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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10624. Wien, Donnerstag, den 22. März 1894

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Concerte.


0002Ed. H. Zwei sehr renommirte Künstler, der Violin-
0003Virtuose Thomson und der Sänger Bulss haben kürz-
0004lich hier ihr „Einziges Concert“ vor halbleeren Bänken ge-
0005geben. Andere namhafte Künstler (Emil Goetze, Maurel,
0006Nawiawsky) haben auch dieses angekündigte „Einzige Con-
0007cert“ nicht gegeben. Daraus könnten sanguinische Concert-
0008geber entnehmen, daß das Publicum sich bereits entkräftet
0009fühlt von der unbarmherzigen Concertgeberei, -geherei und
0010-presserei. Seit vielen Wochen beglücken uns allabendlich
0011wenigstens zwei Concerte, sehr häufig auch drei. Wenn die
0012Wiener Musikritiker nach dem Beispiel ihrer Berliner
0013Collegen sich entschließen sollten, täglich von drei Concerten
0014stückweise zu naschen, so erleben wir noch das erhebende Schau-
0015spiel, die Herren per Vélocipède vom Musikverein zu Ehrbar
0016und von da zu Bösendorfer sausen zu sehen. Zahl und Nei-
0017gung der Wiener Musikfreunde sind nun einmal nicht zu-
0018reichend für so massenhaftes Concertangebot. Am meisten leiden
0019die fremden Virtuosen darunter; die einheimischen wissen leichter
0020Zuhörer einzufangen, zahlende und blinde Passagiere, viel-
0021leicht auch taube. Und doch — wie Erstaunliches leistet heute
0022die Instrumental-Virtuosität! In den Dreißiger-Jahren
0023wurde als Phänomen bewundert, wer Moscheles’ Variationen
0024über den Alexandermarsch oder Hummel’s A-moll-Concert 
0025spielen konnte. Heute trifft das jeder bessere, nicht einmal
0026„preisgekrönte“ Conservatorist. Nur sind ihrer leider zu
0027viele; die Wunder der Virtuosität sind alltäglich geworden,
0028im Preise gesunken. Daß heute Jedermann sehr gut spielt,
0029dafür spricht beinahe schon die gesetzliche Vermuthung; wir
0030verlangen gar nicht, daß er uns in öffentlichem Concert
0031für unser Geld — vielleicht das Gegentheil beweise. Günstiger
0032stehen immer noch die Actien der Sänger und Sängerinnen;
0033dem Concert-Agenten ist ein passabler Tenorist viel lieber,
0034als der langfingerigste und langhaarigste Liszt-Spieler.
0035Bietet ein Gesangsconcert obendrein Neues, sei es
0036im Inhalt oder in der Form, so ist ein zahlreicher
0037Besuch ihm ziemlich sicher. Drei junge holländische Sänge-
0038rinnen, Jeannette de Jong, Anna Corver und
0039Marie Snyders, genossen sogar den seltenen Anblick
0040eines gedrängt vollen Saales. Frauenterzette, auch Duette 
0041hört man fast niemals in Concerten; es lockte also auch
0042das Programm der drei Holländerinnen als etwas Unge-
0043wohntes, Unverbrauchtes. Die Seele dieses Terzetts ist die
0044Sopranistin Jeannette de Jong — ein liebliches,
0045kluges Seelchen in einem zarten Mädchenkörper. Die Stimme,
0046von geringer Kraft, klingt süß und rein, dabei stets erfüllt
0047von Intelligenz und Empfindung. Darum erfreut Fräulein
0048de Jong — und sie allein — auch im Sologesang, wäh-
0049rend ihre im Trio vortrefflichen Partnerinnen wenig Ein-
0050druck machen im einstimmigen Lied. Der Mezzosopran von
0051Fräulein Corver, die Altstimme von Fräulein Snyders, an sich
0052von recht ausgiebigem jugendlichen Klang, haben etwas
0053Einfärbiges, Instrumentales, Unlebendiges. An ihrem
0054Vortrag vermißten wir nicht Schulung noch Verständniß,
0055aber beseelte Individualität. Die Empfindung, an der es ja
0056gewiß nicht fehlt, vermag nicht recht den Ton zu durch-
0057dringen; es liegt wie eine Fettschichte dazwischen, etwa
0058wie bei sehr vollwangigen Gesichtern, deren Musculatur
0059die feinsten Erregungen des Seelenlebens nicht wider-
0060zugeben vermag. Hingegen wirkten die Terzette der drei
0061Sängerinnen — sie singen Alles auswendig — durch voll-
0062kommene Reinheit und schönste Uebereinstimmung in der
0063Tonstärke. Das ist Alles bis in feinste Nuancen studirt,
0064ausgefeilt, ohne in leblose Correctheit zu verfallen. Ein
0065holländisches Terzett von Katharina van Rennes, das drei-
0066stimmige Wiegenlied von Cherubini, endlich ein köstlicher
0067Canon aus Martini’s „Cosa rara“ (aus dem knospend
0068schon der künftige Rossini hervorguckt) wirken mit dem
0069vollen Reiz der Neuheit. Auch einige Duette, insbesondere
0070Die Schwestern“ von Brahms, machten Furore. Die
0071Clavierbegleitung besorgte ganz vortrefflich Fräulein Julie
0072v. Asten, bekanntlich eine Wienerin, die im Publicum liebe
0073alte Erinnerungen erweckte.


