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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10691. Wien, Mittwoch, den 30. Mai 1894

[1]

Aus Briefen von Billroth. IV.


000220. October 1888.*) 
0005Ich nahm den „Fall Wagner“ zur Hand. Nach wenigen
0006Seiten fiel mir ein Ausspruch Wundt’s ein über die Sprache
0007der Thiere: „Sie unterscheidet sich dadurch von der mensch-
0008lichen Sprache, daß sie sich nie in „Interjectionen“ äußert.“
0009Als ich dies zuerst las, fiel mir Wagner’sche Musik ein,
0010als ich jetzt Nietzsche las, fiel mir mein Puffy und mein
0011guter Nero ein, beide augenblicklich höchst verständige, ge-
0012sunde Menschen im Vergleich mit diesem nervösen Kläffer
0013Nietzsche. Was sich der Kerl nur einbildet, daß er es wagt,
0014solchen Blödsinn drucken zu lassen! „Zweite Auflage,“ das
0015ist allerdings ein Beweis unserer Decadence im literarischen
0016und künstlerischen Geschmack.


0017Nietzsche ist heute mehr Wagnerianer als je, und wird
0018es morgen wieder reuig bekennen; er ist philosophischer —
0019verzeih’ das harte Wort — Schauspieler, wie er Wagner 
0020einen musikalischen Schauspieler nennt.


00216. Februar 1889.
0022Ein ordentlicher Mensch sollte doch eigentlich am Morgen
0023des Aschermittwoch einen ordentlichen Katzenjammer haben.
0024Leider ist das bei mir nicht der Fall, und so bin ich kein
0025ordentlicher Mensch.


0026Ich habe eine grenzenlose Sehnsucht „hinaus“. Mehr
0027als zwei Monate hält meine Spannkraft für Beruf und
0028Amt nicht mehr aus, dann muß ich wieder einige Wochen
0029„Mensch“ sein. Je älter ich werde, um so mehr kommt
0030mir unsere moderne Concentration auf einen Lebensberuf
0031und unser Specialitäten-Broterwerb als eine geistige Ver-
0032krüppelung vor, etwa wie ein Zwerg mit einem Riesen-
0033arm. — Daß mich armen fetten Hamlet das Geschick in
0034eine Sphäre des Handelns hineingeworfen hat, ist doch brutal.


