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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10603. Wien, Donnerstag, den 1. März 1894

[1]

Hofoperntheater.

(„Der Kuß.“ Volksoper in zwei Acten von Fr. Smetana. Deutsch von L. Hartmann.)


0003Ed. H. Das Textbuch zum „Kuß“ ist von einer Dame,
0004E. Krasnohorska, nach der gleichnamigen Erzählung einer
0005andern Dame, Caroline Svetla, verfaßt. Die Vorrede zur
0006deutschen Uebersetzung dieser Novelle schwelgt in Bewunde-
0007rung für die „Meisterschaft der Frau Svetla und ihre von
0008dem belebenden Hauche echter Begeisterung durchdrungenen,
0009für alle Zeiten bleibenden Romane“. „Der Leser,“ heißt es
0010weiter, „fühlt sich durch den trefflichen, von echt nationalem
0011Hauche durchwehten Styl und meisterhafte Erzählungskunst
0012mächtig angeregt.“ Ich bin dieser Leser nicht. Mich hat die
0013geschwätzige Breite, mit der eine winzige Begebenheit hier
0014behandelt ist, weniger „mächtig angezogen“ als sachte ge-
0015langweilt. Von speciell czechischem Volksgeist kann übrigens
0016kaum die Rede sein in einer Begebenheit, die ausdrücklich
0017an der sächsischen Grenze spielt, also unter der deutschen
0018Bevölkerung Nordböhmens. In Smetana’s Textbuch ist die
0019Localität gar nicht näher bezeichnet, konnte also glücklicher-
0020weise den Erfolg der Oper in Prag nicht beeinträchtigen.
0021Die ganze Handlung dreht sich lediglich um einen verweigerten
0022Kuß und könnte zur Noth von den beiden Hauptpersonen,
0023Marinka und Hanno, als Duodrama gespielt werden. Alle
0024Uebrigen haben mit der Handlung so gut wie nichts zu schaffen.


0025Der junge Bauer Hanno ist Witwer geworden und
0026freit um seine frühere Geliebte Marinka. Ihr Vater gibt
0027seine Einwilligung, meint aber, die Beiden werden nicht gut
0028zusammenpassen, da der eine Theil genau so eigensinnig sei
0029wie der andere. Das zeigt sich nur allzu schnell. Marinka ver-
0030weigert ihrem Verlobten einen Kuß. Sein Bitten, Ueber-
0031reden, Zürnen — und ihr standhaftes Zurückweisen zieht
0032sich durch die ganze Oper, von der ersten bis zur letzten
0033Scene. Marinka, eine grundehrliche Natur und peinlich
0034gewissenhaft, hängt fest an dem Volksglauben, daß es
0035die Grabesruhe der verstorbenen Frau störe, wenn der
0036Witwer seine neue Braut vor der Trauung küßt.
0037Hanno hat kein Verständniß für diesen Aberglauben, wird
0038zornig und rächt sich an Marinka, indem er vor ihrem
0039Fenster Musikanten aufspielen läßt, mit lustigen Mädchen
0040tanzt und schäkert. Durch diesen Hohn aufs tiefste gekränkt, 
0041flüchtet Marinka aus dem Hause zu einer alten Muhme,
0042die (wie alle alten Muhmen, Ammen, Beschließerinnen im
0043Schauspiel) Brigitta heißt und Helferin einer organisirten
0044Schmugglerbande ist. Es scheint, daß so ziemlich die ge-
0045sammte ehrenwerthe Einwohnerschaft vom Schleichhandel
0046lebt. „Die Alte,“ heißt es in der Erzählung, „sah in ihrem
0047Gewerbe durchaus nichts Anstößiges, und so wie sie denken
0048und urtheilen die Leute in unseren Bergen alle.“ Das
0049Haupt der Schmuggler, der alte Matusch (in der Oper
0050Steffan geheißen), wird in der Erzählung recht hübsch
0051charakterisirt: „Er steht an Sonn- und Feiertagen
0052immer unter der Kanzel. Kirche und Predigt — das
0053ist sein Element, er ist sehr gottesfürchtig. Deßhalb betreibt
0054er auch sein Geschäft nicht in der Fastenzeit und entsagt
0055dem Rauchen, damit der Himmel dafür wieder ihn schirme
0056und schütze.“ Auf Zureden Brigittens folgt ihr Marinka 
0057in Sturm und dunkler Nacht in den Wald. Dort übernimmt
0058Brigitta von dem frommen, nur zur Fastenzeit pausirenden
0059Steffan einen Pack geschmuggelter Waare und gelangt nach
0060einer ungefährlichen Begegnung mit einem Grenzwächter 
0061sammt ihrer geängstigten Begleiterin heil nach Hause. Dort
0062hat inzwischen Hanno, von Angst und Reue gefoltert, die
0063ganze Nachbarschaft zusammengerufen, um Marinka öffent-
0064lich Abbitte zu thun und sein Unrecht einzugestehen. Das
0065geschieht, und nachdem zur Abwechslung nun auch einmal
0066Hanno den ihm angebotenen Kuß verschmäht hat, löst sich
0067der Zwist zur allgemeinen Zufriedenheit. In der Original-
0068Erzählung benützt auch der alte Schmuggler die günstige
0069Feststimmung und heiratet seine Verbündete Brigitta. Es
0070gibt also eine Doppelhochzeit, um die wir leider in der Oper
0071verkürzt werden.


