Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10594. Wien, Dienstag, den 20. Februar 1894
[1]Concerte.
0002Ed. H. Der Violinspieler Hubay, der bisher als
0003„Eugen Hubay“ hier und anderwärts verdiente Ehren ge-
0004sammelt, ist uns diesmal als „Jenö Hubay“ zurückgekehrt.
0005Außer diesem neuen romantischen Vornamen wüßte ich kaum
0006eine Veränderung an dem Künstler hervorzuheben, der als
0007tüchtiger Musiker, brillanter Virtuose und obendrein als
0008erfolgreicher Lehrer (am Brüsseler Conservatorium) sich längst
0009einen Namen gemacht hat. Der neue magyarische Einschlag
0010in seine bisherige international-französische Bildung besteht
0011lediglich in einigen ungarischen Aufschriften über seinen
0012jüngsten Concertstücken. Seine eminente Technik bewährte
0013Hubay insbesondere in den „Variations sérieuses“ (et
0014parfois ennuyeuses) von Corelli; da glänzte er im poly-
0015phonen Spiel, in Flageolet- und Pizzicato-Kunststücken. Als
0016ernster Musiker von gediegenem Geschmack zeigte sich Herr
0017Hubay in dem Vortrag der D-moll-Sonate (op. 108)
0018von Brahms. Den ersten Satz können wir uns
0019seelenvoller, leuchtender denken, die Melodie, das An-
0020dante hingegen quoll breit und schön aus der G-Saite.
0021Hubay’s Partner war Ignaz Brüll, den wir, ohne
0022Jemandem Unrecht zu thun, als den vollkommensten Brahms-
0023Spieler unter unseren Pianisten ehren. Er bewies dies
0024auch durch den unvergleichlichen Vortrag von vier der
0025neuesten „Clavierstücke“ dieses Meisters (op. 118 und 119).
0026Sie schließen sich, in Form und Charakter eng verwandt,
0027an ihre unmittelbaren Vorläufer, die „Phantasien und Inter-
0028mezzi“, op. 116 und 117. Mit beiden hat uns Brüll zuerst
0029bekannt gemacht; sein Beispiel beginnt jetzt schon verführerisch
0030zu wirken. Die neuen Clavierstücke imponiren ebenso sehr
0031durch ihren energischen Ausdruck, wie durch ihre geistvolle
0032Technik. Es ist durchaus männliche, ernste Musik, auch
0033herbe und düstere; eine Musik, die nicht auf den ersten
0034Blick gewinnt, aber bei näherer Bekanntschaft um so nach-
0035haltiger fesselt. Die wild hinstürmende „Rhapsodie“ mit
0036ihrem fünftactigen Rhythmus und leicht magyarischen An-
0037flug, die ebenso leidenschaftlich erregte „Ballade“ in
0038G-moll, endlich die F-dur-„Romanze“ mit ihrem Wiegen-
0039lied-Mittelsatz sind echtester Brahms. Man könnte diese
0040beiden Hefte „Monologe am Clavier“ überschreiben; Monologe,
0041wie sie Brahms in einsamer Abendstunde mit sich und für
0042sich hält, in trotzig-pessimistischer Auflehnung, in grüblerischem
0043Nachsinnen, in romantischen Reminiscenzen, mitunter auch
0044in träumerischer Wehmuth. Es steckt viel Eisengehalt in den
0045Stücken, und dieser Eisengehalt wird sie lange conserviren.
0046Wie eigenartig berührte uns unmittelbar nach diesen Brahms’-
0047schen Charakterstücken ein Adagio von Spohr, ein edler,
0048gefühlsschwelgender Gesang, dessen süßer Duft uns einst ent-
0049zückt hat, so lange die Blume frisch war. Jetzt kommt er
0050uns matt und verbraucht vor. Die neuen Brahms-Stücke
0051sprechen nicht so unmittelbar zum Gemüth, nicht so schmei-
0052chelnd zum Ohr; dafür haben sie kein so frühes Abwelken
0053zu fürchten. Hoffentlich wird uns Brüll die übrigen Num-
0054mern aus op. 118 und 119 nicht lange vorenthalten.
0055Der große Erfolg, den die Sängerin Fräulein Adelina
0056Herms im vorigen Jahre hier erzielte, ist ihr auch dies-
0057mal treu geblieben. Von mäßiger Klangschönheit und Fülle,
0058ist ihr Organ doch so vortrefflich geschult, von Intelligenz
0059und Empfindung so schön durchdrungen, daß es bedeutende
0060Wirkungen erreicht. In Fräulein Herms’ erstem Concert
0061interessirten zumeist vier neue Lieder von Anton Rückauf.