00351. Juni 1889.
0036Ich hätte die „Götzendämmerung“ von Nietzsche wol
0037nicht zu Ende gelesen, wenn sie mich nicht im Zusammen-
0038hang einer gewissen Richtung unserer modernen Literatur und
0039Kunst interessirt hätte. Mir erscheint dies Buch als das
0040Product eines Geisteskranken, und es war mir interessant,
0041daß Nietzsche schon einmal im Irrenhause war, daß man
0042ihn von seiner Professur in Basel delogirt hat und daß er
0043jetzt, wie ich höre, wieder in einer Anstalt für Nervenkranke
0044ist. Die Stimmung, aus welcher das Buch geschrieben ist,
0045ist mir wohl bekannt. Ich habe sie auch durchgemacht, und
0046aus ihr stammen einige meiner Lieblings-Paradoxen, z. B.
0047„Die Lüge ist die festeste Basis der Moral“ oder „Der
0048Absolutismus ist die einzige vernünftige Staatsform, voraus-
0049gesetzt, daß ich das Absolute bin“ u. s. w. Diese Freude
0050am moralischen, psychologischen, socialen Nihilismus liegt
0051hinter mir; es ist ein gar billiges Vergnügen, Alles zu ver-
0052schimpfiren. Nietzsche charakterisirt sich selbst sehr treffend,
0053wenn er sagt: „Es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel,
0054zu schimpfen; — es gibt einen kleinen Rausch von Macht!“
0055Er ist selbst so ein armer Teufel; impotent, etwas Posi-
0056tives zu schaffen, verschimpfirt er Alles. Sein positives
0057„Kraftideal“ hat eine frappante Aehnlichkeit mit Hebbel’s
0058und Nestroy’s Holofernes. Vae victis. Er sagt, er sei ein
0059Feind des Kritisirens und kritisirt Alles. Was er kritisirt
0060und wie er kritisirt, ist hundertmal besser und feiner gesagt.
0061Seine „Götzendämmerung“ hat eine unleugbare Verwandt-
0062schaft mit dem berüchtigten Buch „Conventionelle Lügen“.
0063Beide sind schlechte Bücher. — Dostojewsky ist sein Ideal;
0064mich wundert, daß er sich entgehen ließ, für Ibsen zu schwär-
0065men. Wie kann so ein ekler, gemeiner Kerl von „vornehm“
0066sprechen. Er möchte „Dionysos“ sein, doch kein Bildhauer
0067wird ihn als jungen Dionysos wegen seiner Schönheit ver-
0068ewigen. Weil er „krank“ ist an Leib und Seele, hält er
0069alles Gesunde im Menschen für Krankheit, Fortschritt für
0070Decadence, Freiheit für Imbeciletät, alles Edle für Greisen-
0071thum. — Das geistreich Paradoxe kann manchen jungen
0072Menschen verblüffen, halb Gebildete irremachen. Darum ist
0073er ein verderblicher, schlechter Mensch, gegen welchen, wie 
0074gegen die ganze Richtung Alle, die es mit den Menschen
0075gut meinen, in geschlossener Phalanx Front machen müssen.
0076— Er kokettirt bald da, bald dort mit der Natur und den
0077Naturwissenschaften, und versteht doch nichts davon. Es ist
0078lächerlich, daß diese Art von Leuten ganz übersehen, daß
0079ebenso viel Gutes wie Schlechtes für das Kunstwerk der
0080menschlichen Gesellschaft aus dem Wesen der organischen
0081Natur des Menschen hervorgehen kann, und daß es darauf
0082ankommt, das Gute zu fördern und als Ideal zu erstreben,
0083im Sumpf des Schlechten möglichst wenig zu rühren, damit
0084die inficirenden Miasmen nicht aufsteigen. Seit ich Ibsen’s
0085Stützen der Gesellschaft“ sah, hat mich nichts so angeekelt
0086wie diese „Götzendämmerung“. Das Schlechte im Menschen
0087sieht und erfährt Jeder im Leben genügend. Das Gute im
0088Menschen zu zeigen und als Beispiel und Maßstab hin-
0089zustellen, ist doch die edlere Aufgabe der Literatur und Kunst.
0090Die Aufdeckung des Guten im Menschen enthält ebenso viel
0091„Wahrheit“, wie die Aufdeckung des Schlechten. Schon lange
0092drängt es mich, für das Gute und Schöne der Menschen
0093eine Reihe von Essays in die Welt zu schleudern, doch ich
0094bin nicht stark genug, um zu sagen: „Was schert mich Weib,
0095was schert mich Kind!“ Ich muß vorläufig arbeiten, arbeiten.
0096Und würde ich alt genug, darüber hinauszukommen —
0097dann wird es mir an Kraft fehlen, zu sagen und zu ge-
0098stalten, was so nöthig zu sagen wäre. Ich schrieb dir schon
0099früher einmal, daß dieser Nietzsche immer Wagnerianer
0100bleibt, so oft er auch Wagner verleugnen mag. Er betet nur
0101sich an und seine Manneskraft. Es muß aber schwach damit
0102bestellt sein, sonst würde er nicht so viel davon reden.


0103Doch genug — vielleicht schon zu viel von diesem Kerl,
0104der überhaupt nur als ein gewisser ausgeprägter Typus
0105unserer Zeit Beachtung verdient.