0072Ohne Zweifel bietet diese Dorfgeschichte günstige
0073Motive und Situationen für musikalische Behandlung.
0074Schlichte, durchwegs sympathische Charaktere, volksthümliche
0075Färbung, einfache, wahre Empfindungen. Hätte der Librettist
0076die ungebührlich ausgedehnten Dialoge entschlossen gekürzt
0077und die Scenen enger aneinander gerückt, so konnte „Der
0078Kuß“ ein gutes Textbuch werden. Aehnliches möchte ich
0079auch von der Composition sagen. Sie ist zwar in ihrer
0080jetzigen Ausdehnung überall gute Musik geblieben, mitunter
0081vortreffliche, reizende Musik, aber durch knappere Fassung
0082und sparsamere Wiederholungen würde sie noch erheblich ge-
0083wonnen haben. Man wird wol zunächst fragen, wie sich
0084Der Kuß“ zur „Verkauften Braut“ verhalte? Letztere steht 
0085an Werth und Wirkung höher, zunächst schon durch ihr leb-
0086hafteres, farbenreicheres Textbuch. Die Handlung der „Ver-
0087kauften Braut“ ist ja auch sehr einfach, aber nicht obendrein
0088ermüdend durch endlose Wiederholungen derselben Situation,
0089derselben Reden und Gegenreden. Sie hat eine recht gut
0090geschürzte Intrigue, die mit Hilfe zweier wirksamer komischer
0091Figuren — des Baßbuffo Kezal und des Tenorbuffo
0092Wenzel — lustig fortgesponnen und glücklich gelöst
0093wird. Wirksame Contraste, komische Rollen fehlen im
0094Kuß“; Rollen haben überhaupt nur Hanno und
0095Marinka. Auch für Chöre und größere Ensembles ist
0096hier beiweitem nicht so gut vorgesorgt, wie in der „Verkauften
0097Braut“. Letztere ist zehn Jahre früher componirt (1866)
0098als „Der Kuß“; für seine schwächere Wirkung möchte ich
0099aber keineswegs den Grund in verminderter Schaffenskraft
0100des Componisten, sondern hauptsächlich in den Mängeln des
0101Libretto suchen. Der Styl ist derselbe wie in der „Ver-
0102kauften Braut“: schlichte, volksthümliche, Musik; Lied,
0103Arie, Duette und Terzette, überall schön geformte, absolut
0104verständliche und einprägliche Melodien. Diese gesunde,
0105fast möchte ich sagen musikalische Musik verfällt weder in
0106das Extrem pathetischer Ueberschwänglichkeit, noch in jenes
0107possenhafter Trivialität. Die Begleitung maßt sich nirgends
0108die Oberherrschaft und das Commando über den Gesang
0109an, und doch verräth sie überall den gewiegten Harmoniker
0110und Contrapunktisten. Smetana ist ein Mann von Geist,
0111der es verschmäht, mit Absicht „geistreich“ zu reden. In
0112ihrem Charakter erinnert die Musik häufig an Mozart,
0113im zweiten Act auch an Weber. Ja einzelne Melodien, wie
0114Hanno’s D-dur-Andante: „Zu sühnen meine große Schuld“,
0115durchweht ein starker italienischer Hauch. Unseren jetzigen
0116Deutsch-Nationalen dünkt dies ein Verbrechen; mir scheint
0117es eher ein Vorzug. Welch schöne Plastik der Melodie, welch
0118reine, unverstörte Empfindung! Es wäre unseren deutschen
0119Operncomponisten recht sehr zu wünschen, daß sie manchmal
0120zu der klaren Quelle italienischer Musik pilgerten. Bald wird
0121man es auch den Italienern rathen müssen.