0062Sie gehören zu dem Allerbesten, was die jüngste Zeit auf
0063diesem Gebiet hervorgebracht hat. Echtes Zigeunerblut durch-
0064glüht den leidenschaftlichen Gesang „Ich schlage dich, mein
0065Tamburin“, zarteste Empfindung webt in den „Grüßen“,
0066warmes Behagen in dem „Traulichen Heim“. Die Lieder
0067fanden stürmischen Beifall. So schön Fräulein Herms sie
0068auch vortrug, sie kann sich doch nur ein wohlgewogenes
0069Drittheil des Erfolges zuschreiben — das zweite Drittheil
0070gehörte der Composition, das dritte der wundervollen Clavier-
0071begleitung des Herrn Rückauf. Das „Tamburin“ und die „Grüße“
0072hätte man, schon um dieses Accompagnements willen, sich gern
0073wiederholen lassen. Eine neue Erscheinung brachte uns dieses
0074Concert in der Pianistin Dagmar Walle-Hansen. Die
0075junge, kräftige Norwegerin gebietet über eine gewaltige
0076Technik. Ihr kostbarster Schatz ist ihr Anschlag: markig,
0077klangvoll, selbst im Fortissimo nicht verletzend. Weniger
0078befriedigte ihr Vortrag; es fehlt ihm das plastische Gestalten,
0079die klare und ausdrucksvolle Phrasirung. Wer Schumann’s
0080E-dur-Novellette Nr. 7 nicht sehr genau kennt, dem dürfte
0081sie aus Fräulein Hansen’s Vortrag schwerlich klar geworden
0082sein. Das stürzte in Einer aufgeregten Hast unterschiedlos,
0083ohne rhytmische Gliederung dahin; auch der zarte Mittelsatz
0084entbehrte der Ruhe und Innigkeit. Bravourstücke im engeren
0085Sinne, wie die Liszt’sche Polonaise, scheinen vorläufig das
0086geeignetste Feld für die kühne Virtuosin, welche im Kampf
0087mit technischen Schwierigkeiten sich offenbar am wohlsten fühlt.
0088Ein schönes, lustiges Concert spendeten die Philhar-
0089moniker zum Besten ihres Pensionsvereines „Nicolai“. Sie
0090feierten eine Art Nachfasching mit Berlioz’ blendend colo-
0091rirter „Aufforderung zum Tanze“, mit Grieg’s liebenswür-
0092diger „Peer Gynt-Suite“ und der lebensprühenden D-moll-
0093Rhapsodie von Liszt. Durchaus Prachtleistungen unseres
0094Philharmonie-Orchesters, dieses großen Virtuosen. Das
0095Publicum jubelte, entzückt von dem Glanze der Aufführung
0096und der Compositionen. Es hat uns wirklich wohlgethan,
0097doch einmal nicht blos „tiefsinnige“ Musik hören zu müssen,
0098nicht in düsteren, steinigen Klüften von lauter Hamlets und
0099Manfreds, Ibsen und Schopenhauer herumgeführt zu wer-
0100den. Nein, dies Einemal durften wir in Sonnenschein und
0101Frühlingsluft uns tummeln ohne Grübelei und pessimistische
0102Philosophie! In unserer modernen Musik ist ja unbefan-
0103gener Frohsinn ausgestorben, frische Natürlichkeit verpönt,
0104reizvolle Melodie ein Verbrechen. „Freuen wir uns heute der
0105kurzen Lustbarkeit,“ flüsterte mein vergnügt applaudirender
0106Nachbar mir zu, „eine gewisse zehnte oder elfte Symphonie
0107steht schon vor der Thür.“ Das Programm enthielt übrigens
0108auch eine neue ernste Composition; glücklicherweise keine gar zu
0109„tiefsinnige“: das zweite Clavierconcert von d’Albert.
