mannes
0129nicht einer unsicheren Zukunft opfern. Bald nachher
0130verliebt sich Nicolai in die Sängerin Erminia Frezzo-
0131lini. Ihr Vater ist gegen diese Heirat, aber die Liebes-
0132leute, Beide majorenn, vollziehen trotzdem ihre förmliche
0133Verlobung. Wenige Monate später bewirbt sich der Tenorist
0134Poggi um Erminia’s Hand und sie heiratet ihn vom Fleck
0135weg. Eine andere Leidenschaft fesselte Nicolai in den nächsten
0136Jahren an eine ungarische Jüdin von blendender Schönheit,
0137aber allerschlechtestem Rufe. „Es waren zwei Jahre wahn-
0138sinniger, überseliger, abspannender, tödtlicher Leidenschaft.“
0139Die Gegenbeweise ihrer vermeintlichen Liebe und Treue
0140wurden aber bald so grell, daß Nicolai seine Gedanken an
0141eine Heirat, „die er ihr glaubte schuldig zu sein“, aufgeben
0142mußte. Julia tröstete sich mit einem adeligen Officier, der,
0143um sie zu heiraten, den Dienst quittirte. Eine einzige,
0144ruhigere Neigung Nicolai’s — die zu seiner Schülerin
0145Pauline v. Stradiot — schien die Gewähr für ein solides
0146Eheglück zu bieten. Aber auch dieser letzte Heiratsplan sollte
0147sich nicht realisiren. Wichtiger, als diese Herzensgeschichten,
0148sind Nicolai’s Notizen über seine musikalische Thätigkeit in
0149Wien. Er hatte mit seiner Oper „Il Templario“ in Turin,
0150dann in Genua und Mailand einen großen Erfolg er-
0151rungen und führte, von Merelli engagirt, sie mit den italieni-
0152schen Sängern in Wien auf. Der „Templario“ gefällt hier,
0153und Nicolai wird für drei Jahre als erster Capellmeister
0154am Kärntnerthor-Theater engagirt; er bekommt jährlich
01552000 Gulden und einen zweimonatlichen Urlaub, während
0156dessen die Gage eingestellt wird. Seine Collegen sind
0157Proch und Reuling, zwei Dirigenten, welche der ebenso
0158feurige wie gewissenhafte Nicolai leicht in Schatten stellen
0159konnte. „Das Bedeutendste,“ schreibt Nicolai 1844 in
0160sein Tagebuch, „ist die Gründung der Philharmoni-
0161schen Concerte. In diesen Concerten habe ich bis jetzt
0162nur durchaus classische Musik zur Aufführung gebracht, und
0163in diesem Sinne sollen sie auch fortbestehen. Da die Phil-
0164harmonischen Concerte durchaus keinem anderen Grund ihr
0165Bestehen verdanken, als meinem freien Willen und dem
0166freien Willen der Orchestermitglieder, so fällt mir in jedem
0167Jahre von neuem die Schererei zu, die Leute dazu zu ver-
0168einigen, da sich diesen herrlichen Aufführungen selbst dennoch
0169einige Querköpfe entgegensetzen. Das Unternehmen hat beim
0170Publicum und der Kritik den einstimmigsten Anklang ge-
0171funden. Die ersten sechs Concerte ergaben einen Ueber-
0172schuß von 8000 Gulden. Wenn bei unserer nur temporären
0173Anstellung ein Pensionsfonds denkbar wäre, so würden
0174diese Concerte den schönsten Fonds dazu beisteuern
0175können. Vielleicht setze ich das auch noch durch!“
0176Vergleichen wir diese Angaben mit dem gegenwärtigen Be-
0177stande unserer Philharmonischen Concerte. Nicolai gab
0178jährlich zwei Concerte, wir haben deren jetzt acht in der
0179Saison. Die Stärke des Orchesters ist beinahe auf das
0180Doppelte gewachsen. (Nicolai besetzte die Harmonie nur
0181einfach und mußte die Geiger durch „Künstler aus der
0182Stadt“ verstärken.) Der Reinertrag der Concerte beträgt
0183heute das Drei- bis Vierfache. Nicolai’s Project eines
0184Pensionsfonds für die Musiker ist zwar nicht bei seinen Leb-
0185zeiten, aber doch unter dem gegenwärtigen Dirigenten
