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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10629. Wien, Mittwoch, den 28. März 1894

[1]

Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich.“


0002Ed. H. Unter diesem Titel, gewissermaßen als eine
0003Fortsetzung der österreichischen „Kaiser-Compositionen“, er-
0004scheint ein groß angelegtes, musikalisch wie patriotisch hoch-
0005bedeutendes Werk, auf welches wir die Aufmerksamkeit
0006unserer Leser lenken möchten. In zwei prachtvoll ausge-
0007statteten Halbbänden liegt der vielversprechende Anfang
0008dieses neuen, mit Unterstützung des kaiserlichen Unterrichts-
0009ministeriums begründeten Unternehmens vor uns. Die
0010Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich
0011verfolgen den Zweck, hervorragende, aus dem Handel ver-
0012schwundene oder nie gedruckte Compositionen österreichischer
0013Tondichter allmälig zu veröffentlichen. Es ist ein Ruhmes-
0014titel unserer musikalisch weniger schöpferischen Epoche, daß
0015sie die Werke älterer bedeutender Componisten der Kunst
0016und der Kunstwissenschaft von neuem erobert. Wir besitzen
0017in stattlichen Gesammt-Ausgaben die Werke von Se-
0018bastian Bach, Händel, Heinrich Schütz; nicht lange wer-
0019den wir auf Gluck und Haydn zu warten haben.
0020Es galt nun, eine Schichte tiefer zu graben und
0021weniger bekannte, hervorragende Meister des sechzehnten,
0022siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, zwar nicht mit
0023ihren sämmtlichen Werken, aber in gediegener Auswahl ans
0024Licht zu ziehen. Im Auftrag der preußischen Regierung ist
0025kürzlich die Herausgabe von Denkmälern deutscher Ton-
0026kunst begonnen und der Leipziger Firma Breitkopf & Härtel
0027in Verlag gegeben worden. Von diesem Vorgang ange-
0028spornt, haben sich einige hiesige Musikgelehrte, Kenner und
0029Künstler zusammengethan, um Aehnliches für die Werke
0030älterer Componisten zu schaffen, welche entweder in Oester-
0031reich geboren oder vorzugsweise hier thätig gewesen sind.
0032Leiter des ganzen Unternehmens ist Professor Guido
0033Adler
, der auch die erste Anregung dazu gegeben und sich
0034bereits durch die Herausgabe der „Kaiser-Compositionen“ 
0035als Musikforscher und Geschichtschreiber mit Auszeichnung be-
0036währt hat. Außer Professor Adler bilden die leitende Commission
0037der „Gesellschaft zur Herausgabe von Denkmälern der Ton-
0038kunst in Oesterreich“ Johannes Brahms, August
0039Artaria, Hanns Richter, Hofrath v. Hartel, Dr.
0040Albert v. Hermann, Baron Weckbecker, Professor
0041Mühlbacher und der Schreiber dieser Zeilen. Die
0042Commission erfreut sich der werthvollen Mitwirkung der
0043Herren: Hofcapellmeister J. N. Fuchs, Johann Ev.
0044Habert, Oswald Koller, Joseph Labor, Eusebius
0045Mandyczewski und Dr. Heinrich Rietsch. Den
0046Verlag der „Denkmäler“ hat die Kunsthandlung Artaria 
0047in Wien übernommen, deren Name mit der classischen
0048Blüthezeit unserer Musik innig verknüpft ist. Die wahrhaft
0049fürstlich ausgestatteten Bände stammen aus der Wiener
0050Notenstecherei Eberle & Comp. — eine sehr bemerkens-
0051werthe Thatsache, denn seit Decennien war in Wien der
0052Notenstich in Verfall gerathen und sind die meisten in
0053Wien componirten und in Wien verlegten Musikalien —
0054in Leipzig gestochen.


