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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10477. Wien, Sonntag, den 22. October 1893

[1]

Charles Gounod.

(18181893.)


0003Ed. H. In Gounod hat das heutige Frankreich seinen
0004bedeutendsten und erfolgreichsten Tondichter verloren. Die
0005zunehmende Verarmung der Opernmusik, wie wir seit De-
0006cennien sie in Deutschland und Italien verfolgen, herrscht
0007kaum weniger bedenklich in Frankreich. Zwei vielversprechende
0008Talente, der liebenswürdige Delibes und der noch ungleich
0009bedeutendere Bizet, sind in jugendlicher Manneskraft dahin-
0010gesunken. Von Ambroise Thomas, dem 82jährigen
0011Patriarchen, erwartet Niemand mehr Neues. So bleibt denn
0012einzig und allein Massenet mit zwei bis drei Jünglingen,
0013die zu den fürchterlichsten Hoffnungen berechtigen. Gounod, ein
0014weltliches, lyrisch-dramatisches Talent, welches den ersten nach-
0015haltig mächtigen Eindruck von Mozart’s „Don Juan“ empfing,
0016hat sich demungeachtet nicht gleich der Oper zugewendet. Wir
0017sehen ihn anfangs mit allem Eifer eines schwärmerischen
0018Katholiken für die Kirche componiren. In Berlin entdeckt er
0019schon 1843 der Familie Mendelssohn sein Vorhaben, ein
0020Oratorium „Judith“ zu schreiben. Von der Ansicht, daß die
0021nächste musikalische Zukunft dem Oratorium gehöre, ist
0022er, nicht zu seinem Nachtheil, bald zurückgekommen. In
0023Paris vermag er den Loreleyklängen der Oper nicht zu
0024widerstehen; ihr widmet er durch mehr als drei Decennien
0025seine ganze Thätigkeit. Erst in den letzten zehn Jahren findet
0026er wieder den Weg zurück von der Bühne zur Kirche, wird
0027Messen- und Oratorien-Componist. So hat sich seine Künstler-
0028laufbahn, zuletzt nach ihrem Anfang zurückbiegend, zum Ring
0029geschlossen.


0030Sappho“ hieß Gounod’s erste Oper (1851). Sie hat
0031nur mäßigen Beifall gefunden, obwol ihr die Meisterschaft
0032einer Viardot in der Titelrolle und der berühmte Name
0033des Textdichters Emile Augier zu statten kam. Aber die
0034ergreifend schöne Schlußscene der Sappho bewies schon allein,
0035daß hier ein echt poetisches, eigenartiges Talent, wenngleich
0036noch tastend, seinen Wirkungskreis erkannt hatte. Auch 
0037Gounod’s zweites Werk, eine große fünfactige Oper mit
0038dem häßlichen Namen „Die blutende Nonne“, ver-
0039schwand schnell von den Brettern. So fand denn Gounod 
0040in Paris statt des geträumten Lorbeers nur Mühsal und
0041Enttäuschung, wie es fast alle die preisgekrönten französischen
0042Componisten erleben, welche mit frohen Hoffnungen aus
0043Rom heimkehren. Da wendet sich 1859 mit der Oper „Faust
0044das Schicksal zu Gounod’s Gunsten; freilich nicht so plötzlich,
0045wie man angesichts des beispiellosen Erfolges vermuthen
0046sollte, welcher heute, nach mehr als dreißig Jahren, noch auf allen
0047Bühnen, in allen Sprachen fortwirkt. „Faust“ ist bei der
0048ersten Aufführung im alten Théâtre Lyrique sehr kühl auf-
0049genommen worden. Sein Schicksal blieb noch während der
0050ersten dreißig Vorstellungen unentschieden. Beinahe die ge-
0051sammte Pariser Presse verhielt sich ablehnend, und ihr musi-
0052kalisches Oberhaupt, Scudo, erklärte, es sei außer einem
0053Chor und einem Walzer absolut nichts in der ganzen Oper.
0054Während der Proben drängte man Gounod unablässig zu
0055Kürzungen; ja, noch in der Generalprobe wurde er (wie
0056ich von ihm selber weiß) beschworen, das Liebesduett 
0057am Schluß des dritten Actes wegzulassen, da es die ganze
0058Wirkung der vorangehenden Gartenscenen ruiniren müsse!
0059Unter solchen Umständen mochte keine der großen Musik-
0060firmen die Partitur erwerben. Endlich fand Gounod einen
0061jungen, unternehmenden Verleger, Choudens, welcher das
0062Geschäft wagte. Für 8000 Francs kaufte er Gounod’s
0063Faust“ und legte damit den sicheren Grund für den gegen-
0064wärtigen Wohlstand der Firma. Erst zwei Jahre nach der
0065Première konnte man den Erfolg des „Faust“ und den
0066Ruhm seines Autors als feststehend anerkennen. In Paris 
0067hat „Faust“ schon vor sechs Jahren (1887) seine 500. Auf-
0068führung erlebt. Nicht einmal Meyerbeer’s „Prophet“, welcher
0069doch zehn Jahre vor dem „Faust“ erschienen war, vermochte
0070damit gleichen Schritt zu halten.