0186der Philharmonischen Concerte realisirt worden. Am
01877. März 1847 hat das letzte Philharmonische Concert
0188(das zwölfte seit deren Begründung) unter Nicolai’s
0189Direction stattgefunden und durch die schwungvolle
0190Aufführung der Neunten Symphonie von Beethoven
0191tiefen Eindruck gemacht. „Ich glaube,“ heißt es im
0192Tagebuch, „eine zeitlang werden diese unübertrefflichen
0193Concerte auch ohne mich vortrefflich bestehen; für die
0194Dauer aber dürften sie sich ohne mich, oder doch ohne
0195einen Director, der, wie ich, Zeit und Mühe daran setz,
0196dabei meine Energie und meine Ausdauer besitzt, schwerlich
0197erhalten, wenigstens nicht in dieser Vollkommenheit. Nun,
0198die Zukunft wird es ja lehren!“ Die nächste Zukunft hat
0199wirklich gelehrt, welch großen Verlust für Wien der Abgang
0200Nicolai’s bedeutete. Die Philharmonischen Concerte ver-
0201mochten nicht weiter zu gedeihen. Ihre Erfolge gehörten,
0202wie so viele in Oesterreichs Kunstgeschichte, zu den „inter-
0203mittirenden“, welche, einmal unterbrochen, sich immer wieder
0204mit verdoppelter Anstrengung von neuem durchsetzen müssen.
0205Nach Nicolai’s Scheiden brachten die folgenden drei Jahre
0206je Ein Philharmonisches Concert unter der Direction von
0207Georg Hellmesberger (1848), W. Reuling (1849)
0208und H. Proch (1850) — „zum Teufel war der Spiritus“.
0209Dann stockten diese Concerte, die nur den Namen mit
0210Nicolai’s Schöpfung gemein hatten und wenig Theilnahme
0211fanden, bis im December 1854 Karl Eckert sie wieder
0212ins Leben rief. Mit fieberhaftem Eifer sucht Nicolai nach
0213einem guten deutschen Textbuch. „Indeß,“ klagt er, „wie
0214soll man Textbücher hernehmen in einem Lande wie diesem,
0215wo erstens keine Dichter existiren, die von der richtigen An-
0216fertigung solcher Arbeit auch nur einen leisen Begriff haben,
0217und wo vor Allem — für neue Opern nichts gethan und
0218so gut als nichts gezahlt wird? Scribe verlangt für
0219einen neuen französischen Operntext 12. bis 20,000 Francs,
0220und Deutschland gibt für eine neue Oper sammt Inschluß
0221des Buches entweder nichts, höchstens aber 500 fl., welches
0222die für meine neue Oper stipulirte Summe war. Und das ist
0223noch viel!“ Diese für 1846 „stipulirte Oper“ waren „Die
0224Lustigen Weiber von Windsor“. Nicolai hatte selbst den Plan
0225entworfen, welchen Mosenthal ausarbeitete. Dieser lieferte
0226dem Componisten nummernweise den Text gegen ein Honorar
0227von zehn Gulden für jede Nummer! Im September 1846
0228war Nicolai so weit, daß er dem Pächter des Kärntnerthor-
0229Theaters, Bolochino, anzeigen konnte, die Oper könnte noch
0230in diesem Jahre gegeben werden. Bolochino refusirte jedoch
0231die Oper, weil Nicolai sie für die vergangene Saison abzu-
0232liefern verpflichtet gewesen sei. Alles Vorstellen und Prote[3]-
0233stiren nützte nichts; Nicolai und Bolochino geriethen hart
0234an einander, und der Componist, so unwürdiger Behand-
0235lung überdrüssig, folgte einem Rufe nach Berlin. So kam
0236es, daß nicht die Wiener Hofoper, für welche die „Lustigen
0237Weiber“ componirt waren, sondern die Berliner deren erste
0238Aufführung brachte. Sie fand unter Nicolai’s Leitung mit
0239glänzendem Erfolge am 9. März 1849 statt. Ihm war es
0240leider nur vergönnt, drei Wiederholungen zu leiten — dann
0241raffte ihn, den kaum Neununddreißigjährigen, am 11. Mai
0242 ein plötzlicher Tod hinweg.