0106Helenenthal bei Baden, 15. October 1889.
0107Es hat mich wirklich lange nichts so verstimmt, als
0108daß ich gestern nicht mit euch euren Laurencin feiern konnte
0109und heute Abends nicht mit euch so recht vom Herzen
0110harmlos in den „beiden Schützen“ lachen kann; es ist gerade
0111zehn Minuten vor 7 Uhr Abends; ich vermuthe, du trittst
0112gerade mit Sophie in die Loge. Schrödter muß in der [2]
0113Tenorbuffo-Partie sehr lustig sein; auch erinnere ich mich
0114dunkel eines Ensemblestückes, das im Dunkeln spielt, und
0115daß es ein Verwechslungslustspiel älteren Geschmacks ist;
0116ich sah die Oper mit fabelhaftem Entzücken als Gymnasiast
0117in Greifswald etwa so um 184648, dann erst wieder hier
0118in der Komischen Oper; mir schien, es fehlten hier damals
0119die richtigen Sängerschauspieler; doch war ich wol ein Anderer
0120geworden; und wie es heute in dem großen Hause wirkt oder
0121nicht wirkt, daran mag ich gar nicht denken; es hat doch etwas
0122Trauriges, wenn wir über Empfindungen, die für uns in
0123der Jugend zu den glücklichsten gehörten, im Mannesalter
0124mitleidig die Achsel zucken. So ist’s auch mit der Liebe und
0125vielem Andern. — Eigentlich sollten wir Alten über uns
0126selbst die Achsel zucken; denn es gibt gar nichts mehr für
0127uns, wofür wir uns so begeistern, in Haß oder Liebe so
0128erhitzen könnten, wie wir es oft genug um nichts in der
0129Jugend gethan haben. Eigentlich ist doch schließlich gleich-
0130giltig, wodurch wir warm werden, denn das Hauptver-
0131gnügen und das Glück besteht doch nur im Warm-
0132werden selbst
. Daß man immer schwerer warm wird,
0133je näher man den Siebzigern kommt, das ist freilich eine
0134Schweinerei, wie du dich hyperbolisch ausdrückst. Doch —
0135um in der Hyperbel zu bleiben — es ist mindestens eine
0136Sauerei und eine hundsföttische Schinderei, wenn man beim
0137Altwerden nach und nach immer häufiger daran gemahnt
0138wird, daß man sich bald nach dieser, bald nach jener Rich-
0139tung hin in Acht nehmen muß, wenn man überhaupt noch
0140etwas leisten will. Leider bin ich in diesem Falle.


0141Nun weiß ich, daß es für mich kein besseres und
0142schneller wirkendes Heilmittel gibt, als frische Luft. Sem-
0143mering, Kahlenberg, Baden kamen rasch in Erwägung; ich
0144entschloß mich schnell für „Hotel Sacher“ im Helenenthal,
0145und bin sehr zufrieden mit meiner Wahl. Schon gestern
0146Morgens wachte ich besser auf; heute geht es mir schon
0147ganz erträglich.


0148Gestern machten wir eine Fahrt nach Mayerling. Das
0149kleine, mit einer Art Kirchhofmauer umgebene Schloß (jetzt
0150kleines Kloster mit Capelle) liegt trostlos in einer unglaublich
0151reizlosen Gegend; es läßt sich in hiesiger Gegend kaum 
0152etwas Nüchterneres denken. Und welche Stürme von Empfin-
0153dungen sind in den Herzen von Tausenden von Menschen
0154mit elementarer Gewalt losgebrochen durch die erschüttern-
0155den Ereignisse, welche sich in diesen faden, reizlosen Gebäu-
0156den, in dieser nüchternen, kalten, gefühllosen Gegend ab-
0157spielten. Es thut mir fast leid, Mayerling gesehen zu haben;
0158jeder Nimbus von tragischem Verhängniß, welcher den so
0159hochbegabten jungen Fürstensohn noch umgab, ist durch die
0160öde Prosa seiner Todtenstätte für mich fast verschwunden.


016123. October 1889.
0162Endlich komme ich nach und nach wieder ins Geleise.
0163Meine Stimme ist so weit hergestellt, daß ich zwei bis drei
0164Stunden hinter einander vortragen und operiren kann. Auch
0165fange ich an, mich wieder daran zu gewöhnen, die Hälfte
0166des Tages mit kranken, hilfesuchenden und oft hoffnungslos
0167verlorenen Menschen zu verkehren, Wahrheit und Lüge so
0168mit einander zu wechseln, wie der routinirteste Theater-
0169Coulissenschieber die Decorationen wechselt. Meinen Schülern
0170nackte Wahrheit aus Pflicht — meinen hoffnungslosen
0171Kranken nackte Lüge aus Pflicht der Humanität.