0071Auch in Wien kam man dem „Faust“ anfangs miß-
0072trauisch entgegen. Die oberste Theaterbehörde hatte damals
0073den italienischen Director unserer deutschen Oper, Matteo
0074Salvi, mit einem „Artistischen Beirath“ beglückt, den er
0075hören mußte in Fragen des Repertoires und der Engage-
0076ments. Unserem Vorschlag, Gounod’s „Faust“ aufzuführen,
0077opponirte Salvi auf das entschiedenste; er habe die Oper
0078in Darmstadt gehört, sie sei reizlos, lärmend, wagnerisch 
0079und würde in Wien rettungslos durchfallen. Salvi mußte
0080förmlich gezwungen werden, den „Faust“ einzustudiren. Die
0081erste Aufführung (8. Februar 1862) mit der Dustmann 
0082und Bettelheim, Ander und Schmid errang einen
0083glänzenden und nachhaltigen Erfolg; schon im October
00841890 hatte „Faust“ die 300. Vorstellung erreicht.
0085Die deutsche Kritik hat ihm übrigens das Leben auch nicht
0086leicht gemacht. Rigorose Richter sprachen ihren Bannfluch
0087über „diese Verhöhnung des Goethe’schen Gedichtes“, welche
0088das deutsche Publicum nimmermehr dulden solle. Das deutsche
0089Publicum war anderer Meinung und verstand die beiden
0090Stücke, die in ihrer Absicht und Wirkung nichts mit einander
0091zu schaffen haben, unbefangen auseinander zu halten. Keines
0092von beiden hat dem andern Eintrag gethan, am aller-
0093wenigsten bedurfte Goethe’s erhabenes Gedicht der Landes-
0094verweisung von Gounod’s reizvoller Musik. Goethe ist
0095toleranter gewesen, als unsere Kritiker; er dachte selbst an
0096die Umgestaltung seines Faust in eine Oper „Mozart,“
0097sagte er 1829 zu Eckermann, „hätte den Faust componiren
0098müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der
0099wird sich wol auf so etwas gar nicht einlassen; er ist zu
0100sehr mit italienischen Opern verflochten.“ Ja, in Bezug auf
0101den zweiten Theil des Faust, welchen der Dichter bekanntlich
0102noch viel höher stellte als den ersten, hat er sogar den Wunsch
0103ausgesprochen, derselbe möchte als Oper für die Bühne be-
0104nützt werden. „Wenn die Franzosen nur erst die Helena 
0105gewahr werden,“ meinte er, „und sehen, was daraus
0106für ihr Theater zu machen ist!“ Daß Goethe gleich
0107an französische Componisten dachte, ist für unseren Zu-
0108sammenhang werthvoll. Goethe theilte nicht die Ansicht
0109Johannes Müller’s, der in Kassel Stendhal ver-
0110sicherte, die Franzosen seien „das undramatischeste Volk der
0111Erde“. Heute erscheint dieses Urtheil noch weit hinfälliger.
0112Insbesondere haben die neueren Componisten Frankreichs sich
0113viel mehr mit deutscher Dichtung und Sitte befreundet, sind
0114viel inniger in deutsche Gefühlsweise eingedrungen, als ihre
0115Vorfahren. Wir besitzen aus neuester Zeit drei französische
0116Opern, welchen Goethe’sche Dichtungen zu Grunde liegen:
0117Faust“ von Gounod, „Mignon“ von Ambroise Tho-
0118mas und „Werther“ von Massenet. Die beiden ersten
0119gehören seit Jahren zu den bevorzugten Lieblingen des
0120deutschen Publicums, die dritte beginnt mit gleichem Glück [2]
0121sich ihnen anzureihen. Wäre dies möglich, wenn sie wirklich
0122nur schnöde Attentate auf Goethe bedeuteten? Ich halte alle
0123drei für ehrlich gemeinte und talentvoll ausgeführte
0124Werke, deren Componisten aufrichtig und liebevoll be-
0125müht waren, ihrem Stoffe gerecht zu werden, soweit
0126die nationale Verschiedenheit, welche ja unausweichlich
0127Vieles ins Französische hinüberdenkt und hinüberfühlt, und
0128das Wesen der Oper es zulassen. Unsere Schauspielhäuser
0129wie unsere Opernbühnen müssen unablässig den Vorwurf
0130hören, daß sie Französisches bevorzugen. Sie würden es
0131wahrscheinlich nicht thun, wenn deutsche Componisten ihnen
0132Besseres oder ebenso Wirksames böten. Leider hat das
0133heutige Deutschland äußerst wenige Opern aufzuweisen von
0134der Lebendigkeit, dem melodiösen Reiz und der meisterlichen
0135Bühnentechnik der genannten drei Werke von Gounod,
0136Thomas und Massenet. Der deutsche Kritiker muß, so sehr
0137ihm seine Ideale am Herzen liegen, an solche Productionen
0138stets mit ein bischen Resignation herangehen. Er darf sie
0139nicht an Goethe messen wollen. Die Oper ist eine zu ge-
0140mischte, unreine, bedingte Kunstgattung, als daß sie im
0141Stande wäre, einen Faust von der Tiefe und Vollendung
0142des Goethe’schen hervorzubringen, überhaupt den voll-
0143kommeneren Organismus einer Tragödie ernstlich nach-
0144zuschaffen.