0243Ein Tagebuch ganz anderer Art erschien kürzlich bei
0244Hartleben in Wien unter dem Titel „Reisende
0245Musikerinnen“. Ein bescheidenes Büchlein von eigen-
0246artig intimem Reiz und nicht ohne culturhistorische Be-
0247deutung für Oesterreich. Der Herausgeber, Herr Max
0248Delia, kam vor einigen Jahren auf einer Reise durch das
0249Erzgebirge nach Sonnenberg in Böhmen. Es ist dies ein
0250Musikantenstädtchen wie das benachbarte Presnitz. Er kehrt
0251im Gasthof „zur Post“ ein, und indem er sich in der rein-
0252lichen Stube umsieht, erblickt er zu seiner Verwunderung
0253einen großen Stahlstich mit einer Ansicht von Saigon in
0254Hinterindien. Die freundliche Wirthin erklärt ihm, daß sie
0255mit ihrem Mann, der damals Capellmeister einer reisenden
0256Musikgesellschaft gewesen, mehrere Jahre dort gelebt habe.
0257Auf ihren Reisen, die sich auf den ganzen Orient und auf
0258Südasien erstreckten, hatte sie ein Tagebuch geführt. Auch
0259die junge Stiefschwester der Wirthin, ein schüchternes blondes
0260Mädchen, war lange mit auf Reisen gewesen und hatte
0261gleichfalls Aufzeichnungen darüber gemacht. Herr Delia
0262nahm Einsicht in diese Tagebücher und erhielt die
0263Erlaubniß, daraus das zur Veröffentlichung Geeignete
0264herauszugeben. „Von den reisenden Musikerinnen“, sagt er,
0265„von denen man in weiten Kreisen so gering denkt, hatte ich
0266einen ziemlich hohen Begriff bekommen, zum mindesten
0267mußte die Verfasserin der Reiseberichte nicht nur eine reich-
0268begabte, sondern auch eine menschlich und sittlich sehr hoch-
0269stehende Person sein.“ Einundzwanzig Jahre alt, war Frau
0270Marie Stütz mit ihrem Manne, gleich nach der Hochzeit
0271im October 1877, nach Konstantinopel abgereist. Erst nach
0272sieben Jahren kehrten sie in ihre Heimat zurück. Man wird
0273ihr einfach und naiv geschriebenes Tagebuch mit herzlichem
0274Antheile lesen. Wie viel Muth und Ausdauer zeigten diese
0275Frauen und Mädchen auf so weiten, beschwerlichen Reisen,
0276in den wechselnden fremden Klimaten Egyptens, Indiens,
0277Australiens! „Gar zu gerne wäre ich in der Heimat ge-
0278blieben, dem theuersten Plätzchen Erde, das der Mensch hat.
0279Aber uns armen Erzgebirgern ist es bestimmt, unser Brot
0280in fremden Ländern zu verdienen, und dabei müssen wir
0281uns noch von vielen Menschen mit Geringschätzung betrachten
0282lassen.“ In den Productionen dieser Gesellschaft wechseln
0283Instrumentalstücke mit Gesang ab. Ueber die Zusammen-
0284setzung des Orchesters lesen wir nichts, doch dürfte sie
0285ziemlich stattlich gewesen sein, denn die Ouvertüren zu
0286„Wilhelm Tell“, „Zampa“, „Semiramis“ werden erwähnt.
0287Die beiden Musikerinnen zeigen einen offenen Blick und
0288lebhafte Auffassung alles Sehenswerthen. Sie gehen nicht
0289müßig, suchen sich zu vervollkommnen, wir lesen von Gesang-
0290und Clavierunterricht, von täglichen Proben. Eine Erholung
0291in freien Stunden bietet Auerbach’s Roman „Auf der Höhe“.