0122Der Kuß“ wie die „Verkaufte Braut“ liefern den
0123Beweis, daß auch in unserer Zeit Musik dramatisch sein
0124kann, ohne ihr selbstständiges Recht, ihr Vorrecht aufzu-
0125geben. Und ferner: daß auch in einfachster Form, in naivstem
0126Ausdruck Genialität sich äußern kann. Die Genialität czechi-
0127scher Künstler muß man sich freilich nicht als wesentlich
0128himmelstürmerisch, exaltirt, phantastisch, schrankenlos und [2]
0129trunken vorstellen; ein starker Beisatz von Solidität, von
0130ernster Zucht fehlt ihr niemals; sogar mit einem leichten,
0131schulmeisterlichen Geschmäckchen verträgt sie sich sehr gut.
0132Smetana liebt lang ausgesponnene Orgelpunkte, Reihen
0133von steifen Rosalienfolgen, gewisse contrapunktische
0134Künsteleien u. dgl. Es genirt ihn gar nicht, durch
0135viele Wiederholungen desselben Motivs oder durch langes
0136Festsitzen auf einem Grundaccord ein bischen philister-
0137haft zu erscheinen und uns ungeduldig zu machen. Ein
0138großer, heute seltener Vorzug ist der einheitliche Styl
0139in Smetana’s Oper; da ist kein Stück, welches das andere
0140Lügen straft, kein Zug, der eigenmächtig aus dem Rahmen
0141des Ganzen herausspringt. Ebenso ist die musikalische
0142Charakteristik der einzelnen Personen durch keinerlei raffinirtes
0143Zuviel auf die Spitze getrieben. Die Empfindungen des
0144Liebespaares steigern sich nur auf den Höhepunkten — zuerst
0145des Streites, dann der reuigen Verzweiflung — zu heftig
0146leidenschaftlichem Ausdruck. Die übrigen Personen bewegen
0147sich alle auf dem Niveau schlichter, etwas hausbackener Be-
0148häbigkeit. Die einzelnen Musikstücke im „Kuß“ sind nicht
0149von gleichem Werth; in manchen läßt sich der Componist
0150bequem gehen und begnügt sich, dem Text gemäß, mit
0151dem Passenden, Zweckmäßigen, ohne viel nach Bedeuten-
0152dem und Originellem zu suchen. Als schönste Nummer
0153der Oper erscheint mir das Wiegenlied der Marinka,
0154insbesondere vom Eintritt der A-dur-Melodie „Wie hell
0155am Himmel die Sterne auch steh’n“. Kräftige Fröh-
0156lichkeit belebt das Trinklied des Janusch; ein poltern-
0157der Humor im Geschmack der älteren komischen Oper
0158die Arie Zarkow’s „Wie ich gesagt“ mit ihren charakteri-
0159stischen Septimensprüngen. Echt dramatisch wirkt das erste
0160Finale durch den Contrast zwischen der Seelenqual der ge-
0161kränkten Marinka und dem rohen Tanzjubel vor ihrem
0162offenen Fenster. Im zweiten Act erfreut uns das auch in
0163der Ouvertüre anklingende Duett zwischen Hanno und
0164Janusch „Ach armer Freund“. Diesem sowie dem Polkathema
0165begegnen wir mit geringer Abweichung auch in Dvořak’s
0166Slavischen Tänzen“; beide Componisten schöpfen eben, bei
0167aller Selbstständigkeit, aus derselben Urquelle: dem Volks-
0168gesang. Auch das Frauenduett im Wald „Kind, was die
0169Lieb’ verlangt“ wirkt ansprechend in seiner altmodischen
0170Treuherzigkeit. Bedeutend im Sinne origineller Erfindung
0171oder technischer Meisterschaft wird Niemand diese und ähn-
0172liche Stücke im „Kuß“ nennen, aber ebensowenig dürfte 
0173sich Jemand dem wohlthuenden Eindrucke dieser naiven,
0174frischen und ehrlichen Musik entziehen. Was zu den gegen-
0175wärtigen, mitunter bis zur Ueberschätzung getriebenen Er-
0176folgen von Smetana’s Opern ganz wesentlich beigetragen
0177hat, braucht wol nicht ausdrücklich gesagt zu werden: es ist
0178die Uebermüdung nach der Wagner’schen Musik. „Die ver-
0179kaufte Braut“ und „Der Kuß“ legen sich wie linder Balsam
0180auf unsere durch Wagner zerrütteten Nerven.


