Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10694. Wien, Samstag, den 2. Juni 1894

[1]

Aus Briefen von Billroth. V.


0002St. Gilgen, 22. Mai 1891.*) 
0006Hätte ich Goockel’s Zauberring, ich hätte ihn oft ge-
0007dreht, um dich hieher zu bringen. War der Morgen schöner?
0008Oder der Mittag? Oder der Abend? Oder die mondschein-
0009silberne Nacht? Nur selten dürfte es hier solche Reihe von
0010schönen, regenlosen Tagen in einem lauen, selbst warmen
0011Mai geben! Mir hat es sehr gut gethan; ich habe meine
0012Stimme wieder, und wenn ich auch die Empfindung habe,
0013daß ich weder stark schreien noch jodeln kann, ohne mich zu
0014überschnappen, so hoffe ich doch, daß die Leistung meines
0015Kehlkopfes für die Studenten genügen wird. Ob auch die
0016Leistung meines Gehirns? Das ist mir zweifelhafter. Denn
0017der Zustand von natürlicher Behaglichkeit und Zufriedenheit,
0018in welche man in dieser göttlichen Natur hineingeräth, ist so
0019unnatürlich für uns moderne Menschen, daß wir schon gar
0020nicht mehr wissen, was an uns eigentlich erste oder zweite
0021oder dritte Natur, was Geistesgesundheit oder Geistes-
0022ungesundheit ist. Hier bin ich doch etwas, ein Stück Natur;
0023ich fühle mich ebenbürtig mit Baum, Fels, Bach und See.
0024In Wien, wohin ich morgen abreise, soll ich nun wieder
0025eine Rolle spielen, soll etwas scheinen in dem abgespielten
0026Stück „Menschenglück und Ende“! Soll auf dem alten
0027Theatrum mundi agiren, dessen Impresario längst ban-
0028kerott ist, und der von den Galerien kaum so viel ein-
0029nimmt, daß er ein Spielhonorar abendlich auszahlt, zu klein,
0030um davon standesgemäß zu leben, zu groß, um daran vor
0031Hunger zu sterben. Ich soll nun wieder in große Actionen
0032eintreten; von den verschiedensten Seiten schreibt man mir,
0033man warte auf mich, um dies oder das zu entscheiden. Und
0034ich armer Teufel war hier so zufrieden im Träumen, ganz 
0035vorbereitet auf das göttliche Nirwana! Daß das Schicksal
0036meine blöde, grüblerische Hamletnatur auch gerade auf einen
0037Posten gestellt hat, wo ich das treibende, agirende Element
0038sein soll? Ich bin hier von den vielen schönen Tagen ganz
0039verweichlicht und verspüre einige Aehnlichkeit mit Rinaldo.
0040Daß keine Armida vorhanden ist, die Ansprüche an mich macht,
0041ist mir lieb, doch aus den Zaubergärten der hiesigen Natur
0042ruft mich nur der silberne Schild der Pflicht! Der Ge-
0043danke, den ganzen Sommer hier zu verdämmern, wäre mir
0044nicht unerträglich. Certum signum senectutis. Gockel und
0045Familie hat mich sehr belustigt. Die Aufsätze von D. Strauß 
0046habe ich zum größten Theile gelesen oder durchgeblättert.
0047Wenn man über alle Künste und Literaturen Essays drucken
0048läßt, kann’s wol nicht immer ersten Ranges sein. Zugleich
0049las ich Springer’s Bilder aus der neueren Kunstgeschichte.
0050Beide Bücher haben doch wieder den Gedanken lebendig
0051gemacht, welche bedenkliche Abgötterei wir doch mit unserem
0052Geist und unseren Empfindungen treiben. Die Reaktion kann
0053nicht ausbleiben. Die Anbetung des Individuums wird
0054schwinden, damit der Heroismus auf allen Gebieten der
0055Kunst, Wissenschaft und Geschichte. Numerische Gleichheit
0056der Individuen, das höchstmögliche Glück der Einheit bei
0057Nivellirung des Gesammt-Niveaus, nichts allzu hoch, nichts
0058allzu tief; das Hohe köpfen, den Schlamm heben, das ist
0059das Ideal der jetzigen jungen Generation. Ich sehe eine Zeit,
0060wo Kunst und Wissenschaft gleich der Religion als etwas
0061Veraltetes, historisch wol Interessantes, doch Todtes, nicht
0062mehr Erweckbares betrachtet werden: eine Republik des Ver-
0063standes und des materiell Praktischen, die nichts über Mittel-
0064maß duldet, und Jeden, der klüger oder besser als der
0065Andere erscheint, sofort köpft. Ich bin froh, das nicht mehr
0066zu erleben. Wir lebten in einem großen Zeitalter, in einem
0067goldenen Zeitalter.


