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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10792. Wien, Samstag, den 8. September 1894

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Billroth als Musikreferent.

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0002Ed. H. Die Berufung nach Wien traf Billroth in
0003Zürich, wo er zu Anfang der Sechziger-Jahre die Professur
0004für Chirurgie an der medicinischen Facultät der damals
0005noch jungen Hochschule versah. Es war in jener für die
0006beiden Hochschulen Zürichs, das Polytechnicum und die Uni-
0007versität, so glanzvollen Epoche, während welcher Lehrkräfte
0008wie Gottfried Semper, Moleschott, der Aesthetiker Fr. Vischer,
0009der Kunsthistoriker Lübke, der Angenarzt Horner, der Bota-
0010niker Heer, der Chemiker Wislicenus, der Criminalist Temme,
0011der Geschichtsschreiber Büdinger und Andere ein lernbegieriges
0012Auditorium um sich versammelten und Geister wie Georg
0013Herwegh, Gottfried Kinkel, Richard Wagner, Otto Roquette 
0014und Andere sich des Asylrechtes auf freiem Schweizer Boden
0015erfreuten. Der Lections-Katalog des Jahres 1861 weist
0016aus, daß Billroth ein sechsstündiges Colleg über specielle
0017Chirurgie las, daneben noch 7½ Stunden der chirurgischen
0018Klinik und sechs Stunden dem Operationscurse widmete.
0019Weniger bekannt dürfte jedoch die Thatsache sein, daß der
0020so vielbeschäftigte Lehrer und Operateur noch Zeit und Lust
0021fand, der journalistischen Thätigkeit, und zwar als Musik-
0022referent
der Neuen Züricher Zeitung, obzuliegen. Wußte
0023doch selbst die Redaction dieses heute noch existirenden an-
0024gesehenen Blattes sich gelegentlich des Dahinscheidens des
0025allgemein betrauerten Mannes nicht zu erinnern, daß der-
0026selbe einst zu dem Stabe ihrer Mitarbeiter gehört hat.
0027Einzig dem gegenwärtigen Decan der medicinischen Fa-
0028cultät in Zürich, Professor Dr. Otto Haab, der mit
0029dem Rufe eines gefeierten Ophtalmologen den eines
0030aufrichtigen Kunstfreundes verbindet, war es vorbehalten, in
0031seiner Gedenkrede auf die Verdienste hinzuweisen, die sich
0032Billroth um das musikalische Leben Zürichs erworben hat,
0033und namentlich den Antheil zu betonen, der dem Verstor-
0034benen an dem Zustandekommen eines ständigen Concert-
0035Orchesters gebührt. Es kann nicht Aufgabe dieser Zeilen
0036sein, nach dieser Richtung hin den Einfluß zu untersuchen,
0037den Billroth’s gesprochenes und geschriebenes Wort ausübte.
0038Lebhaftere Theilnahme jedoch als für dieses lediglich locale
0039Interessen betreffende Wirken dürfte dem großen Kreise der
0040Verehrer Billroth’s die Art und Weise erregen, wie er seines 
0041Amtes als Musikreferent waltete. Nicht ohne ein Gefühl der
0042Wehmuth betrachten wir die vergilbten Blätter der Züricher
0043Zeitung aus den Jahren 1861 bis 1863, welche die mit
0044einem —h signirten Concertberichte enthalten. Dem Entdecker-
0045talent und der bewährten Gefälligkeit des k. k. General-
0046Consuls in Zürich, Hofrath Ludwig Przibram, verdanken
0047wir die Mittheilung der längst verschollenen Musikberichte
0048Billroth’s. Jede Thätigkeit, die ein bedeutender Mann mit
0049liebevollem Eifer gepflegt hat, ist uns wichtig, mag sie auch
0050neben seinem eigentlichen Beruf nur als anmuthiger Schmuck
0051erscheinen. So gehört denn zu einem vollständigen Bilde
0052von Billroth nicht blos die Wissenschaft allein, mit der er
0053vermält, sondern auch die Kunst, in welche er verliebt war.
0054Aber das rein subjective Interesse, welches man diesen Musik-
0055berichten entgegenbringen mag, wird immer mehr zurück-
0056gedrängt, je weiter der Leser gelangt und inne wird, daß er
0057es da mit Urtheilen zu thun hat, die sich durch Prägnanz
0058des Ausdruckes wie durch vollkommenes musikalisches Ver-
0059ständniß auszeichnen. Dabei versetze man sich zurück in die
0060Zeit vor mehr als dreißig Jahren, da jene von Billroth 
0061besprochenen Tonschöpfungen noch nicht Gemeingut aller Ge-
0062bildeten waren und fachmännische Kritik nur wenig Vorbilder
0063aufzuweisen hatte.