0110In der Form lehnt es sich an Liszt’s Symphonische Dich-
0111tungen; vier in einander überleitende Abtheilungen bilden
0112dieses „Concert in Einem Satz“. Der Anfang ist sehr
0113romantisch und vielversprechend: ein in leeren Quinten
0114mächtig aufstürmendes Thema, ein Gruß an den „Fliegenden
0115Holländer“. Dieses sowie das zweite Thema des
0116Allegro bilden zugleich — verschieden rhythmisirt, har-
0117monisirt, umgekehrt und verändert — das moti-
0118vische Kapital für die drei folgenden Abtheilungen
0119des Concerts. So geistreich und kunstvoll d’Albert
0120diese Methode angewendet und mit subtilem Scharfsinne
0121durchgeführt hat, sie bleibt immer bedenklich. Sie schnürt
0122das freie Schaffen des Componisten ein und schafft zum
0123großen Theile doch nur „Augenmusik“, das heißt Motiv-
0124verkleidungen und -Verwandlungen, die nur das Auge des
0125Partiturlesers, nicht aber das unvorbereitete Ohr des Zu-
0126hörers erkennt. Die Erfindung fließt in dem Concerte weder [2]
0127leicht noch reichlich; doch ist ihm vieles Gute nachzurühmen:
0128vor Allem der Respect für Form und Logik, dann die
0129einheitlich noble Haltung, welche grelle Contraste, barocke
0130Orchester-Effecte verschmäht, schließlich die saubere, höchst
0131sorgfältige Ausführung des Details. Daß es einen präch-
0132tigen Turnierplatz bietet für höchstgesteigerte Claviertechnik,
0133versteht sich von selbst. Schade, daß der Componist sich in
0134der Wirkung der enorm anstrengenden Octaven-Passagen,
0135welche „die Krönung des Gebäudes“ bilden sollen, verrechnet
0136hat. Das Clavier wird von dem Fortissimo des vollen
0137Orchesters unbarmherzig verschlungen; da ist „der Liebe
0138Müh’ umsonst.“ d’Albert ist gut daran: er kann seine
0139schwierigsten Stücke nach Belieben entweder selbst spielen
0140oder sie von seiner schönen Frau spielen lassen, die an Kraft
0141und Bravour ihm nicht nachsteht. Frau d’Albert, welche wir
0142bereits als Teresa Carreño zu bewundern Gelegenheit
0143gehabt, lieferte in dem Vortrage des ihr angetrauten Clavier-
0144concertes ein Probestück verblüffender Virtuosität. Ob ihr
0145Spiel ebenso erwärmend sein könne, wie es blendend ist,
0146läßt sich aus diesem Concerte nicht wohl beurtheilen. Die
0147„innigste Empfindung“, welche der Componist für die ein-
0148zige Solo-Gesangstelle (zu Anfang des Adagios) vorschreibt,
0149habe ich aus dem Vortrage der Carreño nicht herausgefühlt.
0150Ein zweites neues Werk von d’Albert, eine Clavier-
0151sonate in Fis-moll, hat uns der Componist selbst im Bösen-
0152dorfer-Saale vorgeführt. Sie hat mir weniger gefallen, als
0153sein E-dur-Concert, ja, offen gestanden, einen recht uner-
0154quicklichen Eindruck hinterlassen. Das Beste darin, ganz wie
0155in dem Concert, ist der Anfang; nach den ersten sechzehn
0156bis zwanzig Tacten nimmt das Interesse ab. Mit imposanter
0157Kraft setzt das scharf rhythmisirte geistreiche Hauptmotiv ein,
0158Erwartungen erregend, die nicht erfüllt werden. Daß dieses
0159glücklich erfundene Thema stark an den Anfang von
0160Brahms’ Fis-moll-Sonate erinnert, wollen wir d’Albert
0161nicht allzu schwer nachtragen; hat doch Brahms selbst das
0162Hauptthema seiner ersten Sonate in C-dur nicht ohne Ein-
0163wirkung von Beethoven’s Sonate op. 106 gefunden. Den
0164zweiten Satz bei d’Albert bilden freie Variationen über ein
0165ziemlich farbloses Andante in D-dur. Wir folgen mit
0166Interesse der feingefügten ersten Variation in Sechzehnteln;
0167unsere Theilnahme ermüdet im weiteren Verlaufe. Sehr viel
0168Kunst, aber langweilige Kunst. Die Nachahmung des späteren
0169Beethoven, unverkennbar in diesen Variationen, äußert sich
0170noch entschiedener in der Wahl der Fugenform für den
0171letzten Satz. Das Studium der Finale in Beethoven’s
0172Sonaten op. 105 und 110 scheint d’Albert verführt zu
0173haben. Ein orgelmäßig gedachtes grandioses Präludium führt
0174zu einem fünftactigen Fugenthema, das in winselnder
0175Chromatik und uneinpräglichen Intervallen herumstolpert.
0176Seine mit allen Kunststücken des Fugenbaues geschmückte,
0177unersättlich lange, vielstimmige und vollgriffige Durch-
0178führung wird für das Publicum schließlich zum Chaos.