0068St. Gilgen, 26. September 1891.
0069Ich habe hier ein körperlich arbeitsames und geistig
0070faules Leben geführt! Geistig fauler als je. Ich habe nur
0071zwei Bücher ernsthaft durchgelesen: „Helmholtz’ Lehre von
0072den Ton-Empfindungen“ zum viertenmale und Preyer’s „Ent-
0073wicklung der Seele des Kindes“ Das kam so. Im vorigen
0074Jahre habe ich hier und in Abbazia ein ziemlich dickes
0075Manuscript zu Papier gebracht: Aphorismen zur Anatomie
0076und Psycho-Physiologie des Musikalischen. Es lag unberührt
0077ein Jahr; nun nahm ich es hier wieder vor. Das erste
0078Capitel „Ueber den Rhythmus als eines der wesentlichsten,
0079mit dem Organismus des Menschen innig verbundenen
0080Elemente der Musik“ passirte meine Kritik leidlich, so daß
0081ich es ins Reine schrieb. Auch der Anfang des zweiten
0082Capitels: „Ueber die Beziehungen von Tonhöhe und -Tiefe
0083zum menschlichen Organismus“ war noch erträglich. Doch
0084dann kamen die Fragen: Sprache, Gesang, Vocale, Ober-
0085töne. Ich ward unsicher über die Richtigkeit einiger Sätze.
0086So fing ich an, in Helmholtz’ Buch zu blättern, machte
0087eine Excursion in Landois’ Buch über Thierstimmen, kam
0088wieder zu Helmholtz zurück, und zwar zur vierten Auflage,
0089die gegenüber der ersten Auflage, die ich früher studirte,
0090doch viel Neues enthält. Mit den Vocalen, Obertönen,
0091Sprache etc. kam ich ins Psychologische, in die Entwicklung
0092der Sprache und des Gesanges beim Kinde und so in
0093Preyer’s dickes, dabei höchst interessantes Buch von funda-
0094mentaler Bedeutung. Ich will ja nichts Gelehrtes schreiben,
0095sondern nur den Dilettanten in diesen Dingen die Illusionen
0096abschütteln. Beruht das Componiren auf einem Act, der
0097mehr den Hallucinationen oder Illusionen zugehört? Dies
0098führte mich wieder zu einem Buche über Hallucinationen,
0099über Schlaf, Träume etc., ja in die Geisteskrankheiten hinein.
0100Ich möchte nicht einen Satz schreiben, der eine Unklarheit
0101über diese Dinge verräth, nicht ein Wort falsch oder für
0102den Kenner zweifelhaft anwenden. — Nun habe ich so viel
0103Vorzügliches gelesen, daß ich mich gar nicht traue, mein
0104Manuscript vorläufig weiter anzusehen. Du siehst, lieber
0105Hanns, daß ich nicht zum populären Schriftsteller geboren
0106bin. Bei Anderen gehe ich leicht über Ungenauigkeiten hinweg,
0107wenn mich die Persönlichkeit des Schriftstellers anzieht; ich
0108nehme bei mir jeden Satz bleiern schwer. So wird wol
0109nichts aus meinem projectirten Essay werden. Schadet
0110nichts! Wenn es nothwendig ist, wird es doch geschrieben, [2]
0111von irgend einem Andern. Was in einer Zeit Einer denkt,
0112denken Hunderte mit ihm; es liegt in der Luft; es ist, weil
0113es den Zeitumständen und den Verhältnissen nach sein muß.
0114Einer wird es in eine zeitgemäße Form kleiden. Wer es ist,
0115ist für später ziemlich gleichgiltig. Die Persönlichkeit ist nur
0116etwas in der Gegenwart; in der Geschichte ist sie nur ein
0117kleines Moment einer Bewegung, die vor sich geht, weil sie
0118den Umständen nach vor sich gehen muß. Du siehst, ich bin
0119Fatalist in Betreff der Fortentwicklung der Menschheit. Im
0120Uebrigen, meine ich, darf der Mensch, wenn er seine Schul-
0121digkeit gegen die Anderen gethan hat, in seinen Mußestunden
0122thun, was ihn freut. So ist das Grübeln und Gestalten
0123meine einsame Freude, mein Vergnügen; wenn auch gar
0124nichts dabei herauskommt, so trägt es doch zur Erweiterung
0125des Ichs bei, und das ist wieder eine Freude, die einsam
0126genossen werden will und freilich zur inneren Einsamkeit führt.


