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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10567. Wien, Mittwoch, den 24. Januar 1894

[1]

Hofoperntheater.

(„Mirjam“, Oper in drei Aufzügen von L. Ganghofer, Musik von Richard Heuberger.)


0003Ed. H. Herrn Richard Heuberger brauchen wir
0004den Freunden dieses Blattes nicht erst vorzustellen. An sei-
0005nen Liedern erfreuen sich die Hörer, an seinen Musik-
0006Feuilletons die Leser. Im Philharmonischen Concert haben
0007wir ihn als interessanten Symphoniker, in den Gesang-
0008vereinen als effectvollen Chorcomponisten, in der Musik- und
0009Theater-Ausstellung als feurigen Dirigenten kennen gelernt.
0010Auch der Bühne steht er nicht als Neuling gegenüber.
0011Mirjam“ ist seine dritte Oper. Ihre Vorläuferin, „Das
0012Abenteuer einer Neujahrsnacht“, hat auf deutschen Bühnen
0013Glück gemacht; in Wien kennt man davon nur die brillante
0014Balletmusik aus den Concerten der Philharmoniker. Diese
0015komische Oper (nach Zschokke’s bekannter Erzählung) scheint
0016mir den Ton anzuschlagen, welcher dem graziösen Talent
0017und dem witzigen, munteren Geiste Heuberger’s am natür-
0018lichsten ist. Ganghofer’s „Mirjam“ mit ihrer schwerblütigen
0019Lyrik und tragischen Katastrophe kam ihm weniger
0020günstig entgegen. Ueber die Mühsal, zu einem guten
0021Opernbuch zu gelangen, kann Heuberger ein gewichtig Wort
0022mitreden, und er hat es auch gethan. In einem Aufsatze:
0023Ueber Operntexte“, führt er begründete Klage darüber,
0024daß unsere Librettisten die Schwierigkeiten ihrer Aufgabe zu
0025gering schätzen. „Ein brauchbares Opernbuch,“ sagt er, „muß
0026in dem dramatischen Aufbau durchaus musterhaft
0027sein und alle Haupteigenschaften eines guten Stückes,
0028wenn auch oft nur andeutungsweise, enthalten.“ Gerade
0029diese Qualität vermissen wir an Ganghofer’s „Mirjam“.
0030Wiederum ein Beweis, falls es dessen bedürfte, daß ein
0031Componist die Bedingungen eines guten Operntextes genau
0032kennen und doch sich keinen verschaffen kann. Den Versen
0033Ganghofer’s zollen wir gern die spärliche Anerkennung, daß
0034sie zwar nicht gedankenvoll, jedoch freudvoll und leidvoll 
0035besser gereimt sind, als manche gefeierte deutsche Oper. Aber
0036die Hauptsache! Ist das ein Libretto von „musterhaft drama-
0037tischem Aufbau“? Besitzt es „alle Eigenschaften eines guten
0038Stückes“? Ganz im Gegentheil. Die Handlung ist dürftig
0039und schlecht motivirt, ein Gespenst längst verblichener, uns
0040völlig entfremdeter Romantik. Charaktere und Situationen
0041sind theils uninteressant und verbraucht, theils unwahrschein-
0042lich bis zum Widersinn.


