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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10571. Wien, Sonntag, den 28. Januar 1894

[1]

Hector Berlioz und Stephen Heller.

(Aus Anlaß der jüngsten Concertaufführung von „Faust’s Verdammniß“.)


0003Ed. H. Mit Hector Berlioz’ dramatischer Legende
0004Faust’s Verdammniß“ hatte Herr Director Gericke un-
0005streitig eine glückliche Wahl getroffen für das letzte Gesell-
0006schaftsconcert. Der große Musikvereinssaal war am 21. d.
0007so dicht gefüllt, wie wir ihn selten gesehen haben. Lebhaftes
0008Gefallen äußerte das Publicum an den blendenden Orchester-
0009nummern: Rakoczymarsch, Irrlichtertanz und Sylphenballet.
0010Es ist sehr bezeichnend, daß gerade diese drei besten Stücke
0011mit der Faust-Tragödie nichts zu schaffen haben und ebenso
0012gut wo anders stehen könnten. Der Beifall nach den
0013Gesang-Soli schien mehr den Sängern zu gelten als der
0014Composition. Fräulein Mark und Herr van Dyck haben
0015die meist gesangwidrigen und undankbaren Partien Gretchens
0016und Faust’s bewunderungswürdig bewältigt. Uns mit dieser 
0017Musik das Bild des Goethe’schen Gretchen und des Goethe’schen
0018Faust vorzuzaubern, das wird freilich kaum einem Sänger
0019gelingen. Besser geglückt ist dem Componisten die dritte
0020Hauptfigur: Mephisto. Seine Serenade ist wol das einzige
0021Gesangstück in dieser „Verdammnis“, das sich einer zusam-
0022menhängenden Melodie und gesunder rhythmischer Glieder
0023rühmen kann. Leider wurde sie zu schnell genommen. Solches
0024Tempo verträgt allenfalls der französische Originaltext (wie
0025der vortreffliche Blauwaert bewies), nicht aber das Kies-
0026geröll dieser deutschen Worte — selbst im Munde eines
0027Sängers wie Herrn Messchaert, der ein Muster, ein Virtuose
0028in deutlicher Aussprache ist. Außer den Sängern dankte das
0029Publicum auch Herrn Director Gericke, der das schwierige
0030Werk sorgfältig vorbereitet und so präcise herausgebracht hat,
0031als es bei der unzureichenden Zahl der ihm vergönnten Ge-
0032sammtproben möglich war.


0033Anstatt einer neuerlichen Zergliederung des sattsam be-
0034kannten und wiederholt besprochenen Werkes möchte ich heute
0035meinen Lesern lieber ein von Berlioz handelndes, inter-
0036essantes und noch unveröffentlichtes Schriftstück mittheilen. 
0037Es ist ein Brief, den der geistvolle Componist Stephen
0038Heller
mir aus Anlaß meiner Pariser Ausstellungsberichte
0039von 1878 geschrieben hat. Stephen Heller war einer der
0040sehr wenigen intimen Freunde Berlioz’, die in dessen letzten
0041Lebensjahren täglich mit ihm verkehrten. Er hat Berlioz, den
0042Künstler und den Menschen, aufrichtig verehrt und genoß
0043in hohem Grade dessen Zuneigung und Vertrauen. Heller’s
0044Brief ist aus Paris, 1. Februar 1879, datirt und lautet,
0045mit Hinweglassung einiger freundschaftlicher Eingangs- und
0046Schlußworte, wie folgt:


0047„Schon im Jahre 1838, als ich zuerst nach Paris kam,
0048stand Berlioz ganz apart unter den dortigen Künstlern.
0049Man konnte ihm schon damals den Ruf eines kühnen, nach
0050Großem strebenden Künstlers nicht mehr streitig machen.
0051Seine Werke, seine Reden, sein ganzes Gebahren gaben ihm
0052das Air eines Revolutionärs vis-à-vis dem alten Musik-
0053regime, welches Berlioz gerne als abgelebt betrachtete. Ich
0054weiß nicht, ob er Girondin oder Terroriste gewesen, aber
0055ich glaube wol, daß er nicht abgeneigt war, die Rossini,
0056Cherubini, Auber, Herold, Boïeldieu u. s. w., diese „Pitts“
0057und „Coburgs“ der verderbten Musikwelt, zu Hochverräthern
0058zu erklären und ihnen einen lebensgefährlichen Proceß zu
0059machen. Diese gräulichen Musik-Aristokraten wurden täglich
0060gespielt und sogen mit der Tantième das Mark ihrer
0061Unterthanen, das heißt des Publicums, aus. Aber
0062Paris ist der einzige Ort in der Welt, wo man
0063alle Situationen versteht, und wo man es liebt, den
0064seltsamen unter ihnen nachzuspüren und in einem gewissen
0065Maße Aufmunterung und Beistand zukommen zu lassen.
0066Nur muß diese Situation etwas Absonderliches, eine gewisse
0067Physiognomie, etwas Pathetisches haben. Mit Einem Worte,
0068es muß sich um einen Mann irgend eine Legende ver-
0069breitet haben. Und Berlioz hatte deren mehrere. Seine un-
0070überwindliche Musik-Passion, die weder Drohungen noch
0071Armuth vermindern konnten; er, der Sohn eines angesehenen,
0072vermögenden Arztes in Grenoble, gezwungen, Chorist in
0073einem der kleinsten Theater zu werden, seine phantastische
0074Liebe zu Miss Smithson, die ihn als Ophelie und als
0075Julie hinriß, obgleich er kein Wort Englisch verstand —
0076endlich seine „Sinfonie fantastique“, welche seine Liebe
0077schilderte, und deren Anhörung die englische Schauspielerin,
0078welche gar nichts von Musik verstand, bewog, seine Liebe zu er-
0079widern — Alles dies gab Berlioz diese Situation, die hierzulande
0080nöthig ist, um die Sympathien gewisser Enthusiasten zu
0081erringen. Diese Art von verständigen, zugeneigten, zu jedem
0082Dienste willfährigen, oft jeder Aufopferung fähigen Menschen
0083findet jedes echte Talent in Paris, vorausgesetzt, daß es sich
0084in einem gewissen Lichte zeigt. So sah ich denn wenige
0085Monate nach meiner ersten Bekanntschaft mit Berlioz, daß
0086er als Haupt und Spitze der verkannten Genies in Paris 
0087zu gelten anfing. Er war verkannt, das ist richtig; aber
0088wie ein Solcher, an dem zu verkennen war. Berlioz hat die
0089Verkennung des Talents bis zu einer Würde erhoben; denn
0090die Anerkennung, ja die Bewunderung eines großen Kreises
0091ließ die Verkennung so grell und so unliebsam hervortreten,
0092daß sie Berlioz täglich neue Freunde gewann. Einer etwas
0093mehr philosophischen Natur hätte dieses Gegengewicht hingereicht,
0094ihn glücklicher zu machen. Es beleidigte, kränkte den feinen Sinn
0095der Pariser (ich meine darunter eine gewisse Classe von Menschen),
0096einen Künstler verfolgt, getadelt und in Armuth zu sehen,
0097welcher jedenfalls Proben eines hervorragenden Talentes,
0098eines glühenden Eifers und hohen Muthes gegeben. Und die
0099Franzosen begnügen sich nicht, still platonisch zu lieben,
0100einem Freunde alles Glück zu wünschen und die Dinge
0101walten zu lassen, wie sie wollen. Sie sind thätig, gar nicht
0102faul, legen tüchtig die Hände d’ran und lassen sich nicht bei
0103allen Heiligen beschwören, doch den Mund aufzuthun, um
0104einige enthusiastische Worte zum Besten eines lobbedürftigen
0105verkannten Künstlers von sich zu geben. Das französische
0106Gouvernement in Person des Ministers Grafen Gasparin 
0107machte den Anfang und bestellte bei Berlioz ein Requiem;
0108später eine Trauermusik für die Todtenfeier der
0109Juli-Gefallenen. Inzwischen reihten sich alle mehr
0110oder weniger begabten, mehr oder weniger verkannten
0111Kunstjünger und Lehrlinge um ihr verehrtes Oberhaupt. Sie
0112waren die von der Natur gegebenen Apostel, Clienten und
0113Sachwalter Berlioz’. Namentlich waren es die Künstler
0114derer Fächer, welche sich nicht immer durch die Musik,
0115aber von ihren poetischen Vorwürfen, von den pittoresken
0116Programmen angezogen fühlten. Fast alle Maler (die durch-
0117gängig für Musik Sinn haben), Graveure, Bildhauer,
0118Architekten waren Anhänger Berlioz’. Zu diesen muß man
0119viele der besten Dichter und Romanciers zählen: V. Hugo,
0120Lamartine, Dumas, de Vigny, Balzac, die Maler Delacroix, [2]
0121Ary Schefer, welche in Berlioz mit Recht einen feurigen
0122Adepten der romantischen Schule sahen. Alle diese großen
0123Schriftsteller und gänzlich musiklosen Menschen, welche in
0124ihren Dramen bei schauerlichen Scenen einen Walzer von
0125Strauß im Orchester spielen ließen, um die Rührung oder
0126das Entsetzen noch zu steigern (es ist wahr, der Walzer
0127wurde langsam, feierlich, mit Sordinen und einigem
0128Tremolo gespielt), alle diese Leute schwärmten für Berlioz 
0129und bethätigten ihre Sympathie in Schrift und Wort. Und
0130endlich gesellte sich zu allen diesen thätigen Verbreitern des
0131alias verkannten Berlioz eine gewisse Zahl, klein, aber ge-
0132wichtig, von der vornehmen, der eleganten Welt Paris!
0133Das waren Leute, die auf wohlfeile Art den Ruf von Frei-
0134geistern erlangen wollten. Sie sind nicht capable, eine Sonate
0135von Wanhal oder Diabelli von einer Beethoven’schen zu
0136unterscheiden. Aber sie schrien gegen den sündlichen Reiz der
0137modernen Musik; sie spotteten ihrer Stammgenossen, welche
0138in Meyerbeer, Rossini und Auber schwelgten, prophezeiten
0139den Untergang jener lasterhaften, hochaufgeschürzten Melodien
0140und den Sieg einer neuen weltenbewegenden, hehren, ewig
0141männlichen Kunst.