0055Den Ausgangspunkt und Grundgedanken des ganzen
0056Unternehmens finden wir in der Vorrede klar ausgesprochen.
0057In Oesterreich liegt ein überreicher Schatz ruhmwürdiger
0058Tonwerke der Vergangenheit. Am kaiserlichen Hofe in Wien,
0059in den Capellen zu Prag, Innsbruck, Salzburg, Graz, an
0060den Bischofssitzen, in vielen Klöstern, in adeligen und
0061bürgerlichen Häusern herrschte zu verschiedenen Zeiten ein
0062reges Kunstleben, von welchem kostbare Denkmale Zeugniß
0063geben. Insbesondere die kaiserliche Hofcapelle in Wien,
0064welche neben dem Kirchendienste auch Opern- und Kammer-
0065musik zu besorgen hatte, wurde seit Kaiser Maximilian I.
0066ein leuchtender Spiegel der besten abendländischen Kunst.
0067Hier trafen sich Künstler aller Länder, oft die besten ihrer
0068Zeit, um sich Ruhm und Verdienst zu schaffen. In dem
0069unvergänglichen Werth ihrer Werke liegt für uns die Ver-
0070pflichtung, sie der Vergessenheit zu entreißen, nicht blos der
0071geschichtlichen Erkenntniß wegen, sondern auch zu lebendiger 
0072Anregung unserer Künstler und Musikfreunde. Die „Denkmäler
0073der Tonkunst“ sollen ein Bild von jeder Kunstepoche schaffen durch
0074Auswahl ihrer hervorragendsten Werke geistlichen und weltlichen
0075Styls. Durch volle vier Jahre wurden unter liberaler Unter-
0076stützung des Unterrichtsministeriums Vorarbeiten zu den
0077Denkmälern“, unternommen, bevor der jetzt vorliegende
0078erste Band erscheinen konnte. Es war keine leichte Aufgabe,
0079das Unternehmen in Gang zu bringen. Wie viele Eingaben,
0080wie viele Anfragen im Interesse der Bibliographie mußten
0081gemacht werden! Wie mühsam, zu constatiren, was Alles in
0082Oesterreich sich befindet! Das überraschend günstige Resultat
0083dieser Nachforschungen verdanken wir vornehmlich der Sach-
0084kenntniß und dem unermüdlichen Eifer des Professors
0085Guido Adler.


0086Betrachten wir uns jetzt das Werk selbst. Von den
0087beiden bis jetzt vorliegenden Halbbänden enthält der erste
0088vier Messen von Johann Joseph Fux, dem hochberühmten
0089Hofcapellmeister der Kaiser Leopold I., Joseph I. und
0090Karl VI. Er war in Steiermark geboren und hat sich
0091namentlich als Theoretiker durch seinen „Gradus ad Par-
0092nassum“, aus dem alle unsere großen Meister die Compo-
0093sition erlernt haben, ein Denkmal gesetzt. Nicht geringeren
0094Ruhm genoß er aber seinerzeit als fruchtbarer Componist
0095kirchlicher und weltlicher Musik. In dieser Eigenschaft ist
0096Fux heute beinahe verschollen. Herr Johann Ev. Habert,
0097eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete der Kirchenmusik,
0098spricht in einem Vorworte die begründete Hoffnung aus,
0099daß die Messen von Fux, den man heute in weiten Kreisen
0100nur mehr als Lehrer des Contrapunkts kennt, durch diese
0101Ausgabe vielfach ihre Auferstehung auf den Kirchenchören
0102feiern werden. Daß sie heute noch lebensfähig sind, beweist
0103die wiederholte Aufführung der „Missa canonica“ in den
0104letzten Jahren.