0145Gounod ist nicht, was man ein Original-Genie nennt;
0146aber einzelne fremde, namentlich deutsche Elemente haben sich
0147mit seiner Individualität so glücklich assimilirt, daß ohne Frage
0148etwas relativ Neues und Eigenthümliches daraus entstand.
0149Seine Musik hat ihre eigene Prägung; man kann bereits
0150von einem „Gounodismus“ in den späteren französischen
0151Opern sprechen. Sein „Faust“ rundet sich nicht zum einheit-
0152lichen Kunstwerk, er enthält Stellen von schwacher Erfindung
0153und falschem Effect und entbehrt der vollen Kraft für das
0154Dämonische wie für das Erhabene. Aber als Lyriker schlägt
0155Gounod rührende Herzenstöne an voll Sehnsucht, Schwer-
0156muth und Entzücken. Die Gartenscenen im dritten Act und die
0157Volksscenen im zweiten sind in ihrer Frische, ihrem leichten Aufbau
0158und ihrer bis zum Schluß anwachsenden Steigerung Schöpfungen
0159eines glänzenden Talentes und eminenten Bühnenverstandes.
0160Vor dem Erscheinen des „Faust“ war Gounod in Deutsch-
0161land beinahe unbekannt. Beinahe, sage ich, denn ein kleines
0162Stück von ihm — mehr ein Einfall als eine Composition
0163— machte bei uns bereits die Runde. In der glücklichen 
0164Laune eines Augenblicks war es Gounod eingefallen, zu dem
0165C-dur-Präludium aus Bach’s „Wohltemperirtem Clavier“
0166eine selbstständige Melodie zu setzen, welcher jenes unver-
0167änderte Clavierstück nunmehr als Begleitung diente. Ur-
0168sprünglich für die Violine gesetzt, wurde diese Melodie bald
0169auf alle möglichen Solo-Instrumente übertragen und zuletzt
0170als „Ave Maria“ auch für eine Sopranstimme. Als „Médi-
0171tation“ haben wir diese süße, langathmige Melodie von den
0172gefeiertesten Virtuosen im Concertsaale — als „Ave Maria“
0173von den besten Sängerinnen in der Kirche unzähligemal
0174gehört. Sie war der einzige, bescheidene Vorläufer des
0175Faust“ in Deutschland.