0142Fügen Sie noch die nicht geringe Zahl guter und echter
0143Musiker hinzu, welche das wirklich Kühne und Großartige,
0144die oft wundersame Originalität, die zauberhafte Orchestri-
0145rung zu verstehen wußten, so werden Sie zugeben, daß
0146Berlioz nicht so vereinsamt gelebt und gewirkt hat, wie er
0147selber es liebte vorzugeben. Von 1838 an, noch mehr später,
0148haben einzelne Stücke seiner Symphonien glänzende, ja all-
0149gemeine Anerkennung gefunden. Sie wurden da capo ver-
0150langt und stürmisch applaudirt. Ich will davon nur an-
0151führen den Hinrichtungsmarsch, den Pilgermarsch, die Sere-
0152nade in den Abruzzen (Harold), das Fest der Capulets,
0153Stücke aus der Flucht von Egypten, Ouvertüre zum Römi-
0154schen Carneval u. s. w. Daß vieles höchst Bedeutende
0155schwachen Erfolg gehabt, ist nicht zu leugnen und schmerzlich,
0156zu sagen. Aber wie viel großen, je größeren Künstlern ist
0157es nicht so ergangen? Schwerlich war je ein Künstler so
0158entfernt von aller Resignation, dieser deutschen Tugend, wie
0159Berlioz. Fruchtlos machte ich den deutschen Plutarch, ihm
0160Züge erzählend aus dem Leben eines Weber, Mozart, 
0161Beethoven, Schubert, Schiller (den er sehr liebte) und An-
0162derer. Wenn er so bitter klagte und seine Erfolge verglich
0163mit denen der herrschenden Theater-Componisten, so sagte
0164ich ihm: Lieber Freund, Sie wollen zu viel, Sie wollen
0165Alles. Sie verachten das große Publicum, und Sie wollen
0166von ihm bewundert werden. Sie verschmähen, und zwar mit
0167dem Rechte des edlen, originellen Künstlers, den Beifall der Majo-
0168rität und entbehren ihn dennoch schmerzlich. Sie wollen ein
0169kühner Novateur, ein Bahnbrecher sein, und zugleich von
0170Allen verstanden und gewürdigt. Sie wollen nur den Edelsten
0171und Stärksten gefallen, und zürnen dem Kaltsinne der Gleich-
0172giltigen, der Unzulänglichkeit der Schwachen. Wollen Sie
0173nicht auch einsam, groß, unnahbar und arm dastehen, wie
0174ein Beethoven, und zugleich umringt sein von den Kleinen
0175und von den Großen dieser Welt, beschenkt mit allen
0176Glücksgütern und Auszeichnungen, Titeln und Aemtern?
0177Sie haben erlangt, was die Natur Ihres Talents und Ihres
0178ganzen Wesens erlangen kann. Die Majorität haben Sie
0179nicht, aber eine geistvolle Minorität bemüht sich, Sie aufrecht
0180und muthig zu erhalten. Sie haben einen ganz besonderen
0181Platz in der Kunstwelt sich errungen, haben viele begeisterte
0182rührige Freunde — ja es fehlt Ihnen auch nicht, Gott sei
0183es gedankt, an tüchtigen Feinden, die Ihre Freunde wach
0184erhalten. Ihre äußere Existenz ist auch seit einigen Jahren
0185gesichert, was nicht zu verachten ist, und endlich können Sie
0186mit Sicherheit auf etwas rechnen, was bis heute von allen
0187Menschen von Geist und Herz geschätzt worden ist: auf
0188eine vollständige Genugthuung, welche Ihnen die Nachwelt
0189bewahrt.