0172Ach, ihr beneidenswerthen Menschen, die ihr nur der
0173Wissenschaft und Kunst leben dürft, diesen reizenden Deco-
0174rationen unseres traurigen socialen Lebens! Am Ende meines
0175Aufenthaltes in St. Gilgen komme ich auch wol in die
0176Stimmung, es könnte mir wol so wohl gehen wie euch, die
0177ihr euch doch nur meist um eure Empfindungen und Ge-
0178danken kümmert. Doch kaum in meinen Wirkungskreis hieher
0179zurückgekehrt, schreit jede Stunde mir zu: Du fauler Kerl,
0180willst du an dich denken! Glaubst du denn, die Menschheit
0181hat dich umsonst auf deine Höhe gehoben? Du bist ihr
0182verfallen! — Unsichtbarer Chor aus dem „Freischütz“:
0183Hoho! Der Adler ist dir nicht geschenkt! — Meine Schüler,
0184meine Collegen, meine Kranken und sonst noch so und so
0185viele Menschen, Alle schnappen nach mir und reißen ein
0186Stück von mir ab und Jeder will das beste Stück haben.
0187Als ich jung war, hatte ich Freude an dieser „Hetz“ des
0188Lebens. Jetzt bin ich ein müder Mann, der sich scharf selbst
0189in die Zügel nehmen muß, um seine Pflicht zu thun! —
0190Wie gern möchte ich jetzt oft Abends ein Buch lesen, mich 
0191ans Clavier setzen, um mich zu zerstreuen, doch die phy-
0192sischen Kräfte versagen. Ich habe ein unwiderstehliches Schlaf-
0193bedürfniß und kann dann zum Glück noch mit einer Flasche
0194Gumpoldskirchner mich befriedigen.


0195Wien, 1889.
0196Ja, wenn ich ein Lortzing wäre! Ich kann dir gar
0197nicht sagen, in welchem Meer von Wonne ich neulich bei
0198Czar und Zimmermann“ schwebte. Welch ein Reichthum
0199melodischer Gestaltung! Nur mit Mozart vergleichbar! Und
0200sehe ich das Repertoire an, keine Wiederholung! Wie arm
0201sind wir, und wie Wenige fühlen diese Armuth! Aus einem
0202Act von Lortzing macht man heute drei Opern! Böse, böse
0203Zeit! Arme Zeit!


0204Ich habe vor einigen Jahren schon erklärt: „Ich bin
0205alt.“ So ist mir das „Altwerden“ erspart. Wenn sich gut-
0206müthige Menschen zuweilen darüber zu täuschen meinen, so
0207ist das ja ganz lustig, ändert aber an der Sache nichts.
0208Und nun gute Nacht! In Einem Punkte fühle ich
0209immer ganz jung: in der herzlichen, unveränderten Liebe
0210zu dir!


021116. Juli 1889.
0212Zuvörderst meinen wärmsten Dank für deine freund-
0213liche Aufnahme meines Briefes über die „Götzendämme-
0214rung“. Ich bin jetzt so außer allem Zusammenhange mit
0215meinem inneren Menschen, daß ich mich kaum gleich in die
0216Stimmung jenes Briefes hineinversetzen kann. Wenn ich
0217behaupte, Nietzsche ist und bleibt Wagnerianer, so meine ich
0218das so; seine innerste Natur ist so mit der Wagner’s ver-
0219wandt, daß er sich gar nicht von ihm loslösen kann. Dieses
0220fortwährende Schreiben von Aphorismen, dieser Salat von
0221Gutem und Schlechtem, von Ekelhaftem und Edlem, Geist-
0222vollem und Gemeinem, dieser Gedankenschotter — ist das
0223nicht ganz wagnerisch? Nietzsche bildet sich etwas darauf ein,
0224eine ganze Philosophie in Aphorismen geschrieben zu haben;
0225er nennt es eine neue philosophische That seines Geistes.
0226Ist das nicht ganz wagnerisch? Er ist unfähig, literarisch,
0227logisch, künstlerisch zu gestalten, und erkennt nur das an,
0228was er kann, hält Alles, was er nicht kann, für dumm,
0229schlecht, servil, überwunden u. s. w. Ist das nicht wagne[3]-
0230risch, ganz wagnerisch? Er betet seine Impotenz an und
0231hält die gesunde Action für gemein; er phantasirt sich in
0232eine Vorstellung von Kraftideal hinein, bildet sich einen
0233brutalen Naturgötzen aus und ist selbst doch ohne alle eigene
0234Kraft, scheint auch gar nicht überlegt zu haben, daß die
0235menschliche Cultur diese Phase schon wiederholt durchgemacht
0236und überwunden hat. Die Sprachform eines Culturvolkes
0237zerstören und auf die ersten Anfänge der Sprache, auf starke
0238Interjectionen mit gehäuften Wiederholungen, auf die ersten
0239zusammenhängend isolirten Aphorismen zurückgehen wollen,
0240wie wir sie in den ältesten Schriften der Inder und Semiten
0241finden, als das Volk noch nicht reif war, geschlossene Ge-
0242dankenreihen zu erfassen — kurz, die langsam und mühsam
0243im Laufe von Jahrtausenden erworbene schöne und breite
0244und große Formgestaltung für greisenhaftes Rückgangs-
0245Phänomen anzusehen — ist das nicht literarischer Wagne-
0246rianismus in blödester Formlosigkeit: Weil ich nicht mit
0247kann oder nicht gleich weiß, wohin der Weg nun führen
0248wird, „d’rum ist Fortschritt Rückschritt“. Doch genug,
0249eigentlich schon zu viel über diesen falschen Propheten!