0292Am meisten interessirt es uns, hier einen Blick in das
0293Privatleben einer solchen familienhaft zusammenhaltenden
0294reisenden Musikgesellschaft zu thun; da gibt es in ihrer Mitte
0295auf fremder Erde Verlobungen, Hochzeiten, Taufen — leider
0296auch Todesfälle. Die Gesellschaft war überall sehr beliebt;
0297man sieht sie ungern scheiden. Trotzdem bricht die Sehnsucht
0298nach der Heimat gar oft und in rührenden Accenten hervor,
0299am stärksten an allen Familien-Gedenktagen, am Weihnachts-
0300und Osterfeste. Die junge Stiefschwester der Frau Stütz, die
0301in Port-Said zurückgeblieben war mit dem größten Theile
0302der Gesellschaft, betritt erst im August 1889 wieder den
0303heimatlichen Boden. „Die Freude des Wiedersehens war
0304groß,“ schreibt sie. „Wie jubelten wir, als wir die Kirch-
0305thurmspitze von Sonnenberg aus der Ferne erblickten, und
0306wie erst, als wir auf dem Bahnhofe unserer Angehörigen,
0307die uns erwarteten, ansichtig wurden! Unser liebes Sonnen-
0308berg gefiel mir, als ich es wieder sah, besser, als all die
0309schönen fremden Länder! Ja, ich sehe jetzt mehr als früher,
0310wo mein flatternder Geist noch nicht den rechten Sinn für
0311das wirklich Schöne hatte, daß unser liebes Städtchen, so
0312arm es auch ist, doch einen großen Reichthum an Natur-
0313schönheiten besitzt.“ So schließt denn die musikalische Odyssee
0314unserer braven Erzgebirglerinnen harmonisch mit einem
0315glücklich ausklingenden Accord.
0316Das Beste zuletzt: Spitta’s neuestes Buch „Zur
0317Musik“. (Berlin, bei Paetel, 1892.) Der stattliche Band
0318enthält sechzehn Aufsätze, welche der berühmte Bach-Biograph,
0319unser vornehmster musikalischer Geschichtsforscher und Ge-
0320schichtsschreiber, ursprünglich in verschiedenen Zeitschriften
0321veröffentlicht hat. Die beiden ersten Aufsätze, „Kunstwissen-
0322schaft und Kunst“ und „Vom Mittleramt der Poesie“, be-
0323wegen sich meistentheils betrachtend auf ästhetischem Gebiete;
0324zum Theile auch, mit einer Wendung zum Praktischen, der
0325dritte: von der „Wiederbelebung der protestantischen Kirchen-
0326musik“. Spitta geht von dem Satze aus, daß eine protestan-
0327tische Kirchenmusik im strengen Sinne seit hundert Jahren nicht
0328mehr besteht. Das Mittel zu ihrer Wiederherstellung erblickt
0329er in den Bach’schen Cantaten. „Bach’s Cantaten sind nicht
0330Concertmusik, sie sind die protestantische Kirchenmusik in
0331ihrer reinsten und vollendetsten Blüthe. Losgelöst von der
0332Kirche, bleiben sie in ihrem innersten Kern unverständlich;
0333wir besitzen sie nur halb und wir mißverstehen sie unauf-
0334hörlich, wenn wir fortfahren, sie wie bisher nur in Con-
0335certen aufzuführen.“ Die folgenden Aufsätze sind durchweg
0336historischen oder kritischen Inhalts; so der vortreffliche Essai
0337„Bach, Händel und Schütz“ der gelegentlich des
0338Händel-Bach-Jubiläums (1885) bereits in weitere Kreise
0339gedrungen ist. Ganz Neues bringt der Aufsatz „Marianne
0340v. Ziegler und J. Seb. Bach“. Er beruht auf
0341einer für die Musik- wie für die Literatur-Geschichte nicht
0342unwichtigen Entdeckung Spitta’s, welche dieser in seiner Bach-
0343Biographie noch nicht verwerthen konnte. Marianne v. Ziegler
0344(geboren 1693 in Leipzig) war eine gefeierte Dichterin,
0345welche, von Gottsched patronisirt, sogar zur kaiserlichen Poetin
0346gekrönt wurde. Wie nun Spitta ermittelt hat, liegen acht
0347eng zusammengehörige Kirchencantaten Bach’s Dichtungen
0348der Ziegler zu Grunde. Neues erfahren wir auch aus dem