0190Manchmal gelang es mir, ihn wieder aufzurichten,
0191was er stets mit freundschaftlichen und rührenden Worten
0192zugestand. Besonders gerne erinnere ich mich eines derartigen
0193Erfolges. Es war eines Abends bei dem trefflichen, nun
0194auch dahingeschiedenen B. Damcke.*) Diesen und seine
0199Frau, deren Herzensgüte und gastliche Aufnahme hat
0200Berlioz auch in seinen „Memoires“ dankbar erwähnt. Wir 
0201waren dort fast allabendlich versammelt: Berlioz, J. d’Ortigue,
0202ein gelehrter Musik- und Literatur-Historiker, Léon Kreutzer 
0203und Andere. Da wurde geplaudert, kritisirt, musicirt, so
0204recht frank und frei. Der Tod hat auch diesen kleinen Kreis
0205gelichtet; in der letzten Zeit waren nur Berlioz und ich bei
0206Damckes. Als nun an jenem Abend Berlioz wieder sein
0207altes Klagelied anstimmte, entgegnete ich ihm in der Weise,
0208wie ich oben erzählte. Ich hatte meinen Sermon geendigt;
0209es war 11 Uhr geworden; eine kalte Decembernacht
0210lag draußen in trauriger Finsterniß. Müde und verdrießlich
0211zündete ich eine Cigarre an; da sprang Berlioz rasch
0212und jugendlich vom Sofa auf, wo er die Gewohnheit hatte,
0213sich mit seinen kothbespritzten Stiefeln hinzustrecken, zum
0214stillen Leidwesen des reinlichen, ordnungsliebenden Damcke:
0215„Ha!“ schrie Berlioz auf, „Heller hat Recht — wie? Er
0216hat immer Recht. Er ist gut, er ist klug, er ist gerecht und
0217weise; ich will ihn umarmen“ — er küßte mich auf beide
0218Wangen — „und dem Weisen eine Tollheit vorschlagen.“
0219— „Ich gehe auf jede ein,“ sagte ich. „Was wollen Sie be-
0220ginnen?“ — „Ich will mit Ihnen bei Bignon (ein be-
0221rühmtes Restaurant an der Ecke der Chaussée d’Antin)
0222soupiren gehen. Ich habe wenig zu Mittag gegessen und
0223Ihr Sermon hat mir Lust zur Unsterblichkeit und einigen
0224Dutzend Austern gegeben.“ — „Gut,“ erwiderte ich, „wir
0225wollen Beethoven’s und auch Lucullus’ Gesundheit trinken
0226und unsere Seelenleiden in edelstem Franzwein und an-
0227gemessenen Gänseleber-Pasteten ersäufen und vergessen.“ —
0228„Unser Wirth,“ sagte Berlioz, „kann zu Hause bleiben, denn
0229er hat eine liebenswürdige Frau. Wir aber haben keinerlei
0230Frau, und wir gehen ins Wirthshaus — keine Widerrede!
0231Das ist abgemachte Sache.“ Der alte feurige Berlioz war
0232wieder erwacht. Und so schlenderten wir Arm in Arm,
0233scherzend und lachend, die lange Rue Blanche, die ebenso
0234lange Chaussée d’Antin hinunter und traten in den glänzend
0235erleuchteten Salon des Restaurant. Es war halb 12 Uhr,
0236und nur wenige Fremde waren noch da, was uns sehr lieb
0237war. Wir verlangten Austern, Straßburger Leberpasteten,
0238ein kaltes Geflügel, Salat, Früchte, besten Champagner und
0239echtesten Bordeaux. Um 1 Uhr löschte man das Gas, und
0240die Garçons schlichen gähnend um uns (wir waren ganz [3]
0241allein, die Anderen hatten den Saal verlassen), als wollten
0242sie uns mahnen, aufzubrechen. Man schloß die Thüren und
0243brachte Wachslichter. „Garçon!“ rief Berlioz, „Sie wollen
0244uns durch allerlei Pantomimen glauben machen, es sei spät.
0245Ich aber bitte Sie, uns zwei demi-tasses café zu bringen
0246und auch einige wirkliche Havana-Cigarren.“ So wurde es
02472 Uhr. „Jetzt,“ sagte Berlioz, „jetzt wollen wir aufbrechen,
0248denn um diese Zeit liegt meine Schwiegermutter im besten
0249Schlafe, und ich habe die gegründete Hoffnung, sie aufzu-
0250wecken.“ Während unseres Soupers sprachen wir von unseren
0251Lieblingen: Beethoven, Shakespeare, Lord Byron, Heine,
0252Gluck, und so beim langen, langsamen Wege nach seinem
0253Hause, unweit dem meinigen gelegen. Es war der letzte
0254heitere, lebendig gesellige Abend, den ich mit ihm verlebt;
0255wenn ich nicht irre, im Jahre 1867 oder 1868. Es war,
0256glaube ich, in demselben Jahre, als er eine Art von Leiden-
0257schaft hatte, einigen Freunden Shakespeare in der französi-
0258schen Uebersetzung vorzulesen. Man versammelte sich bei
0259ihm Abends 8 Uhr, und er las uns wol sieben bis acht
0260Stücke. Er las gut, aber war oft zu sehr ergriffen; bei
0261besonders schönen Stellen rannen ihm die Thränen von den
0262Wangen. Er fuhr aber fort zu lesen und trocknete die
0263Augen eilends, um sich nicht zu unterbrechen. Bei diesen
0264Vorlesungen waren nur zugegen Damckes und zwei bis
0265drei Freunde. Einer von diesen, ein alter, bewährter
0266Kamerad Berlioz’, aber wenig literarisch gebildet,
0267übernahm aus eigenem Antriebe die Rolle eines
0268Claqueurs. Er hörte sehr angestrengt zu und suchte in
0269den Zügen des Vorlesers und der Zuhörer den rechten
0270Moment zu finden, wo er seinen Enthusiasmus kundgeben
0271konnte. Da er nicht zu applaudiren wagte, erfand er sich
0272eine originelle Beifallsäußerung. Jede ausgezeichnete Stelle
0273mit Bewegung vorgetragen und nachempfunden, wurde von
0274ihm mit einem halbleise ausgestoßenen Fluche begleitet, wie
0275sie in den Volksclassen und in Ateliers gebräuchlich sind.
0276So hörte man denn nach den rührendsten oder heroischen
0277Passagen Shakespeare’s: Nom d’un nom! Nom d’une
0278pipe ! Sacre matin! Nachdem das nun einige dutzendmale
0279stattfand, fuhr plötzlich Berlioz zornig auf und, den Vers 
0280unterbrechend, donnerte er: „Ah! Ça, voulez vous bien
0281ficher le camp avec vos nom d’une pipe!“ Worauf der
0282Andere schreckensbleich die Flucht ergriff, während Berlioz 
0283wieder ganz ruhig die Balconscene von Romeo und Juliette 
0284aufnahm.