0074Einige Verwandtschaft mit Jeannette de Jong hat die
0075junge Frau Bricht, unseren Musikfreunden als Fräulein
0076Agnes Pyllemann wohlbekannt. Ihre Stimme gleicht
0077ebenfalls einer flatternden Psyche, die sich einen Körper sucht.
0078Starke leidenschaftliche Accente sind ihrem Organ, ihrem
0079ganzen Naturell versagt. So lange sie sich auf Lieder von zärt-
0080licher oder neckischer Färbung beschränkt und in der Höhe
0081mit ihren sehr hübschen, feinen Kopftönen auslangen kann,
0082wird Frau Bricht-Pyllemann als intelligente
0083und anmuthige Sängerin stets sehr erfreulich wirken. In 
0084den Zwischennummern ihres Concerts bewährten sich die
0085Brüder Thern als die ausgezeichneten Alten. Ganz mili-
0086tärisch besitzt Jeder von ihnen seinen Ergänzungsbezirk im
0087Andern. ... Ein eigenes erfolgreiches Concert gab der Ba-
0088ritonist Herr Rudolph Oberhauser, ein geborener
0089Wiener. Ganz besonders gefiel sein warmer, kräf-
0090tiger Vortrag Löwe’scher Balladen. Auch ein speciell
0091„Slavischer Liederabend“, von Frau Bronislawa Wolska 
0092im Ehrbar-Saal veranstaltet, hat ein sehr dankbares Publi-
0093cum gefunden. Die Concertgeberin sang Volkslieder in allen
0094möglichen slavischen Sprachen und Mundarten. ... Er-
0095götzlich war der Anblick des Bösendorfer-Saales während
0096der Productionen des Gesangsquartetts Udel. Lauter
0097schmunzelnde, lächelnde, lachende Gesichter; eitel Fröhlichkeit
0098oben auf dem Podium, wie unten im Parquet. Es ist
0099nicht das bloße Bedürfniß nach heiterer Musik, sondern
0100ebenso sehr die musikalische Vortrefflichkeit dieses Männer-
0101quartetts, was den Andrang zu den Udel-Concerten erklärt.
0102Die vier Herren singen mit außerordentlicher Präcision, und
0103wenn Udel eine Solonummer vorträgt, so wirkt er mit
0104seinem starken komischen Talent für Vier.


0105Nachdem das „Böhmische Streichquartett“ sich
0106ruhmbedeckt von Wien verabschiedet hatte, bescheerte uns das
0107Quartett Rosé einen besonders interessanten Abend. Vorerst
0108vergönnte Herr Rosé dem D-dur-Quartett von Borodin,
0109das seit seiner Première, 1891, nicht wieder gehört worden
0110ist, eine zweite Aufführung. Mit gutem Recht; denn es ist
0111schade, wenn die wenigen guten Kammer-Compositionen neuester
0112Zeit nach ihrer ersten Aufführung für immer zurückgelegt
0113werden, wie es doch meistens geschieht. Es folgte als No-
0114vität — als einzige Novität in der ganzen Saison! —
0115ein bei Kistner in Leipzig gedrucktes Clavierquintett von
0116Anton Rückauf. Das Werk ist Brahms gewidmet und
0117dieser Auszeichnung würdig. Auch fühlt man ihm an, daß
0118es bei aller Selbstständigkeit sich am Geiste Johannis 
0119inspirirt hat. Ein ernstes Stück von schöner, übersichtlicher
0120Form und vornehmer Haltung. Theils leidenschaftlichen,
0121theils nachdenklich sentimentalen Charakters, trägt es überall
0122das Gepräge des Wahren, Empfundenen. Durchaus
0123modern, trachtet es doch nirgends durch blendende
0124Contraste oder angeblich dramatische Episoden zu wirken;
0125es hält bei aller Freiheit der Phantasie fest an den
0126natürlichen Gesetzen musikalischer Logik. Ueberaus glücklich [2]
0127erfunden ist gleich das Hauptthema des Allegrosatzes F-dur;
0128daneben klingt das zweite Thema in A-moll etwas leer,
0129stockend im Rhythmus, mehr verträumt als träumerisch. Die
0130Stelle des Scherzo vertritt ein bequemes Allegretto, das
0131nach einem beschleunigten interessanten Mittelsatz wiederholt
0132wird. Breit, gesangvoll legt sich das Adagio aus, meist im
0133Wechselgesang zwischen Clavier und Quartett. An diesen
0134tiefempfundenen Satz schließt sich unmittelbar das Finale
0135mit einem kräftigen, fanfarenmäßig auftauchzenden Thema.
0136Nach der lebhaften Durchführung erwartet man einen
0137frischen, glänzenden Abschluß. Statt dessen entwickelt sich
0138eine kunstreiche Fuge mit zwei Subjecten, welche dem
0139Componisten sicherlich mehr Mühe bereitet hat, als dem
0140Hörer Vergnügen. An der vortrefflichen Ausführung gebührt
0141Herrn Alfred Grünfeld das größte Verdienst. Wie
0142funkelten die aufsteigenden Scalen-Raketen und die langen,
0143feinen Trillerketten unter seinen Händen! Das Quintett 
0144hatte einen entschiedenen Erfolg. Herr Rückauf wurde
0145wiederholt gerufen und wird hoffentlich nicht so lange wie
0146bisher pausiren.