0349Aufsatze „Die älteste Faust-Oper“. Diese, von dem [4]
0350Theaterdichter Schmieder verfaßt und von dem Tenoristen
0351Franz Walter componirt, ist schon im Jahre 1798 in
0352Hannover zur Aufführung gekommen. Das Merkwürdigste
0353daran ist die Ungenirtheit, mit welcher Herr Schmieder einen
0354großen Theil des 1790 erschienenen Goethe’schen Faust-
0355Fragmentes in seinen Operntext eingeschlachtet hat. Text und
0356Musik der Gluck’schen Oper „Paris und Helena“ (1779)
0357bilden das Object einer eingehenden kritischen Untersuchung
0358Spitta’s. Er weist nach, daß das von Calsabigi gedichtete Li-
0359bretto kein Originalgedicht ist, wie man bisher angenommen
0360hat, sondern die einfache Dramatisirung zweier altrömischen
0361erotischen Elegien, des 15. und 16. Briefes in den „Epistolae“ des
0362Ovid. Die Composition stellt Spitta nicht blos weit höher
0363als Otto Jahn, er zählt sie sogar zu Gluck’s größten künst-
0364lerischen Thaten. Der Aufsatz über Pohl’s „Haydn-
0365Biographie“ führt uns einen Schritt weiter in die
0366moderne Musik. Die wohlwollende Kritik des Pohl’schen
0367Buches bietet Spitta reichlichen Anlaß, eine Reihe eigener,
0368höchst bemerkenswerther Urtheile über Haydn und die von
0369ihm geförderten Kunstformen anzuknüpfen. Unserem vor-
0370trefflichen Pohl war es bekanntlich nicht vergönnt, sein Werk
0371zu vollenden. Nur zwei Bände seines „Haydn“ sind er-
0372schienen (1875 und 1882); für den dritten und letzten
0373hinterließ er reiches Material. Neuerdings und recht
0374dringend wiederholen wir den seit zehn Jahren mehr als
0375einmal geäußerten Wunsch: es möchte unser geehrter Freund
0376Mandyczewski, der Erbe und Verwalter dieses Nach-
0377lasses, uns bald den fehlenden Schlußband schenken. Den
0378Fabius Cunctator der ewig unvollendeten Händel-Biographie
0379möge er sich nicht zum Vorbild nehmen, sondern, anderweitige
0380Arbeiten zurückdrängend, ein Werk abschließen, welches durch
0381so lange Verzögerung an Interesse unmöglich gewinnen
0382kann. In dem Aufsatze „Beethoveniana“ begegnen wir
0383überaus treffenden und lehrreichen Bemerkungen über
0384Beethoven’s Methode, zu componiren. Die Abhandlung
0385über Spohr’s Oper „Jessonda“ beschäftigt sich mit dem
0386Textbuche eingehender, als mit der Musik. Spohr erzählt
0387bekanntlich in seiner Selbstbiographie, er habe den Plan zu
0388seiner Oper in Paris nach einem zufällig aufgegriffenen
0389alten Roman „La veuve de Malabar“ entworfen. Von
0390Spitta erfahren wir, daß Spohr sich geirrt haben muß: es gibt
0391keinen Roman, wol aber ein Schauspiel dieses Namens von
0392Lemierre, das 1770 zuerst in der Comédie Française ge-
0393geben, auch in Deutschland und Italien zahlreiche Nach-
0394bildungen hervorgerufen hat. Spitta’s außerordentliche
0395Literaturkenntniß macht uns mit allen diesen Opern bekannt,
0396welchen der „Jessonda“-Stoff zu Grunde liegt. Zwei be-
0397sonders anziehende, mit wohlthuender Wärme geschriebene
0398Aufsätze sind die über C. M. Weber und Niels Gade.
0399Eine der umfangreichsten und interessantesten Untersuchungen
0400beschäftigt sich mit „Spontini in Berlin“. Gleich
0401erschöpfend in der Charakteristik des Menschen wie des
0402Künstlers, bringt dieser Aufsatz vieles Unbekannte und Merk-
0403würdige über die dritte Periode Spontini’s, an der Hand
0404von Documenten des königlichen Archivs in Berlin. Mit
0405Recht beklagt und verurtheilt Spitta die vollständige Ignorirung
0406der Spontini’schen Opern aus dieser Zeit, „Olympia“ und
0407„Agnes von Hohenstaufen“, seitens der deutschen Bühnen.