0064In Nachstehendem geben wir einige Stichproben aus
0065diesen „von des Augenblickes Gunst geborenen“ Recensionen;
0066sie werden nachhaltiger als alle Schilderung darthun, wie
0067dieselbe Hand, welche das Messer des Operateurs führte,
0068auch die Feder zu meistern wußte.


0069So schreibt Billroth nach der Aufführung von Schubert’s 
0070großer C-dur-Symphonie am 14. Januar 1862:


0071„Es gehört zu der Charakteristik der Schubert’schen
0072Instrumentalwerke, daß sie sehr breit, im größten Style an-
0073gelegt sind. Diese Breite ist nicht bedingt durch eine über-
0074triebene Methode oder Manier der Durchführung, wie wir
0075sie in den Spohr’schen Werken finden, in welchen das Thema
0076zuweilen alle existirenden Tonarten durchpassiren muß, son-
0077dern sie ist durch die Breite der Themen, durch die Länge
0078der Perioden bedingt, die Verhältnisse der einzelnen Theile
0079eines Satzes sind durchaus ebenmäßig und gehen keineswegs
0080über das Uebliche hinaus. Bei genauer Verfolgung der
0081Partitur wird man freilich finden, daß er mit wenigen be[4]-
0082stimmten Rhythmen schon im ersten Theile der Sätze Com-
0083binationen und Harmonisirungen vornimmt, die sich ein
0084weniger üppig begabter Componist wohlweislich für den An-
0085fang des zweiten Theiles verspart; dies ist nun zwar auch
0086schon von Mozart und Beethoven geschehen, doch in be-
0087schränkterem Maße (mit Ausnahme der Neunten Symphonie 
0088Beethoven’s); indeß die Steigerung, die Schubert trotz dieser
0089Verschwendung immer noch zu Gebote stand, läßt das
0090Uebermaß der epischen Breite bald vergessen, und eine
0091Steigerung liegt in jedem Satze, sowie in dem ganzen
0092Kunstwerk, wie sie nur den begabtesten Geistern zu Diensten
0093ist. Ob Schubert, wenn er selbst seine Orchestersachen und
0094Opern öfter gehört hätte, hie und da gekürzt haben würde,
0095ist schwer zu sagen; von Mozart weiß man allerdings, daß
0096er öfter nach den ersten Proben noch strich, denn sein
0097Grundsatz war: „kurz und gut“. Jetzt an einer solchen
0098Symphonie zu streichen, wäre allerdings ein Unfug.“


0099Gelegentlich einer Quartett-Production schreibt Billroth:


0100„Es ist ein oft wiederholter Ausspruch, daß die
0101Streichquartettmusik die vollkommenste Instru-
0102mentalmusik sei; die Einheit der Tonfarbe, die Uebersichtlichkeit
0103der Combinationen, die Vollkommenheit der Harmonie bietet
0104den höchsten musikalischen Genuß, der dabei stets eine gewisse
0105Behaglichkeit mit sich führt, die hier höchstens durch die oft
0106unangenehme Kälte des Locales beeinträchtigt wird. Die
0107meisten Componisten sind darüber einig, daß es viel leichter
0108ist, eine gute Symphonie und eine gute Oper zu schreiben,
0109als ein gutes Streichquartett; Spohr erklärt es ohne Be-
0110denken für die schwierigste musikalische Aufgabe. Dies hat
0111nun den großen Vortheil, daß sich gerade die gediegensten
0112Musiker seit Haydn diese Aufgabe wiederholt stellten und
0113so die Quartett-Literatur die schönsten Blüthen der modernen
0114Kunst aufzuweisen hat. Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert 
0115sind daher stehend in allen von uns je gehörten Quartett-Soiréen,
0116und selbst Mendelssohn und Schumann treten hier weniger
0117als Meister hervor, so Schönes sie auch sonst geboten haben.“
0118Und dann weiter: „Das Quartett von Mozart 
0119A-dur gehört ohne Zweifel zu einer der frühesten Arbeiten,
0120wir haben bis jetzt keines gehört, welches so sehr den
0121Stempel des Vater Haydn trüge als dies; die Motive sind 
0122wenig charakteristisch, die Arbeit gewandt, doch ohne den
0123Geist des Mozart, der uns am liebsten und befreundetsten
0124ist. Das ganze Stück, in knapper Form, trägt einen recht
0125ordentlichen Zopf mit Haarbeutel; doch nein! mehr ein
0126Zöpfchen, und das lustige Gesicht des jungen Wolfgang 
0127schaut unter den gepuderten Haaren hervor; bei aller
0128Fröhlichkeit wird heftig studirt, ob sich auch Alles schön
0129contrapunktisch fügt, und daß der Papa ja zufriedengestellt
0130wird; doch das blitzende Auge des großen Mozart schaut
0131schon hervor, und in den letzten Variationen des dritten
0132Satzes, da mögen die alten Herren die Ohren gespitzt haben;
0133prächtige Sachen kommen da zum Vorschein, schön auch noch
0134für uns, schön für alle Zeiten!


0135Es folgte das neue Octett von Niels Gade 
0136für vier Violinen, zwei Bratschen und zwei Celli, eine Zu-
0137sammensetzung, die, sowie auch das Sextett für Streich-
0138instrumente, bisher nicht oft benützt ist. Aus dem Bildungs-
0139gange und dem Naturell Gade’s war zu erwarten, daß er
0140sich mehr dem Muster Mendelssohn’s als Spohr’s (von
0141Beiden besitzen wir ähnliche Arbeiten) anschließen würde,
0142und so ist das Werk denn auch im echt Mendelssohn’schen
0143Geiste geboren, ohne gerade imitirt zu sein. Wie herrlich ist
0144dieses Werk! Es fielen uns nach den ersten Tacten die Worte
0145aus „Faust“ ins Gedächtniß: „Wie anders wirkt dies Zeichen
0146auf mich ein!“ Der moderne Geist, das eigene Ich, tritt
0147hier vor den Hörer, wir sind ganz in dem Elemente, in
0148dem wir leben, in der Luft, die wir athmen; die unmittel-
0149bare Gegenwart reißt uns fort ins Reich von Idealen, die
0150unserer Zeit naturgemäß sind; lassen wir die Reflexionen
0151darüber, ob diese Musik wirklich vollendeter ist, als die eines
0152Mozart, eines Beethoven; geben wir uns ganz dem sinn-
0153lichen Genusse der Töne, ganz dem üppigen Wohllaute der
0154Harmonien, dem jubelnden, stolzen Schwunge der Melodien
0155hin, lassen wir uns vom Dichter berauschen und geben wir
0156uns gefangen! — Der Klang der acht Saiten-Instrumente in
0157ihrer organischen Zusammenwirkung hat in der That etwas
0158Aufregendes; er ist so intensiv, man möchte sagen, so nervös,
0159daß man wie bezaubert ist; dies tritt noch mehr in einem
0160kleineren Raume hervor, wo wir schon wiederholt das Werk
0161hörten und sorgfältig hörend studirten. Viel des schönen 
0162Details an welchem die Arbeit so unendlich reich ist, geht
0163in großem Raum verloren, zumal für diejenigen, welche
0164das Musikstück zum erstenmale hören; doch daß es trotzdem
0165so herrlich wirkt, ist der beste Prüfstein für die Vollendung
0166des Ganzen; auch die Skizze bleibt noch herrlich, voll
0167warmen Lebens und Kraft! Der Schönheiten sind so viele,
0168daß wir hier von einer Detaillirung ganz absehen müssen.
0169Bei jeder Stelle, die uns ins Gedächtniß kommt, können
0170wir nur wiederholen: wie schön, wie herrlich ist das und
0171das, und wie das Alles so wunderbar klingt! So klar und
0172abgerundet die Form, und doch so ungebunden frei die
0173Phantasie! — Doch daß wir über das Werk fast die Spieler
0174ganz vergessen hätten, das ist wol das Beste, was man von
0175ihnen sagen kann.“