0285Das, was ich Ihnen einst über Berlioz’ geringes musi-
0286kalisches Gedächtniß gesagt, bezieht sich auf moderne Musik,
0287mit der er weniger vertraut war. Aber die Musik, die er
0288studirt hatte, war ihm sehr gegenwärtig. Namentlich die
0289Orchesterwerke Beethoven’s (weniger die Quartette und
0290Clavierwerke desselben), dann die Opern von Gluck, Spon-
0291tini, ebenso Grétry, Méhul, Dalayrac und Monsigny. Trotz
0292seines wunderlichen Hasses gegen Rossini war er ein sehr
0293warmer Verehrer zweier Partituren dieses Meisters: „Graf
0294Ory“ und „Barbier von Sevilla“. Berlioz gehörte zu den
0295echten Kunstmenschen, die von jeder in ihrer Weise voll-
0296kommenen Production hingerissen und bis zu Thränen ge-
0297rührt sein konnten. So war ich mit ihm beim ersten Gast-
0298spiel der Adelina Patti im „Barbier“. Sie werden es
0299mir glauben, wenn ich Sie versichere, daß ihm bei den hei-
0300tersten, liebenswürdigsten Stücken dieser Oper die Augen
0301überquollen. Was soll ich erst von der „Zauberflöte“ sagen,
0302die ich auch in seiner Gesellschaft hörte. Berlioz hatte einen
0303etwas kindischen Zorn gegen das, was er strafbare Con-
0304cessionen Mozart’s nannte. Er meinte damit die Arie des
0305Don Ottavio, die Arie Doña Anna’s in F, sowie die
0306famosen Bravour-Arien der Königin der Nacht. Er war
0307nicht zu bewegen, die relative Vortrefflichkeit dieser aller-
0308dings weniger dramatischen Sätze anzuerkennen. Aber wie
0309innig erfreut war ich, den tiefen, gewaltigen Eindruck zu
0310sehen, den die „Zauberflöte“ auf ihn machte. Er hatte sie
0311oft gehört; aber sei es bessere Stimmung oder Wirkung
0312einer vortrefflichen Aufführung, Berlioz sagte mir, nie wäre
0313ihm diese Musik so tief ins Herz gedrungen. Ja, einige-
0314male äußerte sich seine Exaltation so laut, daß sich
0315unsere Nachbarn des Parquets, welche sich die Zähne
0316stocherten und ruhig ihr Diner verdauen wollten,
0317über diesen „indiscreten“ Enthusiasmus beschwerten.
0318Eines Abends hörten wir in einem Quartett-Vereine das 
0319Beethoven’sche in E-moll. Wir saßen in einem entfernten
0320Winkel des Saales. Mir war bei Anhörung dieses Wunder-
0321werkes wie etwa einem frommen Katholiken, der die Messe
0322hört, mit tiefer Andacht und Inbrunst, aber zugleich mit
0323Ruhe und klarer Besonnenheit: er ist mit dieser hohen
0324Empfindung längst vertraut. Berlioz schien mir ein später
0325Eingeweihter; er war innigst erbaut, aber seiner Andacht
0326gesellte sich etwas wie ein freudiger Schreck vor dem heilig-
0327süßen Geheimniß, das sich ihm offenbarte. Sein Gesicht war
0328wie verzückt beim Adagio — es war wie eine Wandlung in
0329ihm vorgegangen. Es wurden noch andere gute Werke auf-
0330geführt. Wir entfernten uns aber, und ich begleitete ihn an
0331sein Haus. Kein Wort wurde gewechselt zwischen uns. Das
0332Adagio betete in uns fort. Als ich von ihm Abschied nahm,
0333ergriff er meine Hand und sagte: „cet homme avait
0334tout ... et nous n’avons rien.“ So zerknirscht, so nieder-
0335gedonnert fühlte er sich in dieser Stunde von der Riesen-
0336größe des „Mannes“.