0250Abbazia, 9. Januar 1890.
0251So schön wie diesmal habe ich es noch nie hier ge-
0252troffen. Es war anfangs wol oft trübe, doch ungemein
0253warm; eine frühwarme Atmosphäre, die meinen von Wien 
0254hieher gebrachten Katarrh bald beseitigte. Seit sechs Tagen
0255ist ein Tag schöner wie der andere. Den ganzen Tag wolken-
0256loser Himmel und goldige warme Sonne, des Abends sil-
0257berner Mond über Meer und Inseln. Seit langer, langer
0258Zeit habe ich mich wieder einmal einfach vegetirend des
0259Daseins gefreut. Auch fand ich Muße zum Niederschreiben
0260einer wissenschaftlichen Arbeit, die ich schon lange im Kopfe
0261mit mir herumtrage. Das hat mich wunderbar erfrischt
0262und mir eine Art verjüngenden Selbstbewußtseins eingeflößt,
0263die mich in glücklichste Stimmung versetzte. Vielleicht werde
0264ich, wenn ich es nach Wochen wieder durchlese, finden, daß
0265es ein Schmarrn ist — macht nichts; ich werde es dann
0266den Flammen übergeben, wie so vieles Andere; mein Ver-
0267gnügen habe ich daran gehabt. Alles Glück besteht am Ende
0268doch nur in der eigenen Illusion.


026925. April 1890.
0270Nur du kannst so liebe Briefe schreiben, wie ich heute
0271wieder einen von dir erhielt. Wir sehen uns viel zu wenig.
0272Die Schuld liegt an mir. In der Theorie und aus geschicht-
0273lichen Studien bin ich längst zu der Einsicht gekommen, daß
0274die Weltseele der Menschheit ihren Entwicklungsgang nach
0275der Bestimmung eines unergründlichen Fatums geht, und
0276daß das Individuum daher vom Fatum zu Handlungen
0277benützt wird, wie es gerade kommt. Doch der Einzelne bildet
0278sich in der Gegenwart doch immer ein, zu schieben, wenn er auch
0279nur geschoben wird. In der Kunst glaube ich immer noch eher an
0280die Bedeutung von Individualitäten, als in der Wissenschaft.


0281Hellbrunn bei Salzburg, 28. Mai 1890.
0282Ich erhielt in Aussee die Nachricht, daß mein Assistent
0283Dr. Salzer (Sohn des Wiener Primar-Arztes) zum ordent-
0284lichen Professor der chirurgischen Klinik in Utrecht berufen
0285ist. Die Sache schwebte schon seit einigen Monaten, und
0286schien daran scheitern zu wollen, daß der holländische Unter-
0287richtsminister keinen Ausländer wolle; endlich hat er doch
0288dem Wunsche der Facultät in Utrecht nachgegeben. Salzer 
0289ist der Sechste, den ich auf einen chirurgischen Thron setze.
0290Er wird in seinem Fach bald ganz Holland beherrschen, wie
0291mein Schüler v. Winiwarter ganz Belgien beherrscht. Und
0292so hätte ich für die Chirurgie die flandrischen Provinzen
0293wieder erobert. Uebrigens dürfen wir uns freuen, Gelegen-
0294heit zu haben, uns für Van Swieten und de Haën zu revan-
0295chiren, welche als Holländer die erste Wiener medicinische
0296Schule begründeten.