0105Im zweiten Halbband der „Denkmäler“ gelangt wie-
0106der die weltliche Musik zu ihrem Rechte, und zwar mit
0107tanzartigen Instrumentalstücken von Georg Muffat.
0108Dieser Meister stammt von einer englischen, im sechzehnten [2]
0109Jahrhundert ausgewanderten Familie und ist wahrscheinlich
0110in Deutschland geboren. Er hat jedoch lange in Wien,
0111Salzburg und in Passau gewirkt, wo er 1704 starb. Sein
0112in unseren „Denkmälern“ abgedrucktes „Florilegium pri-
0113mum“ (erste Blumenlese) für Streichinstrumente ist compo-
0114nirt, als Bach und Händel geboren wurden. Die Redaction
0115dieses Bandes hat Herr Dr. Heinrich Rietsch übernom-
0116men, ein junger Musikgelehrter, den wir bald als Docenten
0117an unserer Universität zu begrüßen hoffen. Georg Muffat 
0118ist in doppelter Hinsicht von musikhistorischer Bedeutung:
0119er hat einerseits die süddeutsche katholische Orgelkunst
0120zu hoher Blüthe gebracht, andererseits die weltliche Instru-
0121mentalmusik wesentlich gefördert auf ihrem Entwicklungs-
0122gange, zumal in deutschen Landen. Muffat steht hier zunächst
0123unter dem Einflusse der Franzosen, speciell Lully’s, in
0124zweiter Linie erst der Italiener. Sechs Lehrjahre hatte er
0125in Paris zugebracht, und als er später in Salzburg Muße
0126und Sammlung zum Schaffen fand, trieb es ihn, auf dem
0127Gebiete der Streichmusik seinem Vorbilde Lully nachzueifern.
0128Der größte Theil der später von ihm in Passau veröffent-
0129lichten Werke ist schon in Salzburg geschaffen worden.
0130Muffat erzählt uns selbst die Entstehungsgeschichte seiner
0131beiden „Florilegien“. Er war schon in Salzburg als „adju-
0132tante di camera“, dann in Passau als Edelknaben-Hofmeister
0133mitten in das Hofleben hineingestellt worden und mußte
0134somit den Bedarf für die fürstlichen Ergötzlichkeiten
0135liefern, also zunächst für das adelige Liebhaber-
0136theater und dessen Ballette, dann aber auch für
0137Kammer-, Tafel- und Nachtmusik. Das „Florilegium“
0138enthält in seinen beiden Theilen 112 Stücke, meist Tänze
0139von gedrungener Kürze, die nach Tonarten zu Partien (Fas-
0140ciculi, Partite, Parties) zusammengelegt sind. Das Wiener
0141Publicum wird in dem Conservatoriums-Concert vom
01422. April Gelegenheit haben, einen Theil des Muffat’schen
0143Florilegium“ zu hören und sich zu überzeugen, daß es sich
0144hier nicht um einen antiquarischen Leckerbissen, sondern um
0145eine zwar alte, aber charakteristische und gefällige Musik
0146handelt. Ein späterer Band der „Denkmäler“ wird auch das 
0147zweite „Florilegium“ von Georg Muffat und dessen Concerte 
0148bringen, dann die „Componimenti“ von seinem Sohne, dem
0149kaiserlichen Hoforganisten Theophil Muffat. In Vorbereitung
0150sind ferner Werke von Jacobus Gallus (Hendel), Cal-
0151dara
, Froberger, Motetten und Hymnen von Fux,
0152endlich die berühmten „Trienter Codices“ aus dem
015315. Jahrhundert. Durch den Ankauf dieser höchst werthvollen
0154handschriftlichen Sammlung hat das österreichische Unter-
0155richtsministerium der Forschung die Möglichkeit verschafft,
0156über die Musikgeschichte des 15. Jahrhunderts neues Licht
0157zu verbreiten.


0158Es wäre zu wünschen, daß die kunstgebildeten Kreise
0159nicht blos Oesterreichs, sondern aller großen Culturvölker
0160sich für diese Publication werkthätig interessiren, stand doch
0161die österreichische Tonkunst jederzeit in lebhaftem Verkehr
0162mit allen musikalischen Nationen, und werden die „Denk-
0163mäler“ auch Werke von ausländischen Künstlern umfassen,
0164die in Oesterreich gewirkt haben. Schon die „Trienter
0165Codices“ enthalten Compositionen von Deutschen, Italienern,
0166Franzosen, Niederländern, Engländern; speciell mit Spanien 
0167hat Oesterreich durch seine Dynastie sehr lebhafte künstlerische
0168Beziehungen unterhalten. Die Fortführung dieses großen
0169Unternehmens wird keine geringe Arbeit und Opferwilligkeit
0170erfordern, die Gesellschaft geht aber frohen Muthes ans
0171Werk, seit Se. Majestät der Kaiser ihr in huldreichsten
0172Worten seine Anerkennung ausgesprochen und sich an die
0173Spitze der Förderer gestellt hat.