0147Zu den reinsten Genüssen dieser Musiksaison, ja zu den
0148unvergänglichen Eindrücken gehört d’Albert’s Vortrag des
0149D-moll-Concerts von Brahms bei den Philharmonikern.
0150Wie tief hat d’Albert diese in jedem Sinne schwere und
0151große Composition in sich aufgenommen, wie überwältigend
0152sie wiedergegeben! Höchste Virtuosität floß hier zusammen
0153mit einem eminent musikalischen Denken und starker Begei-
0154sterung für das vorgetragene Werk. Dieses selbst will genau
0155gekannt und ein wenig umworben sein. Seitdem es, zwar
0156nicht oft, aber doch im Laufe der letzten zehn Jahre einigemale
0157gehört worden ist, hat es, in seinen Eroberungen stetig vor-
0158schreitend, jetzt durch d’Albert vollständig gesiegt. Im selben
0159Concert hörten wir ein neues Scherzo von Goldmark.
0160Dieses glänzend instrumentirte, geistreiche Stück, das in
0161seinen Rhythmen und Farbenmischungen etwas an
0162das Scherzo von Mendelssohn’s A-moll-Symphonie 
0163und den „Sommernachtstraum“ erinnert, wird überall,
0164wo man ein virtuoses Orchester wie unser Philharmonisches
0165besitzt, Effect machen. Nur der Zusammenhang des Scherzos
0166mit dem einleitenden Andante sostenuto, einer dumpfen,
0167chromatischen Wehklage, wollte mir nicht klar werden. Fast
0168möchte ich letztere für einen nachträglich angefügten neuen
0169Goldmark halten, das Scherzo selbst für eine ältere Compo-
0170sition. Sämmtliche Programmnummern wurden — aus-
0171nahmsweise unter Leitung des Hofcapellmeisters J. N.
0172Fuchs — glänzend gespielt.