0043Die Handlung spielt auf deutschem Boden, im 15. Jahr-
0044hundert. Sie beginnt mit einem Maifeste, das die Bevöl-
0045kerung mit einem kirchlichen Umzuge, Gesang und Tanz
0046feiert. Junker Oswald von Brannenburg (Herr Winkel-
0047mann
), ein wüster, gefürchteter Nachtschwärmer, findet sich
0048dabei mit seinen Trinkgenossen ein. Einem derselben, Severin,
0049erzählt er, daß er nach durchzechter Nacht sich im Walde
0050schlafen gelegt und wie im „Traume“ eine holde junge Maid 
0051erblickt habe. Dieses keineswegs traumgeborene, sondern sehr
0052reale Frauenzimmer (Fräulein Schläger) ist Mirjam, die
0053Tochter des reichen Juden Asser Benaja. Sie erscheint mit
0054ihrer Magd Josepha (Fräulein Mark) gleichfalls auf dem
0055Festplatze und wird sofort von Oswald mit Richard Wagner’-
0056scher Entschiedenheit angehalten: „Verweile Mädchen, und
0057kündige mein Urtheil: Leben oder Tod!“ Noch ehe sie
0058dieses Urtheil fällt, wird unter Trompetenschall aus-
0059gerufen: „Der Tanz beginnt, die Wahl ist frei!“
0060So ganz frei ist die Wahl allerdings nicht, sie muß bar
0061bezahlt werden. Der Bursche, der im Licitationswege die
0062höchste Summe auf ein bestimmtes Mädchen bietet, darf mit
0063ihm tanzen. Natürlich verliert Oswald keine Zeit und bietet
0064für Mirjam gleich hundert Ducaten; ein ansehnliches Sümm-
0065chen für den „heimatlosen Bettler“, wie er sich selbst nennt.
0066Da durchbricht aber Mirjam’s Vater (Herr v. Reichen-
0067berg
) plötzlich die Menge und bietet 200, dann 300 Du-
0068caten, „daß Jener nicht mit ihr tanze“. Oswald steigert
0069bis auf 5000 Ducaten und legt noch seinen kostbaren
0070Schmuck dazu — vergebens. Benaja besiegt ihn mit zehn-
0071tausend und versetzt ihm überdies die niederschmetternde
0072Nachricht, Mirjam werde heute noch mit dem Doctor Micha 
0073Merari vermält. Oswald ruft ihm die Drohung nach:
0074„Dein Kind ist mein! Ich suche und finde sie!“