0181Im „Kuß“ wirken unter Jahn’s Dirigentenstab die
0182frischesten Stimmen, die vortrefflichste Scenirung, das schönste
0183Ensemble zusammen, um diese Vorstellung zu einer Perle
0184unseres Repertoires zu machen. Ihr danken wir auch das Ver-
0185gnügen, Fräulein Renard wieder in einer neuen bedeutenden
0186Rolle gesehen zu haben. Sie sieht als Marinka bezaubernd
0187aus und singt die Partie ebenso schön, als sie dieselbe wahr
0188und ergreifend spielt. Marinka ist weder musikalisch noch
0189dramatisch so lohnend für die Sängerin, wie Manon 
0190oder Lotte; sie steht jedoch ebenbürtig neben diesen
0191beiden mit Recht gefeierten Leistungen der Renard.
0192Nennt man diese drei Rollen, Manon, Lotte und Marinka,
0193so hat man damit auch schon die überragende Bedeutung
0194Fräulein Renard’s und ihre Unersetzlichkeit an unserer Oper
0195constatirt. Die zweite Hauptrolle, Hanno, gibt Herrn
0196Schrödter reichlich Gelegenheit, durch seine jugendfrische
0197Stimme, warme Empfindung und lebhaftes, natürliches
0198Spiel zu wirken. Frau Forster, jederzeit eine hochwill-
0199kommene Erscheinung, ist es auch als Clara. Eine kleine
0200Partie, der aber, auffallend genug, das schwierigste Gesang-
0201stück in der ganzen Oper zugetheilt ist: das Lied am Ende
0202des zweiten Acts. Es bewegt sich in anhaltend hoher Lage
0203und schwierigen Intervallen, erfordert eine sichere Intonation
0204und geschmeidige Kehle. Frau Forster, welcher auch in
0205den Ensemble-Nummern wichtige Mitwirkung zufällt, hat
0206mit dem kleinen Lied stürmischen Applaus entfesselt. Den
0207Janusch singt und spielt Herr Ritter ganz ausgezeichnet.
0208Herr Grengg, dem wir immer gern ein Extralob für
0209seine deutliche Aussprache anhängen, ist ein vortrefflicher
0210Repräsentant des alten Zarkow. Endlich bilden Frau Kaulich 
0211(Brigitta), Herr Mayerhofer (Steffan) und Herr Schitten-
0212helm
(Grenzaufseher) wichtige und verdienstvolle Bestand-
0213theile des vortrefflichen Ensembles, welches diese Muster-
0214vorstellung auszeichnet. Der „Kuß“ wurde mit Enthusiasmus
0215aufgenommen, wie die zahlreichen Hervorrufe der Darsteller
0216nach jedem Act bewiesen.