0174Die Ehrenpforte, durch welche wir zu dem größeren
0175Unternehmen der „Denkmäler“ gleichsam durchgedrungen
0176sind, bildeten die „Kaiserwerke“. („Musikalische Werke der
0177Kaiser Ferdinand III., Leopold I. und Joseph I. Im Auf-
0178trage des k. k. Ministeriums für Cultus und Unterricht
0179herausgegeben von Professor Guido Adler. Verlag von
0180Artaria in Wien.“) Ueber den ersten Band hat die „Neue
0181Freie Presse“ im Jahre 1892 ausführlich berichtet. Seither
0182ist der zweite Band erschienen, welcher culturhistorisch noch
0183interessanter und für weitere Kreise noch anziehender sich
0184darstellt. Während nämlich der erste Band ausschließlich 
0185Kirchen-Compositionen enthielt, bietet uns der zweite welt-
0186liche Stücke, Tänze, Arien aus Opern und Oratorien in
0187deutscher, italienischer und spanischer Sprache. Von den drei
0188Kaisern, deren Compositionen diesen Band füllen, ist natür-
0189lich Leopold I. weitaus am reichlichsten vertreten. Er war
0190in der That von erstaunlicher Productivität. Bei dem
0191durchgreifenden Einfluß, den das italienische Element in
0192der Erziehung Leopold’s und in der damaligen Musik
0193selbst behauptete, ist es überraschend, daß der Kaiser 
0194auch deutsche Singspiele componirte. Unser Band
0195hält deren zwei: „Die vermeinte Brüder- und Schwester-
0196liebe“ und „Der thörichte Schäffer“.*) Nicht weniger als
0210sechzig Opernarien und Lieder des Kaisers enthält der Band;
0211die meisten verbinden Witz und Anmuth mit vollkommener
0212Beherrschung des dramatischen Ausdrucks. Besonders inter-
0213essant und bezeichnend für den Humor des Kaisers sind
0214zwei Arien des ruhmredigen Pyrophrastes, in denen, nach
0215damaligem Hofbrauch, deutsche, französische, italienische und
0216spanische Brocken durcheinander gemengt sind.**) In den [3]
0226Suiten und Tänzen (Balletti) von Leopold I. herrscht die
0227ruhige Manier seiner Zeit und eine mitunter überraschend
0228geschickte Baßführung. Alle möglichen Tänze sind da vertreten.
0229Von Ferdinand III. erhält der zweite Band nur zwei
0230Werke: ein vierstimmiges „Madrigal“ (mit fein ironischer
0231Behandlung des Textes über die Nichtigkeit des menschlichen
0232Daseins) und drei hübsche Gesangstücke aus dem „Drama
0233Musicum“. Letzteres ist bemerkenswerth schon ob seiner histo-
0234rischen Stellung als eines der ersten „musikalischen Dramen“,
0235das (1649) auf deutschem Boden entstand in Nachahmung
0236der neu eingeführten italienischen Oper. Unserm Kunst-
0237geschmack näher stehen die Compositionen von Kaiser
0238Joseph I., dessen Arien aus dem Anfang des 18. Jahr-
0239hunderts den Einfluß Alessandro Scarlatti’s verrathen. Noch
0240anheimelnder berührt uns die Lauten-Arie von Joseph I.,
0241ein reizendes Stück von leicht österreichischem Anflug.
0242Als Anhang folgen Variationen von dem kaiserlichen Hof-
0243Organisten Wolfgang Ebner über ein Thema von Kaiser
0244Ferdinand III. Es ist erstaunlich, wie weit damals
0245(1648) schon die Kunst der Variationen in Süddeutschland 
0246gediehen war — 36 Variationen, und jede verschieden und
0247eigengeartet. Den Variationen ist das schöne Titelbild mit
0248dem Thema des Kaisers (von dem berühmten Prager Maler
0249Karl Skreta) vorgedruckt. Um die Redaction dieses sehr
0250reichhaltigen Bandes haben sich außer dem Herausgeber
0251Professor Adler noch die Herren Joseph Labor, Baron
0252Wilhelm Weckbecker und Albert Ritter v. Hermann 
0253besonders verdient gemacht durch die geschickte und künstlerisch
0254feine Ausführung des Basso continuo.


0255So bietet denn auch dieser zweite Band der „Kaiser-
0256werke“ neben seinem musikalischen auch ein eminent cultur-
0257historisches Interesse. Seltsam, ja beschämend darf man es
0258nennen, daß 200 Jahre verfließen mußten, bis diese Werke
0259veröffentlicht wurden und die Welt einen Einblick gewann
0260in das musikalische Schaffen der habsburg’schen Dynastie.
0261Oesterreich darf stolz sein auf dieses würdige und schöne
0262Denkmal einer sich forterbenden künstlerischen Thätigkeit,
0263welche in der Culturgeschichte einzig dasteht.

Fußnoten
  • *)Eine Probe aus letzterem mag zeigen, wie es mit der deutschen
    Sprache bestellt war. Eine Schäferin beklagt das Schicksal der in einen
    Lorbeerstrauch verwandelten Daphne:
    Schäfferin: Dafne, wo bist du zu finden? /
    Was verbirgt dich? /
    Was thuet dich verhellen? /
    Daphne: Die Loorber Aeste mich /
    Deinen Augen stellen. /
    Schäfferin: O unglückselige /
    Ist es wohl zu ergrinden? /
    Ein unerhörte Gschicht, /
    Das du zum Stocke wirst, /
    Verlierst der Augen Liecht. / etc.
  • **)„Amor care, /
    Petit, petit garçon, /
    Donne moy tanta fortezza /
    De quitarle la cabeza /
    Meinem Feind zu seinem Lohn — /
    Million tausend Coups de baston, /
    Donec dicat au me, au me! /
    Da wird’s heißen Misero me, misero me, /
    Ho perdido el corazon.“ /