0337Eine kleine Anekdote noch. Nahe beim Hause, welches
0338Damcke bewohnte, Rue Mansard, war auf dem Trottoir
0339ein besonders großer und weißer Pflasterstein eingekeilt.
0340Auf diesen Stein stellte sich Berlioz jeden Abend, wenn wir
0341von der Rue Mansard kamen, um mir gute Nacht zu sagen.
0342Eines Abends (kurz vor seiner letzten Krankheit) trennten
0343wir uns eilig, denn es war kalt und ein dicker gelber Nebel
0344lag auf den Straßen. Wir waren schon zehn Schritte ent-
0345fernt, als ich Berlioz rufen hörte: „Heller! Heller! Wo sind
0346Sie? Kommen Sie zurück! Ich habe Ihnen nicht auf dem
0347weißen Steine gute Nacht gesagt!“ Wir finden uns wieder,
0348und nun suchen wir in stockfinsterer Nacht den unentbehr-
0349lichen Pflasterstein, der übrigens auch eine besondere Form
0350hatte. Ich ziehe meine Zündhölzchen hervor, aber sie zünden
0351nicht in der feuchten Nachtluft. Wir kriechen Beide auf allen
0352Vieren auf dem Trottoir herum — endlich schimmert uns
0353das verwitterte Weiß entgegen. Berlioz setzt sehr ernsthaft
0354den Fuß auf den edlen Stein und sagt: „Gott sei gelobt,
0355ich stehe darauf — nun gute Nacht!“ Es war unser letztes
0356„Gutenacht“ auf dem weißen Steine.“

Fußnoten
  • *)Berthold Damcke, ein geborener Hannoveraner, hatte sich,
    nachdem er verschiedene Dirigentenstellen in Deutschland innegehabt,
    im Jahre 1840 als Musik-Kritiker und musikalischer Correspondent
    in Paris niedergelassen. Er starb daselbst 1875.