0176Hören wir an anderer Stelle ein Urtheil über Frau
0177Clara Schumann und Mozart’sJupiter-Symphonie“:


0178„Frau Clara Schumann ist schon seit vielen Jahren
0179als Künstlerin ersten Ranges bekannt und steht als solche
0180immer noch auf derselben Höhe. Ein Stück Geschichte der
0181modern-classischen Musik wird sich für immer an diese Frau
0182knüpfen; sie gehört innig verbunden zu jenem Kreise in
0183Leipzig, welcher, durch Mendelssohn, Hauptmann, Schu-
0184mann etc. gebildet, die deutsche Musik zu einem erneuten
0185Aufschwung brachte, den man so bald nach Mozart und
0186Beethoven kaum erwarten durfte. Frau Schumann spielte
0187das G-dur-Concert von Beethoven und kleinere Sachen von
0188S. Bach und R. Schumann; daß sie Alles meisterhaft vor-
0189trug, braucht wol kaum erwähnt zu werden; sie entwickelte
0190eine Kraft und Energie im Spiel, wie sie zuvor nie von
0191einer Frau gehört worden ist; alle Sachen im classischen Styl
0192sind ihr recht eigentliches Element; ihre Spielart selbst ließe
0193sich vielleicht am passendsten als „Spielart im großen
0194Styl“ bezeichnen; es kann damit indeß nur Eine
0195Seite ihrer künstlerischen Individualität angedeutet
0196werden. Das anmuthige Concert von Beethoven ent-
0197zückte in allen drei Theilen in gleicher Weise; man thäte
0198Unrecht, einen Theil vor dem andern hervorzuheben. In
0199zwei von der Künstlerin eingelegten Cadenzen verflocht die-
0200selbe die einzelnen schönsten Blumen des großen Kranzes
0201noch zu reizenden Bouquets, die in sich noch einmal im [5]
0202Kleinen das ganze Kunstwerk widerspiegelten. War es der
0203Zauber, der um die Künstlerin schwebt, war es der Diri-
0204gent, war es die Begeisterung für die Composition, was
0205das Orchester beseelte? — Die Orchestersätze griffen so
0206prächtig exact mit dem Clavier in einander, die Begleitung
0207war meist so delicat, so präcis, daß man eine vollkommen
0208abgerundete Anschauung von dem ganzen Kunstwerke bekam;
0209man konnte sich einmal ganz dem Werke selbst hingeben und
0210brauchte sich nicht fortwährend zu fürchten, daß durch irgend
0211einen instrumentalen Unfall der Genuß des nächsten Mo-
0212mentes verbittert werden würde; so gut wurde es uns hier
0213noch nie. — Und auch die große C-dur-Symphonie 
0214von Mozart: mit welchem Feuer, mit welchem Schwung
0215eilte sie leider nur zu bald vorüber! Ein Geizhals
0216kann kaum ein größeres Behagen darin finden, mit
0217den Händen in seinen mit Goldstücken gefüllten
0218Kästen zu wühlen, als ein musikalisch gebildeter
0219Mensch empfinden muß, eine der größeren Mozart-
0220schen Symphonien zu hören; es ist eine Art des Genusses,
0221die sich nicht recht beschreiben läßt, eine Art Tonbad, bei
0222dem jedoch noch keine Trompeten- und Posaunen-Douchen
0223vorkommen, wie in der modernen Opernmusik, sondern in
0224welchem nur ein bald schwächerer, bald stärkerer Wellenschlag
0225die Aufmerksamkeit bald mehr, bald weniger angeregt erhält, wo-
0226durch dann ein Zustand angenehmsten sinnlichen Behagens und
0227innerlicher Freudigkeit eintritt, in welchem Geist und Kör-
0228per in gleicher Weise betheiligt sind; denn die sinnliche
0229Tonempfindung, zumal die Empfindung von harmonisch
0230schön verbundenen Tonmassen, wie sie gerade Mozart bietet,
0231ist schon an sich ein Genuß von einer bei anderen ähnlichen
0232Kunstgenüssen nie vorgekommenen Intensität, ganz abgesehen
0233von allen dadurch angeregten bewußten oder halb bewußten
0234Bildern der Phantasie.“