0176Den Erfolg des „Faust“ hat keine zweite Oper
0177Gounod’s erreicht. Am nächsten kommt ihm noch „Romeo
0178und Julie
“. Gounod hat dieses Werk 1867 mit noch
0179größerer Liebe und Begeisterung geschaffen, als irgend eine
0180seiner Opern. Das Lieblichste, Zarteste findet sich darin, es
0181fehlt ihm nur der starke Widerhalt des Großen, Kraftvollen.
0182Gounod vermochte nicht der Gefahr der Monotonie zu ent-
0183gehen, die schon der Stoff mit sich bringt. Die Liebesduette
0184nehmen einen so großen Raum des Ganzen ein, daß sie zu
0185einer Art Milchstraße zusammenfließen, deren sanftes Licht
0186eine einfärbige Blässe über das ganze Bild breitet.
0187Im Einzelnen anziehend, wirkt „Romeo und Julie“
0188doch ermüdend als Ganzes. Die Wiener Aufführung (1868 
0189unter Dingelstedt) gewann ein besonderes Interesse durch
0190Gounod’s Anwesenheit. Hier ward ihm gestattet, was er
0191in Paris stets vergeblich ersehnt und erbeten: sein Werk
0192persönlich dirigiren zu dürfen. Als Gounod am Dirigenten-
0193pult erschien (er trug den ihm vom Kaiser Maximi-
0194lian verliehenen Guadeloupe-Orden um den Hals),
0195wurde er vom Publicum mit jubelndem Zurufe be-
0196grüßt. Er fühlte sich sehr glücklich in Wien, war
0197auch von der Aufführung ungemein befriedigt. Nur
0198nicht von der Hauptperson, Fräulein Murska als Julie.
0199Diese konnte ihm wol als Coloratur-Sängerin, in der
0200Walzer-Arie, entsprechen, durchaus nicht als dramatische
0201Künstlerin. „C’est un gosier,“ wiederholte er des Oefteren;
0202eine „geläufige Gurgel“, würde Mozart gesagt haben. Schnell
0203erkannte Gounod in Fräulein Ehnn die berufenste Dar-
0204stellerin seiner Julie. Warme Stimme, innige Empfindung,
0205überzeugendes Spiel: das waren ihm entscheidende Vorzüge,
0206für die er auf perlende Scalen und Triller gern verzichtete. 
0207Gounod studirte über Hals und Kopf die Partie mit Fräulein
0208Ehnn und sah seine Bemühung reichlich belohnt. Es war die
0209beste Julie, die wir in Wien gehabt haben. Bertha Ehnn 
0210schwebte ihm auch für die Hauptrolle einer neuen Oper vor:
0211Francesca di Rimini“. Mit der ihm eigenen lebhaften
0212Beredsamkeit zeichnete er mir damals die Umrisse des
0213Planes. In einem Vorspiel, dessen Schauplatz die Hölle,
0214sollte Dante mit Virgil erscheinen; dieser hieß dann den
0215Florentiner wieder auf die Erde zurückkehren. Hierauf be-
0216ginnt erst das eigentliche Drama. Sein Schluß knüpft
0217wieder an das Vorspiel in der Hölle an, welches die Ent-
0218wicklung der Handlung vorausgezeigt hat. Gounod’s Vor-
0219haben ist nie zur Ausführung gekommen; bekanntlich haben
0220aber nach ihm sowol Ambroise Thomas als Hermann
0221Goetz sich des Stoffes bemächtigt und eine „Francesca
0222di Rimini“ componirt.