0297St. Gilgen, 20. September 1890.
0298Sternhelle Nacht! Das erste Mondesviertel, welches
0299Busch und Thal mit silbernem Glanze erfüllte, ist eben
0300hinter dem Zwölferhorn aufgetaucht. Ich sitze in meinem,
0301dir wohlbekannten Zimmer, das mich so traulich umfängt,
0302und bei offenem Fenster höre ich den immer fließenden
0303Brunnen rieselnd scheinbar ewiges Leben athmen. Wir saßen
0304heute Abends so traulich beisammen, und ich dachte mir
0305still: ich bin doch ein glücklicher Mann!


0306Deine freundliche Aufmunterung bei Gelegenheit meiner
0307brieflichen Bemerkungen hat denn doch endlich zu dem 
0308Anfange einer Gestaltung von Ideen geführt, die mich
0309seit Jahren erfüllen. Ich schreibe augenblick einen Essay:
0310Anatomisch-physiologische Aphorismen über Musik. Wer
0311ist musikalisch? — Es soll einen Theil von einer Reihe
0312von Essays bilden, welche ich unter dem Titel: „Grübe-
0313leien eines Spaziergängers am Abersee“ zusammenfassen
0314möchte, falls sich die Dinge zu meiner Befriedigung ge-
0315stalten. Vorläufig schwillt mir das Ding auf wie der
0316Faust’sche Pudel hinter dem Ofen, und ich fürchte, des
0317Pudels Kern wird auch nichts mehr als ein fahrender
0318Scholast sein. Doch das Ding macht mir Spaß; ob es auch
0319Anderen Spaß machen würde, ist freilich eine andere Frage.
0320Vorläufig befinde ich mich noch in einer ähnlichen Lage, wie
0321du sie einst von Ambros schildertest. Ich jage nicht nach
0322Gedanken, sie jagen mich. (Ach, hätte ich die Leichtigkeit und
0323Plastik deiner Feder.) Wenn ich in die Tiefe tauchen will,
0324komme ich immer bald auf Untiefen, d. h. auf seichte Stellen.
0325— Ja, könnte ich den Winter hier bleiben, da würde sich
0326vielleicht etwas Fertiges gestalten. Doch die schönen Tage von
0327St. Gilgen sind bald vorüber, mein Hofrath! Ich könnte die
0328Schulmeisterei und die Praxis wol entbehren, doch nicht die
0329Wissenschaft und Kunst als melkende Kuh, da ich in socialer
0330Beziehung immer noch zu den Säuglingen gehöre und für
0331mich und die Meinen viel Nahrung brauche.


03328. Juli 1890.
0333Von mir weiß ich so viel wie nichts; ich habe immer
0334nur für Andere zu denken und zu thun. Gar keine Stim-
0335mung, höchst selten erfreuliche Momente. — Und doch!
0336Sonntag war ich mit fünf von meinen jungen Leuten auf
0337der Raxalpe; das Wetter war ungünstig, doch so von oben
0338aus der Höhe auf die kleine Welt herabzublicken, von Wolken
0339umgeben, auch vom Sturme gepeitscht; es hat etwas Er-
0340frischendes, Erhabenes! Meine Gefährten haben wie für
0341ihren Vater um mich gesorgt; auch das war schön, zuweilen
0342rührend. Sie kamen mir wie fünf gute Narren mit König
0343Lear vor. „Blast, blast“ etc. Ich empfinde heute noch einen
0344eigenen Reiz wie in meiner Jugend, darin meine Kräfte
0345bis aufs Aeußerste anzuspannen. Auch die Raxpartie ist gut
0346abgelaufen.

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai,
    Nr. 10685 vom 24. Mai und Nr. 10690 vom 29. Mai.