0235Ein anderer Bericht gilt einer Kammermusik-Soirée,
0236in welcher das Mozart’sche Quintett für Clavier
0237und Blasinstrumente gespielt wurde:


0238„Ein reizend naives Werk aus der besten Zeit des Mei-
0239sters! Sowol bei diesem wie bei dem imitirten Quintett von
0240Beethoven hat es uns immer bedünken wollen, als mischten
0241sich die Blasinstrumente weit besser mit dem Ton der mo-
0242dernen Flügel als die Streichinstrumente, und es ist daher
0243zu verwundern, daß erstere in der modernen Kammermusik
0244für Clavier nicht mehr verwendet sind. Was die Ausführung
0245betrifft, so war dieselbe bezüglich der einzelnen Spieler ganz
0246gut, doch die Direction des Ganzen, die dem Clavier zufällt,
0247war im höchsten Grade schläfrig und geistlos. Wie kann sich
0248ein Clavierspieler so zu seinen Mitspielern setzen, daß er
0249keinen von ihnen zu sehen im Stande ist! Gleich im Anfange
0250begannen die Bläser, ohne daß der Clavierspieler davon eine
0251Ahnung hatte, daß wirklich angefangen werden sollte; wie
0252wurde der erste Satz verschleppt, welche philiströse Auffassung
0253des Finales und, trotz aller Sauberkeit im Einzelnen,
0254welch ein steifleinenes Vorwärtsschieben des Ganzen!


0255Es folgte das große Streichquartett D-moll
0256von Schubert
, unserer Auffassung nach das Größte,
0257was je in diesem Genre angestrebt, vielleicht auch erreicht
0258ist. Wir hatten einige Bedenken, als wir hörten, daß das
0259Streichquartett des Orchestervereins mit diesem Stück debü-
0260tiren wolle, freuen uns jedoch, berichten zu können, daß die
0261Aufgabe in einer Weise gelöst wurde, die alle Hörer aufs
0262erfreulichste überrascht hat. Dieses Quartett, eines der
0263schwierigsten, sowol für die einzelnen Instrumente als für
0264das Zusammenspiel, wurde mit einer solchen Klarheit ge-
0265spielt, wie wir es hier früher nicht gehört haben. Der
0266Herr Concertmeister Zeller (die Namen der übrigen Herren
0267sind uns nicht bekannt) hatte die äußerst schwierige Partie
0268der ersten Geige mit einer Sauberkeit ausgearbeitet, die für
0269den Eindruck des Ganzen höchst wohlthuend war; der Glanz-
0270punkt war das Andante mit Variationen und von diesen
0271die Variation in Dur; jede Harmonie war hier klar und
0272rein, und gab das Ganze Zeugniß von dem sorgfältigsten
0273Studium, was umsomehr anzuerkennen ist, als die Musiker
0274bisher so mit Concert- und Opernproben überbürdet waren,
0275daß man kaum begreift, wo sie die Zeit nehmen, diese
0276Quartettstudien zu machen. Daß die Ausführung den
0277höchsten Anforderungen noch nicht entsprechen konnte, liegt
0278darin, daß das Zusammenspiel bisher ein zu kurzes war;
0279die Gesammtwirkung der Instrumente kann in Bezug auf
0280Kraftentfaltung noch eine größere werden; es fehlt dem
0281Ganzen der Ausführung noch an Styl und an individueller 
0282Auffassung. Dies wird jedoch kommen, sobald die Spieler
0283unbefangener und freier sich gegenseitig hingeben.