0075Der zweite Act zeigt uns, wie er diese Drohung aus-
0076führt. Die feierliche Vermälung Mirjam’s mit Micha (Herrn
0077Neidl) hat eben stattgefunden, als Severin (Herr Felix)
0078in unkenntlicher Vermummung hereinstürzt und den be-
0079rühmten Arzt beschwört, einem im Walde liegenden Ver-
0080wundeten beizustehen. Trotz einbrechender Nacht eilt der
0081menschenfreundliche Mann in den Wald. Seine junge Frau 
0082bleibt aber nur wenige Minuten allein — nicht länger, als
0083sie zu einer schwärmerischen Strophe über Frühlingsluft und
0084Fliederduft benöthigt. Da ist auch schon Oswald zur Stelle
0085mit einer stürmischen Liebeserklärung. „Als ich im Wald,
0086den Tod erwartend, lag“ u. s. w. (Nach seiner Erzählung
0087im ersten Act hat er eigentlich seinen Rausch ausschlafen
0088wollen.) Dem Drängen Oswald’s, mit ihm zu fliehen, er-
0089widert Mirjam mit strenger Berufung auf ihre Pflicht. Um
0090dieses zwischen Werbung und Ablehnung schaukelnde Liebes-
0091duett nicht zu stören, haben Severin und Josepha sich kosend
0092in den Garten zurückgezogen; man weiß wirklich nicht,
0093welcher von diesen verlogenen Vertrauten eine bedenklichere
0094Rolle spielt. Unerwartet bald kehrt Micha zurück;
0095war doch die ganze Geschichte von dem hilflos Ver-
0096wundeten ein von dem Junker inscenirter Trug. Oswald wird
0097dem eintretenden Hausherrn als der Sohn eines befreundeten
0098Rabbi und als junger Mediciner vorgestellt, der auf der
0099Durchreise nach Prag begriffen ist. Der edle Micha, der
0100immer Alles glaubt, glaubt ohneweiters auch diese plump
0101improvisirte Fabel und ladet den Fremden als Gast in
0102sein Haus. Den Act beschließt ein leidenschaftlicher Monolog
0103des plötzlich herankeuchenden Benaja; er ahnt sogleich, welchen
0104schrecklichen Gast Micha beherberge. Anstatt aber, wie man
0105vermuthen sollte, unverweilt ins Haus zu eilen und Micha 
0106aufzuklären, bleibt er rachedürstend im Vorhof stehen. Zu
0107Beginn des dritten Actes sitzen Mirjam, Oswald und Micha 
0108gemüthlich beim Nachtessen. Der alte Benaja geht wahr-
0109scheinlich draußen spazieren; er läßt sich noch immer nicht
0110da blicken, wo sein Erscheinen so dringend nothwendig wäre. [2]
0111Die Ungereimtheiten mehren sich. Micha fordert, kaum daß
0112das Nachtmal begonnen, Mirjam und Oswald auf, zusammen
0113„das Haus zu durchwandern, von einer Thür zur andern“.
0114Die Bühne muß eben leer gemacht werden für Benaja, der
0115endlich eintritt und Micha dringend zu sprechen begehrt.
0116Jetzt wird er doch schnell seinem arglosen Schwiegersohn
0117sagen, wer der gefährliche Gast ist, der drinnen allein mit
0118Mirjam plaudert? Nein, noch lange nicht. Er zieht es vor,
0119in bequemem Lehnstuhl seine Lebensgeschichte zu erzählen:
0120„Einst war auch ich ein Kind des Glücks, wie du geartet,
0121sanft und gut“ u. s. w. Einen Theil dieser Selbstbiographie hat
0122er schon zu Anfang des zweiten Actes dem Micha erzählt; dort
0123wäre Ort und Gelegenheit gewesen, das Ganze zu erledigen.
0124Aber gerade jetzt, wo die Gefahr für Mirjam am größten,
0125beschreibt er, wie einst sein Weib von Oswald’s Vater ent-
0126führt und zum Selbstmorde getrieben worden sei. Er selbst
0127habe sich an dem Sohne gerächt, indem er ihn finanziell
0128ruinirte. Noch immer hat Micha keine Ahnung, daß sein
0129Prager Student der Junker Oswald sei! Der passionirte
0130alte Erzähler würde vielleicht ganz vergessen, es ihm zu sagen,
0131hörte man nicht Oswald durch alle Zimmer rufen: Mirjam!
0132Mirjam! „Kennst du den Gast?“ ruft Benaja. „Der Junker!
0133Laß ihn mir und meiner Rache!“ — „Nein,“ erwidert
0134Micha, „ihn schützt des Hauses heil’ges Recht!“ Da haben
0135wir die zwei wohlbekannten contrastirenden Judentypen:
0136den rachsüchtigen Benaja, ein Gemisch von Eleazar und
0137Shylock, und den großmüthigen Micha, der, ein hebräischer
0138Masaniello, seinem Todfeind kein Haar krümmen läßt.
0139Dafür hat übrigens Benaja schon gesorgt, indem er
0140Gift in Oswald’s Becher mischte. Wie kurzsichtig von
0141dem klugen Mann! Da die Tafel längst aufgehoben ist,
0142wird wahrscheinlich ein unschuldiger Diener den Rest aus-
0143trinken. Benaja läßt den Giftbecher aufs Gerathewohl stehen
0144und geht wieder mit seinem Schwiegersohn spazieren, damit
0145Oswald und Mirjam ungestört noch ein letztes Liebesduett
0146singen können. Der wilde Junker ist plötzlich ein frommes
0147Lamm geworden; er erklärt sich „von des Hauses Frieden
0148verwandelt und bekehrt“. Nur einen Kuß erbittet er sich 
0149noch. Mirjam verweigert ihn; doch möge Oswald mit seinen
0150Lippen den Rand des Bechers berühren, den sie zum Ab-
0151schied leert. Natürlich erwischt sie den vergifteten Wein, dessen
0152Wirkung sich sehr rasch bei ihr einstellt. Sie stürzt zu-
0153sammen, singt noch, wie verklärt, eine Vision vom schönen
0154Mai und fügt sterbend die Hände ihres Gatten und ihres
0155Geliebten zusammen.