0173Mit einer stummen Verbeugung gehen wir diesmal an
0174Sarasate, Thomson, Frau Nicklaß-Kempner 
0175und anderen hier oft gehörten und besprochenen Concert-
0176gebern vorüber und wenden uns zu den Novitäten des
0177Wiener Männergesang-Vereins“. Die Fest-
0178ouvertüre von Karl Reinecke bewegt sich geschickt und
0179klangvoll in der Phraseologie der Weber’schen und Mendels-
0180sohn’schen Schule und mündet in einen Männerchor über
0181Schiller’s Gedicht „An die Künstler“. Dieser Schluß, mehr
0182äußerlich angeheftet, als organisch herausgewachsen, scheint
0183mir ebensowenig die Wirkung der Ouvertüre zu steigern,
0184als umgekehrt. Gleichfalls eine Gelegenheitsmusik in großem
0185Style ist Spohr’s Composition von Klopstock’s „Vater
0186Unser“, für Soli, Männerchor und Orchester. Einen
0187dauernden Platz im Repertoire der Gesangvereine dürfte
0188das Werk schwerlich erringen, auch in unserem Herzen nicht.
0189Nichtsdestoweniger danken wir Herrn Director Kremser für
0190diese Bekanntschaft, nach der wir längst neugierig ausgeblickt
0191haben. Während nämlich Spohr’s Composition des Mahl-
0192mann
’schen „Vater Unser“ sich großer Verbreitung und
0193Beliebtheit erfreute, ist seine Bearbeitung der Klopstock-
0194schen Paraphrase niemals gedruckt worden. Spohr hat letztere
0195im Jahre 1838 für das Frankfurter Liederfest zum Besten
0196der Mozart-Stiftung componirt und dort aufgeführt. Obwol
0197das Werk damals des Beifalles gewiß nicht ermangelt hat,
0198ist es unveröffentlicht und im Besitze der Leipziger Musikfirma
0199C. Leuckart geblieben. Trotz meiner Pietät für Spohr, dessen
0200Musik mit den schwärmerischen Empfindungen meiner Jugend-
0201zeit so enge zusammenhängt, habe ich sein „Vater Unser“
0202recht schwach gefunden. Die Musik ist nicht der rechte Spohr,
0203wie das Gedicht nicht der rechte Klopstock.*) Die dürftige
0211Erfindung steht in keinem Verhältnisse zu dem breiten Rah-
0212men dieser Composition und ihrem Aufwand an musikalischen 
0213Mitteln. Wir hörten hierauf das von Frau Basch-
0214Mahler
sehr beifällig gespielte G-moll-Concert von Men-
0215delssohn und Heuberger’s liebenswürdigen Männerchor
0216Herbst“. Die Schlußnummer konnte man als „Halbnovität“
0217bezeichnen. Es erschienen nämlich die von Kremser so effect-
0218voll bearbeiteten „Sechs altniederländischen Volkslieder“ zum
0219erstenmale mit verbindender Declamation, das heißt mittelst
0220eines historischen Leitfadens aneinandergedichtet. Das sechs-
0221malige plötzliche Herabfallen aus der idealen Region des
0222Gesanges in gesprochene Erzählung macht einen ernüchtern-
0223den Eindruck, an welchem die ausdrucksvolle Declamation
0224des Herrn Reimers gewiß keine Schuld trägt. Nothwendig
0225sind diese belehrenden Unterbrechungen gewiß nicht; eine
0226kurze Notiz auf dem Programme genügt zur Orientirung.
0227Die niederländischen Lieder wurden unter dankenswerther
0228Mitwirkung der Hofopernsänger Ritter und Dippel vom
0229Männergesang-Verein frisch und kraftvoll gesungen. Insbe-
0230sondere das „Kriegslied“ und „Berg-op-Zoom“, bewährten
0231neuerdings ihre zündende Wirkung.


0232Herrn Director Gericke danken wir die Wieder-Auf-
0233führung des seit mehreren Jahren nicht gehörten „Deutschen
0234Requiems“ von Brahms. Die meisten deutschen und
0235schweizerischen Musikstädte hören es alljährlich. Dieses Hohe
0236Lied der Trauer und der Tröstung prangt als ein unver-
0237gängliches Denkmal in der Geschichte der modernen Kirchen-
0238musik, deren Gipfelpunkt es bildet. Keine geistliche Ton-
0239dichtung kenne ich, die gleich mit ihren ersten Tacten uns
0240so tief ergreift — und unmittelbar darauf („Denn alles
0241Fleisch ist wie Gras“) so gewaltig erschüttert, wie dieses
0242Deutsche Requiem“. Wer diese zwei Sätze geschrieben hat
0243und dazu das Sopransolo „Ihr habt nun Traurigkeit“, der
0244gehört zu den Größten. Das Publicum, das alle Räume
0245des Musikvereinssaales füllte, lauschte dem Werke mit weihe-
0246voller Andacht, wie einem Gottesdienste. Alle Mitwirkenden,
0247Director Gericke und die tapferen Mitglieder des „Sing-
0248vereins“ voran, schienen von der gleichen starken Empfindung
0249beseelt. Frau Baronin Leonore Bach, ein lichter, tröstender
0250Seraph an Erscheinung und Stimme, sang das schöne
0251G-dur-Solo, und Herrn Ritter’s warmer, dabei maßvoller
0252Vortrag eröffnete uns die frohe Aussicht, in diesem vortreff-
0253lichen Theatersänger auch eine Kraft für das Oratorium
0254emporwachsen zu sehen.

Fußnoten
  • *)Die zweite Strophe des Klopstock’schen Gedichtes lautet:
    Er, der Hocherhabene, /
    Der allein ganz sich denken, /
    Seiner ganz sich freuen kann, /
    Machte den tiefen Entwurf /
    Zur Seligkeit aller seiner Weltbewohner. /
    „Zu uns komme dein Reich.“ /