0284Die dritte Nummer bildete ein Octett von August
0285Walter
für Violine, Viola, Violoncell, Contrabaß, Oboë,
0286Clarinett, Horn und Fagott. Bei einem solchen Aufwand
0287von Mitteln, die ein kleines Orchester darstellen, erwartet
0288man ein Werk, welches sich mehr dem Styl der Sym-
0289phonie, als demjenigen der Kammermusik hinneigt. Doch dies
0290ist nicht der Fall: Die Form schließt sich etwa an die
0291Notturnos von Haydn, die Serenaden für kleines Orchester
0292und Harmoniemusik von Mozart, an das Septett von
0293Beethoven und Aehnliches an; man sollte meinen, das in
0294Rede stehende Werk könnte etwa vor 50 oder 60 Jahren
0295von einem Schüler jener Zeit geschrieben sein; doch warum
0296sollte nicht in der knappen Form jener Zeit etwas Schönes
0297geschaffen werden können? Gewiß ist das Bestreben der
0298Einfachheit anzuerkennen, doch dann muß der Inhalt derart
0299sein, daß er uns erwärmt, wie es in den Werken eines
0300Haydn, eines Mozart so oft auch in den unbedeutendsten
0301Arbeiten noch der Fall ist. Leider können wir dies nach
0302unserm Geschmack von dem Walter’schen Octett nicht sagen;
0303der Inhalt des Ganzen ist so dürftig, daß man es kaum
0304begreifen kann, wie ein Musiker diese Motive überhaupt
0305niederschreibt, von denen jedes einzelne aus älteren Werken
0306nachweisbar ist. Die Harmonienfolgen bewegen sich auf den
0307gewöhnlichsten Gemeinplätzen und erheben sich kaum hie
0308und da zu Spohr’schen Wendungen. Es ist immerhin inter-
0309essant, daß an einem modernen Componisten die Neuzeit so
0310spurlos vorübergehen konnte! Wie wir hören, ist dies eines
0311der frühesten Werke Walter’s, von dem uns andere recht
0312hübsche Sachen bekannt sind. Dies Werk schmeckt etwas
0313nach einer preisgekrönten Arbeit in einem Conservatorium
0314mit der Censur „recht gut componirt, doch ohne alle eigene
0315Erfindung“.


0316Es folgte das große Trio für Clavier, Violine und
0317Cello in B-dur von Beethoven. Wir konnten uns zwar
0318nicht recht hineinfinden, das Claviertrio hat uns nie im
0319Concertsaale behagen wollen; der Ton der beiden Streich-
0320instrumente will sich durchaus nicht mit dem dicken Ton
0321des Clavierflügels, der durch die starke Belederung und die [6]
0322dicken Saiten den Saitenklang fast verloren hat, mischen.
0323Das Stück selbst, bekanntlich eines der vollendetsten aus der
0324vorletzten Periode Beethoven’s, hat viele Stellen, welche dem
0325geistigen Ohr schöner klingen, als dem körperlichen. Für
0326jeden Dilettanten ist es eine der schönsten Jugenderinnerungen,
0327und diese erscheinen uns ja immer in der Phantasie idealer,
0328so daß, wenn wir sie in Wirklichkeit wieder vor uns sehen,
0329wir durch diese Wirklichkeit oft enttäuscht werden. Wir
0330waren durch diese Reflexionen befangen und unterlassen da-
0331her eine eingehende Besprechung.“