0179Wir bewundern und bedauern die erdrückende Kunst
0180und Gelehrsamkeit, welche d’Albert an die Composition ge-
0181wendet, und den beispiellosen Kraftverbrauch, welchen die
0182Ausführung gekostet hat. Kein Ohr in der ganzen Welt ver-
0183mag solches Stimmenwirssal genießend aufzunehmen, und
0184auch das Auge des Fachmannes dürfte darin eher ein
0185meisterhaft erledigtes Pensum erkennen, als ein Product
0186schöpferischer Phantasie. Von den bisher erschienenen Werken
0187d’Albert’s hat sein erstes, die Clavier-Suite, als das an-
0188spruchsloseste und natürlichste uns am meisten erfreut.
0189Später folgt er sehr merklich dem letzten Beethoven und
0190Brahms. Zwei nicht üble Muster, gewiß. Aber die Indi-
0191vidualität d’Albert’s leidet unter dieser Botmäßigkeit; er hat
0192es rasch zu erstaunlicher Kunstbeherrschung, aber noch nicht
0193zu einer eigenen Physiognomie gebracht. Den Ruhm
0194d’Albert’s, des Clavierspielers, noch erhöhen zu wollen, fällt
0195wol heute keinem Kritiker mehr ein. Er ist, seitdem wir
0196Bülow verloren und Rubinstein nicht mehr öffentlich spielt,
0197unbestritten der Erste, der Größte von Allen. Wer auch nur
0198die Bach’sche Orgelfuge in D von ihm gehört hat, mit
0199welcher d’Albert sein Concert eröffnete, wird vergeblich nach
0200entsprechenden Ausdrücken der Bewunderung suchen für
0201diesen großen Musiker und unvergleichlichen Virtuosen.
0202Die beiden Productionen des Conservatoriums
0203der „Gesellschaft der Musikfreunde“ (Orchesterconcert und Opern-
0204vorstellung) machten allgemein den erfreulichen Eindruck, daß das
0205Conservatorium sich aus seiner früheren Lethargie unter der
0206Leitung des Directors J. N. Fuchs zu neuem kräftigen
0207Leben erhebt. Sowol die Programme, welche mit dem
0208stereotypen bequemen Einerlei gebrochen haben, als auch die
0209Leistungen der Zöglinge gaben Zeugniß für die sorgfältige,
0210zielbewußte Leitung des Instituts. Das jugendliche Orchester,
0211die Streicher namentlich, ist vortrefflich geworden. Unter den
0212Clavierspielern erregte der talentvolle junge Moriz Violin
0213das lebhafteste Interesse durch seinen Vortrag zweier Sätze
0214aus Brahms’ erstem Concert. Die Opern-Production
0215brachte — gewiß eine Neuigkeit für die meisten Zuhörer —
0216den ersten Act von Beethoven’s Oper „Fidelio“ (Leonore)
0217in ihrer ursprünglichen, für das Theater an der Wien
0218(1805) geschriebenen Form. Dieser erste Act, welcher mit
0219dem Terzett „Gut, Söhnchen, gut“, also vor dem Erscheinen
0220Pizarro’s schließt, enthält sehr viel jetzt beseitigten Dialog
0221und ein etwas zopfig bürgerliches Terzett: „Ein
0222Mann ist bald genommen.“ Letzteres ist in der gegen-
0223wärtigen Form des „Fidelio“ gestrichen, desgleichen
0224ein Duett ähnlichen Charakters (Nr. 10) zwischen Leonore und
0225Marcelline: „Um in der Ehe froh zu leben.“ Rocco’s Arie:
0226„Hat man nicht auch Geld daneben“, ist somit von den drei
0227gesungenen Ehestandsabhandlungen die einzige, welche in
0228unserem „Fidelio“ ihren Platz behauptet hat. Welch ent-
0229scheidenden großen Gewinn die spätere Bearbeitung von
02301814 bedeutet, wird Jedermann klar geworden sein. Es
0231folgte der zweite Act aus der „Weißen Frau“ (mit Aus-
0232schluß der Licitations-Scene), der allzu monotone dritte Act
0233aus Gluck’s „Orpheus“ und die Kerkerscene aus Gounod’s
0234„Faust“. Von den jungen Opernkräften des Conservatoriums
0235ist in erster Linie Fräulein Mary Lederer (Leonore) zu
0236nennen; dann die Altistin Fräulein Schönberger, der
0237Bassist Dirnhofer und der Tenor Donauer — ein
0238Quartett, das wahrscheinlich bald und nicht ungern durch
0239verschiedene Engagements-Anträge getrennt werden dürfte.