0223Mit sehr wechselndem Glück griff nun Gounod zu ver-
0224schiedenen, von einander weit abliegenden Opernstoffen.
0225Eine große Oper, „Die Königin von Saba“, ver-
0226mochte ebensowenig durchzugreifen, wie sein für die Opéra
0227Comique geschriebener „Cinq-Mars“, eine Conversa-
0228tions-Oper mit tragischem Ausgang nach dem Roman von
0229Alfred de Vigny. Noch zwei Opern hat Gounod für die
0230Opéra Comique componirt: „Philemon und Baucis“ und
0231Mireille“. „Mireille“ wurde in Wien 1876 in
0232italienischer Sprache gegeben, mit der Patti in
0233der Titelrolle; die Oper war verspätet, dicht vor
0234dem Schlusse der Stagione, zur Aufführung gelangt und
0235erlebte nur zwei Vorstellungen. Sie hätte deren mehr ver-
0236dient. „Philemon und Baucis“ hörten wir 1878 mit der
0237Ehnn, Walter, Rokitansky und Mayerhofer in
0238den Hauptrollen. Der idyllische Charakter des Stoffes ent-
0239sprach vortrefflich dem zarten, liebenswürdigen, etwas weich-
0240lichen Naturell Gounod’s. Ohne besonders gehaltvoll oder
0241originell zu sein, macht diese Musik doch einen guten Ein-
0242druck durch ihre Anmuth und seine Mäßigung. Ich gestehe
0243einige Vorliebe besonders für den ersten Act und glaube,
0244Philemon und Baucis“ würde eine Wiederaufführung ver-
0245dienen, jedenfalls mehr, als „Der Tribut von Zamora“
0246sie verdient hat. Diese Oper verdankte ihren Erfolg
0247in Wien fast ausschließlich der genialen Darstellerin der Her-
0248mosa, Pauline Lucca. Die zehn Jahre, welche auf „Romeo
0249und Julie“ folgten, haben offenbar stark gezehrt an Gou[3]-
0250nod’s Mark. Davon überzeugt uns nicht blos der „Tribut
0251von Zamora“, ein Gounod in der dritten Verdünnung,
0252sondern auch „Polyeucte“ (1878). Religiöse Schwär-
0253merei hatte sich wieder einmal Gounod’s bemächtigt und
0254hieß ihn, Glaubenseifer und Märtyrertod in einem musika-
0255lischen Drama verherrlichen. Diese religiöse Oper führt nach
0256dem Trauerspiel von Corneille den Titel „Polyeucte“. Gounod 
0257war so freundlich, mir Anfangs Mai 1875 einige Stücke daraus
0258in seiner Wohnung vorzusingen. Seine Stimme, weder jung noch
0259kräftig, übte doch einen eigenthümlichen Zauber, denn
0260sie war gut geschult und von inniger, bald sanfter, bald be-
0261geisterter Empfindung verklärt. Daß Gounod selbst Sänger
0262war, gereichte seinen Opern zu großem Vortheile, sie sind
0263in den Solopartien wie im Chore durchaus sangbar und
0264wirksam geschrieben. Als junger Mann hat Gounod in
0265einem aus acht Personen (lauter Dilettanten) gebildeten
0266Kirchenchor in der Rue de Bac fünf Jahre lang die erste
0267Tenorstimme gesungen; auch durch sieben Jahre einen
0268Pariser Männergesang-Verein (Orphéon) dirigirt. Was die
0269Oper „Polyeucte“ betrifft, diese Apotheose christlicher Selbst-
0270verleugnung und Aufopferung, so hat sie freilich wenig be-
0271kehrende Kraft erprobt; der Besuch der Kirchen steigerte sich
0272nicht, aber der des Operntheaters ließ nach. Ueber die
0273Grenzen Frankreichs ist dieses Werk nicht gedrungen. Während
0274der Proben zum „Polyeucte“ arbeitete Gounod bereits an einer
0275neuen großen Oper: „Abälard und Heloise“. Wie
0276leuchteten seine schönen braunen Augen, wie beredt strömten
0277seine Worte, als er mir den Plan dieser Oper entwickelte,
0278welche „eine Verkörperung der höchsten philosophischen und
0279religiösen Ideen“ werden sollte. Der Stoff flößte mir Be-
0280denken ein, und ich glaube nicht, daß Gounod stark gefehlt
0281habe, indem er ihn wieder fallen ließ. „Polyeucte“ bildet die
0282Brücke zu Gounod’s letzter, ausschließlich religiöse Musik
0283umfassender Periode. Sie enthält neben Kirchen-Compo-
0284sitionen im engeren Sinne (Requiem, Messen) zwei große
0285Oratorien: „Die Erlösung“ (la Redemption) und
0286Mors et Vita“. Das erstgenannte haben wir in Wien 1883 
0287im Musikvereinssaale gehört; es ist das Werk eines unver-
0288dächtig frommen, aber recht schwach gewordenen Talents.
0289Das zweite, „Mors et Vita“, wollte mir nicht besser gefallen,
0290obgleich ich es in großartig stimmungsvoller Umgebung kennen
0291lernte: in der Londoner Westminster-Abtei. Es ist in dem-
0292selben weichlichen, bewußt unschuldsvollen Style, in dem -
0293selben dünnen homophonen Satz geschrieben, wie die „Er-
0294lösung“; fast noch redseliger und seichter. Nach seiner Fröm-
0295migkeit gehörte Gounod unzweifelhaft in die Kirche, nach
0296seinem Talent ins Theater.