0332Die Nachbarschaft Richard Wagner’s, mit dem übrigens
0333Billroth keinerlei persönliche Beziehungen unterhalten zu
0334haben scheint, hinderte ihn nicht, sich gegen dessen Richtung
0335scharf auszusprechen. Er schreibt gelegentlich:


0336„Jetzt gehört es zum guten Ton, auch die letzten Werke
0337Beethoven’s, selbst die Clavierfugen in seinen letzten Sona-
0338ten, für die höchste Potenz des „musikalisch Schönen“ zu
0339erklären. Wir sind nicht dieser Ansicht, sondern sind
0340Männern, wie Spohr, Mendelssohn, Schubert, Schumann,
0341sehr dankbar, daß sie nicht an diese letzten Werke Beet-
0342hoven’s anknüpften, wie es die Zukunftsmusiker oder die
0343sogenannte neudeutsche Musikschule thun möchte — wenn
0344sie es nur könnte.“


0345Aber auch dem Publicum blieb Billroth seine Meinung
0346nicht schuldig. Es scheint, daß der Besuch der Concerte in
0347jenen Tagen Vieles zu wünschen übrig ließ. Heute, da man
0348in Zürich die letzte Hand legt an den Bau einer neuen
0349Tonhalle, mag es von erhöhtem Interesse sein, zu lesen, wie
0350Billroth das dortige Publicum im November 1862 apostrophirte:


0351„So werkthätig sich das Publicum bei der Gründung
0352des Vereines betheiligt hat, so wenig nimmt es verhältniß-
0353mäßig Theil an der Förderung und Entwicklung desselben.
0354Die Einrichtung scheint noch zu neu; oder sollte es wirklich
0355an Interesse für Musik fehlen? Sollte das Publicum mei-
0356nen: wir hören ja im Theater und in den Concerten der
0357allgemeinen Musikgesellschaft, daß Manches besser ist als
0358früher, was sollen die vielen neuen Concerte? Man kann
0359nicht in alle Concerte gehen! Dies ist gewiß zum Theile
0360berechtigt, doch dabei kann das neue Orchester nicht bestehen;
0361die Künstler wollen nicht allein von ihrem Gehalt leben.
0362Die Gunst, das Interesse des Publicums ist ein ebenso 
0363wichtiges Nahrungsmittel für den Künstler, als das tägliche
0364Brot! Lieber mehr Beifall, als Geld! Das hört und fühlt
0365Jeder, der mit Künstlern häufiger zu verkehren Ge-
0366legenheit hat.“


0367In einer Besprechung vom 9. December 1861 heißt
0368es über den Pianisten Alfred Jaell:


0369„Herr Jaell ist als Künstler zu anerkannt, als daß
0370man über ihn viel sagen könnte; er steht in vieler Hinsicht
0371über jeder Kritik, er hat sich in seiner Manier fern von der
0372Liszt’schen Schule gehalten, wo diese anfängt, das Clavier
0373zu schlagen, anstatt es zu spielen; er erinnert an Hummel,
0374so weit uns die Spielart dieses Meisters aus Tradition
0375und Schriften bekannt ist. Dabei entwickelt er ausreichend
0376Kraft und behandelt das Instrument mit schönem Maß.
0377Herr Jaell spielte das C-moll-Concert von Beethoven voll-
0378endet schön. Die im ersten Satz wie üblich eingelegte Cadenz
0379war mit außerordentlich feinem Geschmack componirt, und
0380obgleich sie sich genau in den Figuren des Beethoven’schen
0381Satzes hielt, wußte der Künstler doch auf die geschmackvollste
0382Weise seine Force in perlenden Trillerketten zu zeigen. Das
0383Concert ist nicht brillant im heutigen Sinne der Technik, es
0384liegt bequem claviermäßig und schließt sich enger an die
0385Mozart’schen Muster an, als das im vorigen Jahre von
0386demselben Künstler meisterhaft vorgetragene Es-dur-Concert 
0387von Beethoven. Wir sind aber gerade deßhalb Herrn Jaell 
0388doch besonders dankbar für die Wahl dieses Concertes, da
0389es jedenfalls eines der schönsten der gesammten Literatur ist.
0390Das zarte Adagio wurde leider vom Orchester völlig ver-
0391nichtet. Der erste Fagottist war, wie es schien, so entzückt
0392über das Spiel des Herrn Jaell, daß er gar nicht mehr
0393blies, und so der mittlere Abschnitt des Andante ganz ver-
0394stümmelt und unverständlich zum Vorschein kam. Von
0395um so schlagenderer Wirkung war das Rondo, in dessen
0396Vortrag Herr Jaell so echt künstlerisch vorsichtig mit der
0397Beimischung des Pikanten verfuhr, daß wir es nicht genug
0398anerkennen können. Die vollendeten chromatischen Läufe
0399waren von entzückender Wirkung und liefen wie Quecksilber-
0400kügelchen auf einer bald aufwärts, bald abwärts bewegten
0401polirten Platte.“