0240Die Opern-Production fand zum erstenmale, sehr zu ihrem
0241Vortheil, im Großen Musikvereinssaale statt; Hof-Capell-
0242meister J. N. Fuchs dirigirte das Orchester, Ober-Regisseur
0243Stoll führte die Regie.
0244Die Herren Ondriček, Popper und Door, drei
0245vortreffliche und hochbeliebte Künstler, haben sich zur Ab-
0246haltung von drei Trio-Soiréen vereinigt. Ihr so an-
0247erkennenswerthes Unternehmen litt leider unter der gegen-
0248wärtigen maßlosen Concurrenz von Concerten, die uns Alle
0249— Künstler, Publicum und Kritiker — schier erdrückt.
0250Außerordentlich gerühmt wurde die Aufführung von
0251Brahms’ A-dur-Quartett in der zweiten Soirée, der ich
0252leider nicht beiwohnen konnte. Umsomehr erfreute mich am
0253dritten Abende das selten gehörte F-moll-Trio von Dvořak,
0254dessen reizender, origineller zweiter Satz vollauf entschädigt
0255für etliche Strecken eigensinniger Monotonie in den anderen
0256Sätzen. Door spielte etwas nüchtern, aber klar und maß-
0257voll; Popper ist längst anerkannter Quartettkönig von
0258Budapest; Ondriček, noch neu in diesem strengeren [3]
0259Musikbezirk, hat unsere Erwartungen jedenfalls übertroffen.
0260Er ist der feurigere, Popper der ruhigere Partner; Beide sind
0261aber Eins in dem blendenden Klangzauber, mit dem sie jedes
0262Motiv, jede melodische Feinheit gleichsam elektrisch beleuchten.
0263Gleichzeitig mit dieser Trio-Production gab in einem
0264andern Saal der Sänger Anton Sistermans ein
0265Concert, auf das ich eben wegen dieses Zusammen-
0266treffens verzichten mußte. Ich folge im Nachstehenden
0267dem Berichte eines geistreichen Musikfreundes, dessen
0268Urtheil vollkommen zu dem Eindrucke stimmt, den mir
0269Herr Sistermans in Händel’s „Messias“ gemacht hat.
0270Herr Sistermans ist eine durchaus harmonische Persön-
0271lichkeit. Alles, was er singt, schwebt in einer gleichmäßig
0272gefestigten Stimmung, die auf glückliche und genaue Ver-
0273bindung starker innerer Kräfte deutet. Seine Stimme ist
0274ein warmer Bariton, der hauptsächlich in der Mittellage
0275leuchtenden Goldton hat. In der Tiefe brüten graue Schatten,
0276und auch die Höhe besitzt nur eine erzwungene Höhe. Aber
0277diese Stimme ist tadellos geschult, von jener Schulung, die
0278Herz, Kopf und Ohr zugleich in Bewegung setzt. Sistermanns’
0279Gesangsweise erinnert an Julius Stockhausen und Helene
0280Magnus. Wie Jenen gelingt ihm das Sinnige, Einfache,
0281das, was Heine ein „Ausseufzen des Gemüthes“ nennt, am
0282besten. Unbewußt knüpft er am Volksgesang an und singt
0283volksmäßig mit seiner großen Kunst. So trägt er in das
0284Kunstlied einen naiven Volkston hinein und mit ihm einen
0285reinen Duft, der von gesunder Erde kommt. Ein Meister
0286der Declamation und des Wortes, spricht und accentuirt er
0287deutlich auch im schnellsten Tempo. Im ruhigen Gesang ge-
0288winnt er durch edle Tonbildung und die Kunst, die Stimme
0289zu einem schönen Forte anzuschwellen, ohne zu schreien. Dabei
0290betreibt er eine weise Sparsamkeit des Athems, die vorsichtig
0291mit den Zinsen arbeitet, ohne das Kapital anzugreifen.
0292So treibt der Athem unmerklich das Räderwerk einer Kunst, die
0293ihren besten Halt in schöner Männlichkeit und edlem Maß besitzt.
0294Er sang außer Liedern von Mendelssohn, Brahms und
0295Schubert, worunter die düstere „Gruppe aus dem Tartarus“
0296und die „Litaney“ (unserem Gefühle nach mehr für eine
0297Frauenstimme geeignet), die ganze „Dichterliebe“ von
0298Schumann. Sechzehn Lieder, die theils in Thränen gebadet
0299sind, theils von Vögelein, Wängelein, Aengelein u. s. w.
0300erzählen, in einer Reihe am Schlusse eines Concerts zu
0301singen, ist ein Mißgriff. Allmälig wird diese gesunge
0302Perlenschnur drückend wie eine eiserne Kette.