0297Einen nicht unwesentlichen Zug zu Gounod’s Charakter-
0298bild liefert seine literarische Thätigkeit. Quantitativ
0299erreicht sie freilich nicht die vielbändigen Gesammelten
0300Schriften von Liszt, Berlioz oder gar von Wagner. Nur
0301von Zeit zu Zeit, in vereinzelten Journal-Artikeln hat Gou-
0302nod seine Ansicht über irgend eine ihn besonders interessi-
0303rende Frage veröffentlicht. Wir haben von ihm einen treff-
0304lichen Aufsatz über das Dirigiren — worin er den Compo-
0305nisten das in Frankreich ihnen vorenthaltene Recht vindicirt,
0306ihre Werke selbst zu dirigiren — eine Einleitung zu Ber-
0307lioz’
Lettres intimes“, Vorreden zur Oper „Polyeucte“,
0308zur „Redemption“ und Aehnliches. In einem Aufsatze „La
0309critique“ verficht er mit vielem Geiste das Paradoxon, daß
0310Musik-Kritiken nur von berufsmäßigen Tonkünstlern, von
0311Fachmusikern geschrieben werden sollen. Liszt hat dieselbe
0312Forderung noch viel heftiger ausgesprochen. Beide Meister
0313waren wol zu stark interessirt in dieser Sache, als daß ihr
0314Urtheil ganz unbefangen ausfallen konnte. Einen akademi-
0315schen Vortrag über Mozart’s „Don Juan“ hat Gounod 
0316nachträglich 1890 zu einem Büchlein erweitert, in
0317welchem er, die Partitur Scene für Scene durchgehend, ihre
0318Schönheiten in begeisterter Rede preist und erklärt. Etwas
0319Neues wird man kaum darin finden; aber wer hörte nicht
0320gern einen modernen französischen Opern-Componisten mit
0321solcher Einsicht und Verehrung von Mozart sprechen!
0322Für Gounod ist Mozart das größte Musikgenie und „Don
0323Juan“ das Non plus ultra aller dramatischen Composition.
0324Gounod’s Schriften glänzen von feinen Bemerkungen und
0325geistreichen Einfällen, nur zeitweilig ermüdend durch die
0326maßlos gehäuften Amplificationen — Variirungen desselben
0327kurzen Themas — worein französische Schriftsteller so gern
0328verfallen, wenn sie warm werden.


0329Gounod war eine durchaus ideale Natur, ein echtes
0330warmes Künstlerherz, neidlos, gerecht und wohlwollend.
0331Frankreich verliert in ihm nicht blos ein glänzendes Talent,
0332sondern auch eine der liebenswürdigsten, geistreichsten Per-
0333sönlichkeiten. Die Welt wird dankbar sich noch lange an
0334seinen Melodien erfreuen, aber Paris ist jetzt um eine
0335Anziehungskraft ärmer.