0402Das damalige Züricher Orchester erfährt in
0403einem Berichte von Billroth folgende scharfe Zurechtweisung:


0404„Mit den Streichinstrumenten kann man sich wol be-
0405friedigt erklären, ihre Zahl ist durchaus genügend. Die
0406Trompeten und Posaunen und das erste Horn sind gut
0407besetzt, müssen jedoch in Schranken gehalten werden; die
0408Herren mögen in ihrer schmetternden Freude bedenken, daß
0409sie in einen heißen Saal hineinblasen, in welchem sich
0410Menschen mit Ohren befinden. Der schwache Punkt des
0411Orchesters sind die Holzbläser und besonders auch der
0412Paukist. Die Flöte ist gar zu zart in den Einsätzen; die
0413erste Clarinette ist recht gut, die zweite bläst meist unrein,
0414die Oboën sind höchst naiv ungeschickt, das Fagott kann nur
0415unschön grunzen und tölpelt bei jeder Gelegenheit hinein;
0416das große Horn stolpert über seine eigenen Töne; der
0417Paukist mißkennt durchaus den großen Werth seines In-
0418strumentes. Es ist bekannt, daß Mendelssohn, wenn er seine
0419Symphonien in Berlin dirigirte, von dem ganzen Leipziger
0420Orchester nur den Paukisten und dieser seine Pauken mit-
0421nahm und seinen Kasten mit acht bis zehn Arten von Pauken-
0422schlägeln, die alle mit verschiedenen Stoffen umwickelt waren,
0423um eine jede denkbare Modulation des Tones hervorzubrin-
0424gen; die Pauke ist bei Beethoven nicht selten eine Rivalin
0425der Contrabässe und muß Töne von sich geben, kein un-
0426musikalisches Gepolter wie heute Abends.“


0427Diese und ähnliche Kritiken Billroth’s, welche sich ab-
0428fällig über die Leistungen des Orchesters aussprachen und
0429durch die außerordentliche Sachkenntniß überraschten, mit
0430welcher jedem einzelnen Instrumente ein Sündenregister vor-
0431gehalten wurde, scheinen Empfindlichkeiten geweckt zu haben.
0432Das Herüberschießen vertrugen die sonst so kaltkritischen
0433Züricher schon damals nicht. Wenigstens regnete es in den
0434Spalten der Züricher Zeitung eine Reihe von mehr oder
0435minder geharnischten Entgegnungen, und die Redaction selbst
0436salvirte sich unter das Regendach einer zahmen Erklärung,
0437„daß ihrem Mitarbeiter jede böswillige Absicht ferngelegen
0438sei etc.“ Vielleicht mag diese Rückwärts-Concentrirung nicht
0439nach dem Geschmacke Billroth’s gewesen sein, wenigstens
0440hören mit dem Jahre 1863 seine Beiträge plötzlich auf.
0441Spätere Musikberichte in der Züricher Zeitung werden dem
0442nun auch dahingegangenen Professor Wilhelm Lübke zu-
0443geschrieben.