0127Ich hatte auch manche belletristrische Sachen mit; auch
0128Manches von Maupassant, Zola etc., doch ich vertrage davon
0129nicht viel; der Humor muß dabei schon sehr hervorragend
0130sein, wenn er mich über das ekelhaft Exotische hinweggleiten
0131lassen soll. Wenn ich schon meine Zeit hergebe, um mir von
0132Einem etwas erzählen zu lassen, so muß es schon etwas
0133ganz Besonderes sein. Es geht mir fast schon wie Grill-
0134parzer, der einmal zu Brücke vor einer Akademie-Sitzung
0135sagte: „Was soll ich armer alter Mann den ganzen Tag
0136thun? Schreiben kann ich nicht mehr. Lesen? Ja, alle guten
0137Bücher habe ich wiederholt gelesen: — nun soll ich auf
0138meine alten Tage die schlechten Bücher lesen! Das ist
0139doch zu hart!“


014017. October 1891.
0141Es ist ein eigen Ding mit dem Lachen und behaglichen
0142innerlichen Lächeln über Bücher, Vorkommnisse und Men-
0143schen. Von tausend Menschen, welche über dasselbe weinen,
0144werden kaum fünfzig über dasselbe lachen. Das Pathetische,
0145Großartige, Gewaltige, uns Niederdrückende, der schmerzliche
0146Kampf ums Dasein bis zum Tode scheint in der gesammten
0147Natur selbst zu liegen. Das Komische und Lustige ist rein
0148menschlich, constitutionell, sein Ausdruck wechselt mit den
0149verschiedenen Zuständen der geselligen Verhältnisse, ja mit
0150dem Alter und den labilen Stimmungszuständen des Einzelnen.


015126. November 1891.
0152Ich will es gar nicht leugnen, daß mich der Gedanke,
0153zum erstenmale in unserem Herrenhause zu sprechen, so 
0154lange aufgeregt hat, bis es geschehen war, und daß ich Alles,
0155was ich sagen wollte, gut durchdacht hatte; daneben liefen
0156alle meine anderen täglichen Berufsgeschäfte, und da sah es
0157manchmal recht wüst in meinem Kopfe aus. Doch ich glaubte
0158es meinen Collegen und meinem Stande schuldig zu sein,
0159für sie einzutreten, wozu sich ja sonst so wenig Gelegenheit
0160bietet. — Ob das, was ich gesprochen, den „Herren“ ge-
0161fallen hat, weiß ich nicht; jedenfalls war es während der
0162drei Viertelstunden, die ich gesprochen habe, so mäuschenstill
0163in dem sonst sehr unruhigen Hause, wie ich es bisher kaum
0164erlebt habe. Es war wol die Neugierde, einen „neuen“
0165Mann sprechen zu hören.


01664. December 1891.
0167Du verziehst mich schrecklich. Wie sonderbar doch das
0168Leben ist. Ich hätte nie geglaubt, daß ich je in unserem
0169Parlamente eine persönliche Stellung einnehmen würde, auch
0170Einer dort sein könnte. Doch scheint es nach beiden ersten
0171Reden fast so. Ich bin jetzt doch etwas nervös geworden,
0172mehr durch die langweiligen Delegations-Sitzungen, als durch
0173schlaflose Nächte, in welchen ich als Vorbereitung zu meiner
0174zweiten Rede noch einmal die ganze Zeit von 1870 durch-
0175lebte, Abends vorher Kriegskarten studirte; um 6 Uhr Diners.
0176Nun habe ich genug davon und sehne mich schon nach Abbazia.


017710. December 1891.
0178Ich schicke dir beiliegend meine beiden Reden; vielleicht
0179freut es dich, sie durchzusehen, sie sind ein Stück von mir.
0180Du magst sie behalten, wenn du willst. Ich lege von den
0181zahllosen Ausschnitten aus ausländischen Zeitungen zwei bei,
0182die dich vielleicht amüsiren werden.