0408„Wir haben die Verpflichtung, eine Wiederaufführung
0409der „Agnes von Hohenstaufen“ zu versuchen, denn sie ist
0410die einzige Oper, die an Größe der Anlage und Macht der
0411Gestaltung jener großen Zeit deutscher Geschichte würdig ist,
0412aus der sie ihren Stoff entnimmt.“ Ich konnte den Inhalt
0413der Spitta’schen Aufsätze, zu deren Lectüre ich die Leser
0414aneifern wollte, nur mit dürftigen Schlagworten bezeichnen,
0415und trotzdem habe ich die Grenzen eines erträglichen Feuilletons
0416bereits so weit überschritten, daß eine Würdigung der Studie
0417über Brahms hier nicht mehr Platz findet. Sie ist wol
0418das Gründlichste, musikalisch Eindringendste, was von irgend
0419einem warmen Verehrer über Brahms geschrieben worden.
0420Es sei hier nur aus der Einleitung folgender grundlegende Satz
0421citirt: „Schon Brahms’ früheste Compositionen zeigen den ganzen
0422Mann. Was die ersten Sonaten und Lieder verrathen, ist
0423eine völlige Vertrautheit mit Allem, was deutsche Kunst vor
0424ihm geschaffen hatte. Aber die von dorther gewonnenen An-
0425regungen haben bereits das eigene Gepräge angenommen.
0426Die Fähigkeit, Alles, was ihm in den Weg kam, aufzu-
0427saugen, hat Brahms sein Leben hindurch behalten; sie ge-
0428hört zu seinen hervorragendsten Eigenschaften. Es gibt keinen
0429Musiker, der in seiner Kunst belesener wäre und so unaus-
0430gesetzt geneigt, Neues, vor Allem auch neugefundenes Altes
0431sich anzueignen. Diese thatkräftige Persönlichkeit fühlte nicht
0432das Bedürfniß, neue Welttheile zu entdecken. Sie fand in
0433der alten Heimat genug zu thun und ließ sich durch
0434Schlagworte wie „Epigonenthum“ und „erschöpfte Kunst-
0435formen“ nicht im Geringsten beirren. Die Zeit hat
0436bewiesen, daß er recht daran that. In diesen Formen
0437quoll der Born eigener Erfindung, unerschöpflich und
0438überall mit gleicher Stärke.“ Hoffentlich gibt uns bald
0439eine neue große Composition von Brahms den Anlaß, auf
0440Spitta’s Aufsatz zurückzugreifen. Aufrichtig danken wir dem
0441Verfasser dafür, daß er uns mit seinem Buche aus der
0442unerträglich gewordenen Ueberfluthung mit Wagner-Schriften
0443auf eine ruhige, fruchtbare Insel gerettet hat, wo reine Luft
0444uns umweht und ringsum Erquickung und Belehrung
0445sprießt. Anderer Meinung sind natürlich die Wagnerianer,
0446die hinter ihrer göttlichen chinesischen Mauer nur noch Sinn
0447haben für Untersuchungen über den Charakter Eva’s, die
0448Philosophie Wotan’s, den Liebestrank Brangäne’s, das Alter
0449König Marke’s und ähnlicher Heilswahrheiten. Es liegt uns
0450eine Kritik des Herrn Seidl in Leipzig vor, worin dieser
0451von beneidenswerthem Selbstgefühl geschwellte junge Herr
0452erklärt, Spitta’s Buch habe ihn „recht sehr gelangweilt“.
0453So, und warum? „Der Name Richard Wagner wird
0454in dem ganzen voluminösen Band vielleicht vier- oder fünf-
0455mal höchstens kurz gestreift — eine solch brennende Frage,
0456eine so sehr die Zeit bewegende und die Gemüther beschäf-
0457tigende Erscheinung!“ Ja, was hat denn Spitta’s Buch
0458mit Wagner zu schaffen? Es bringt uns eine Fülle des
0459Neuen und Belehrenden über Bach, Gluck, Haydn, Beethoven,
0460Spohr, Weber, Brahms — ist das nicht ein werthvolles
0461Geschenk für Jeden, den ein ernstes Interesse mit der Ton-
0462kunst verbindet? Nein, es ist langweilig und taugt nichts,
0463weil der Name Richard Wagner nur vier- bis fünfmal
0464darin vorkommt. Weiter kann die Parteibornirtheit wirklich
0465nicht mehr gehen.