0156Was die Wirkung der Heuberger’schen Oper von vornherein
0157gefährden mußte, war dieses unglückliche Libretto. Es ist
0158zu dumm gewesen, es hätt’ nicht sollen sein. Wie viel Mühe,
0159Studium und Talent hat der Componist daran verschwendet!
0160Seine Partitur verräth von Anfang bis zu Ende das edelste
0161Bestreben und gewissenhaften künstlerischen Ernst. Unter dem
0162Einfluß Wagner’scher Musik aufgewachsen, erblickte Heu-
0163berger in diesem Styl die geeignetste Kraft, um den Charak-
0164teren und Situationen lebendigen Athem einzuflößen. In
0165Mirjam“, herrscht Wagner’s System nicht in der
0166vollen Tristanstrenge — kommen doch einige Chöre
0167und duettirende Stückchen vor — aber doch in den
0168entscheidendsten Kennzeichen. Der halb recitirende, halb
0169cantillirende Charakter der Singstimmen, welche, pla-
0170stische Melodienform vermeidend, in nervösem Pathos
0171auf und nieder wogen; der ruhelose, selbstständig arbeitende
0172Webstuhl des Orchesters, der zugleich exaltirte und weichliche
0173Ausdruck der Empfindungen, die Tyrannei des einseitig
0174Dramatischen, des Bedeutsamen in jedem Wort, jeder
0175Phrase — das Alles ist im Grunde Wagnerisch, ganz ab-
0176gesehen von einzelnen an Lohengrin, Tristan und die
0177Meistersinger mahnenden Wendungen, denen heutzutage ein
0178deutscher Operncomponist kaum entgehen kann. Von einem
0179so gewandten und geistreichen Musiker wie Heuberger ver-
0180steht es sich von selbst, daß er die Technik des Orchesters
0181wie des Gesanges vollständig beherrscht, die wechselnden
0182Stimmungen zu malen, die Personen zu charakterisiren ver-
0183steht. Es fehlt in „Mirjam“ auch nicht an unmittelbar ge-
0184fälligen oder ergreifenden Stellen; diejenigen, wo Heuberger 
0185zeitweilig die usurpirte Herrschaft des Orchesters unterbricht
0186und sie der Singstimme überträgt. Die besten musikalischen 
0187Gedanken tauchen aber nicht im Gesang, sondern im Or-
0188chester auf: die Begleitung zu Mirjam’s Worten: „Der
0189letzte Strahl erlosch“, das D-dur-Motiv in dem Liebesduett
0190(„Du fliehst mich!“), der G-dur-Satz in der ersten Zwischen-
0191act-Musik u. A.


0192Der Hörer wird dem Verlauf der Oper mit Interesse
0193folgen und sich an vielen schönen Momenten erfreuen. Im
0194Ganzen hat „Mirjam“ trotzdem meine Hoffnungen nicht er-
0195füllt, mich weniger befriedigt, als „Das Abenteuer einer
0196Neujahrsnacht“ oder das schöne „Liederspiel“ von Heuberger.
0197Vermuthlich wird ein großer Theil des Publicums, das ja
0198vor Allem Wagner’scher Ausdrucksweise huldigt, entgegen-
0199gesetzter Ansicht sein. Ich kann deßhalb die bereits gemeldete
0200Thatsache nicht stark genug nochmals betonen: daß die Auf-
0201führung von „Mirjam“ von lautem Beifall und schmeichel-
0202haftesten Auszeichnungen des Componisten begleitet war.
0203Unsere Zeit fordert in der Oper, strenger als es ehedem
0204geschah, dramatische Musik. Ich bestehe auf ganz demselben
0205Anspruch; nur ist mir in diesem Begriff Musik das Haupt-
0206wort, dramatisch das Beiwort. Auch für die Oper ist Kraft und
0207Originalität der musikalischen Erfindung die erste, wenn-
0208gleich nicht einzige Bedingung. Jede gute Oper muß durch-
0209strömt, durchleuchtet sein von musikalischen Ideen, die als
0210solche interessiren, und nicht blos als Nachmalerei von
0211Empfindungen und Personen, die uns nicht interessiren.
0212Andere mögen anders fühlen und werden dann auch über
0213Mirjam“ anders urtheilen.


0214Richard Heuberger steht in seiner besten Frische und
0215Manneskraft. Einsichtsvoll genug, um in seiner „Mirjam“
0216weniger einen Erfolg als eine Erfahrung zu schätzen, wird
0217er uns gewiß noch manche wirksame Oper schenken, sobald
0218ein besseres Textbuch ihm einladend und hilfreich die Hand
0219bietet.


0220Der vorzüglichen Aufführung der (von Heuberger 
0221persönlich dirigirten) Novität ist bereits gedacht und das
0222Verdienst der Hauptdarsteller — Fräulein Schläger,
0223Fräulein Mark, Winkelmann, Neidl und Reichen-
0224berg
— gewürdigt worden.