0183Vielleicht schreibe ich am Semmering wieder ein Capitel
0184meiner Aphorismen über Musik. Vielleicht ist mein Herz
0185bis dahin schon längst in irgend einer Launenhaftigkeit still
0186geworden. Mir ist manchmal zu Muthe, als würde ich die
0187nächste Stunde nicht erleben. Thut nichts! — Habe mich
0188lieb und behalte mich lieb, todt oder lebendig; man wird
0189mich mit viel Liebe begraben. — Vielleicht kommt es anders.


019026. Januar 1892.
0191Mit Rührung habe ich heute gelesen, was du über den
0192alten Soldatensänger Haitzinger geschrieben hast; das war
0193sehr lieb von dir. Seine kunstvolle und doch wieder naive
0194Art des Singens hat mich sehr interessirt. Ich habe die
0195Empfindung gehabt, daß man gerade so zu Schubert’s Zeit 
0196sang: in erster Linie rein musikalisch, nur um zu
0197singen und singen zu hören. Brahms vermißte: tiefere
0198Auffassung, Seele, künstlerische Noblesse. Ich weiß nicht, ob
0199das wirklich so besonders vorwiegend von Schubert intendirt
0200war; ich meine immer, wir modernen Menschen verbinden
0201viel zu viel allerlei Dinge und Gedankenbilder und Gefühls-
0202extreme mit der Musik vor 1848. Die Musik allein genügt
0203den Meisten nicht, sie soll jetzt immer mit anderen Dingen
0204verquickt sein, und wo dies nicht sein kann, sucht der Spieler
0205oder Sänger durch besondere Vortragsart unsere Aufmerk-
0206samkeit von der Musik auf sich, auf seine sogenannte Auf-
0207fassung zu lenken. Das Hören und Empfinden des einfach
0208musikalisch Schönen und die abstracte Lust daran scheint mir
0209sehr in Abnahme begriffen. Das Interessante ist der Feind
0210des Schönen. Das Schöne und Schönste kann nicht wol
0211interessant sein, ebensowenig wie das Gute und Beste. Das
0212absolut Schönste und Beste wird wie Gold immer lang-
0213weilig sein, weil es eben das Schönste und Beste ist, das
0214Interessante aber den Wechsel von Schön und weniger
0215Schön involvirt.


0216Aussee, 2. October 1892.
0217(Nach Billroth’s Jubiläum als Professor an der Wiener Universität.)
0218Ich müßte ein Herz von Stein haben und überhaupt
0219kein Mensch sein, wenn ich nicht durch die Unzahl von
0220Telegrammen und Briefen von der ganzen Erdoberfläche
0221her tief gerührt wäre. Es gibt also doch recht viele, viele
0222Menschen, die mich lieb haben für die Liebe, die ich ihnen
0223entgegenbringe, sei es als meinen Schülern, sei es als meinen
0224Patienten. Man kann sich nur satt essen und satt trinken.
0225Doch aller Menschen Liebe würde man nimmer satt.


0226Ich habe es nie für wahrscheinlich gehalten, daß man
0227dem Kaiser vorschlagen würde, mich zum Geheimen Rath
0228zu ernennen. Wir stehen als Universitäts-Professoren, als
0229Lehrer des zukünftigen Oesterreich ja doch eigentlich ganz
0230außerhalb der Beamtenwelt. Wir sind nur unserem Gewissen
0231verantwortlich, und da gibt es keine Rangstufen, denn vom
0232Gewissen zur Niedertracht ist nur Ein Schritt. — Du hast
0233in deinem letzten Briefe darüber ganz meine Empfindungen
0234ausgesprochen. — Die Verleihung des Ehrenzeichens (oder
0235wie es im Gelehrtenmunde heißt, des „Goldenen Vließes“
0236für Kunst und Wissenschaft hat mich sehr gefreut, weil es
0237mir gebührt. Es liegt gesunder Menschenverstand, also die
0238allerhöchste Auszeichnung in dieser Auszeichnung.

Fußnoten
  • *)Siehe Nr. 10675 der „Neuen Freien Presse“ vom 13. Mai,
    Nr. 10685 vom 24. Mai, Nr. 10690 vom 29. Mai und Nr. 10691
    vom 30. Mai.