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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10918. Wien, Dienstag, den 15. Januar 1895

[1]

Concerte.

(Festconcert der Gesellschaft der Musikfreunde. „Die Jahreszeiten.“ Zwei neue Sonaten von Brahms.)


0003Ed. H. Vor einem Jahre noch stand auf dem Neue
0004Markt das fürstlich Schwarzenberg’sche Palais. Darin
0005hat vor vierundneunzig Jahren die erste Aufführung von
0006Haydn’s „Jahreszeiten“ stattgefunden. Eine kunstsinnige Ge-
0007sellschaft aus dem hohen Adel — van Swieten war ihr be-
0008ständiger Secretär — gab diese denkwürdige Première für
0009sich und ihre geladenen Freunde. Der neunundsechzig-
0010jährige Haydn dirigirte das Orchester, Salieri accom-
0011pagnirte am Flügel. Die „Jahreszeiten“ mit der um zwei
0012Jahre älteren „Schöpfung“ übergingen dann in die Hände
0013der „Tonkünstler-Witwen-Societät“, welche alljährlich im
0014alten Burgtheater beide Oratorien schlecht und recht ab-
0015spielte. Das dauerte so mehrere Decennien, bis man endlich
0016diesen regelmäßigen Wechsel von „Schöpfung“ und „Jahres-
0017zeiten“ in zunehmend schleuderischen Aufführungen satt be-
0018kam. Welcher Jubel erscholl, als nach langer Pause Her-
0019beck
im Jahre 1860 die „Jahreszeiten“ wieder heraufholte
0020zu neuem, kräftigem Leben! Seither pflegt die Gesellschaft der
0021Musikfreunde alle vier oder fünf Jahre eines der beiden Ora-
0022torien Haydn’s in sorgfältigster Aufführung zu geben und findet
0023jedesmal dafür ein sehr empfängliches, ja begeistertes Audi-
0024torium. Sie hat es auch an diesem 9. Januar gefunden,
0025trotz des furchtbaren Schneesturmes, der den Ein- und Aus-
0026gang arg gefährdete. Diesmal erschienen die „Jahreszeiten“
0027als Festconcert, zum 25jährigen Jubiläum unseres Musik-
0028vereins-Gebäudes. Der Verein selbst (die ehrwürdige „Gesell-
0029schaft der Musikfreunde“) hat bereits vor 33 Jahren seinen
0030fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Damals sprach Minister
0031Schmerling in einem schwungvollen Toast die Zuversicht
0032aus, es werde die Gesellschaft „bald im eigenen Hause 
0033walten und selber Gastrecht üben“. So ist es auch ge-
0034kommen. Das hoffnungsvolle Lied vom eigenen Haus war
0035ihr übrigens früher schon gesungen worden. Jahrelang
0036mußte sie für ihre Concerte sich den großen oder den kleinen 
0037Redoutensaal erbitten, dessen Bewilligung jedesmal von dem
0038besonderen Wohlwollen des Obersthofmeister-Amtes abhing.
0039Immer dringender, unabweislicher für die „Gesellschaft“
0040wurde somit der Bau, wenn nicht eines eigenen
0041Hauses, doch wenigstens eines eigenen Concertsaales.
0042Das war der „alte Musikvereinssaal“ unter den Tuchlauben,
0043„zum rothen Igel“. Seine feierliche Eröffnung geschah am
00444. November 1831 mit einem von Grillparzer eigens
0045gedichteten, von Franz Lachner componirten „Weihgesang“.
0046Man fühlte sich wie im Himmel — beinahe vierzig Jahre
0047lang. Für ein rasch aufblühendes Musikwesen sind vierzig
0048Jahre eine halbe Ewigkeit. Der Himmel des „rothen Igels“
0049wurde uns bald unerträglich eng. Es galt, einen großen
0050Entschluß zu fassen. Die Direction der Musikfreunde ar-
0051beitete mit Muth und Erfolg an dem Zustandekommen
0052eines würdigen Neubaues, wofür ganz Wien sich lebhaft
0053interessirte. Unser musikheiliger Nikolo, genannt Dumba,
0054muß seine Hand stark im Spiele gehabt haben, denn das
0055neue Musikvereins-Gebäude stand am Neujahrstage 1870 
0056fertig da und wurde am 6. Januar feierlich mit Sang
0057und Klang eröffnet. Ein Ehrentag für Meister Theophil
0058Hansen, den wir jetzt bei dem fünfundzwanzigjährigen
0059Jubiläum seiner Schöpfung schmerzlich vermißt haben, wie
0060so viele der früheren trefflichen Directionsräthe: Dr.
0061Egger, Eduard Schön, General Drathschmiedt,
0062Dr. Standhartner, Mosenthal, Herbeck,
0063Hellmesberger! Tags darauf wurde der „kleine
0064Saal“ von Clara Schumann eingeweiht — ein gutes
0065Omen, das aber nicht recht nachzuwirken scheint. Schade,
0066daß dieser schmucke Saal, der durch seine Lage und innere
0067Einrichtung ungleich bequemer ist, als der Bösendorfer’sche,
0068jetzt so wenig benützt wird von Virtuosen und Quartett-
0069vereinen.


0070Erst fünfundzwanzig Jahre lang steht unser Musik-
0071vereinssaal. Eine kurze Zeitspanne, und doch — wie viele
0072hochbedeutende glänzende Namen, mitunter Marksteine unserer
0073Musikentwicklung, sind damit verbunden! Liszt hat in
0074seinen alten Tagen als Abbé zum letztenmale hier mit
0075Orchester gespielt; Bülow und Rubinstein haben da
0076ihre schönsten Triumphe gefeiert. In diesem Saale lauschten 
0077wir der Geige Joachim’s, Sarasate’s, Wilhelmj’s;
0078dem Gesange der Adelina Patti, Nilsson, Albani,
0079Bellincioni, Barbi; dem Orgelspiele Bruckner’s und
0080Labor’s. Richard Wagner, Bülow, Liszt, Herbeck,
0081Dessoff haben hier ihren Commandostab geschwungen;
0082nach ihnen Brahms, Richter, Gericke. Alle großen Chor-
0083und Orchesterwerke von Brahms, die wesentlichsten von
0084Liszt, Rubinstein, Goldmark, Dvořak, Smetana u. A. stammen
0085sämmtlich für uns aus dem neuen Musikvereinssaal.


0086Habe ich mich wegen des langen historischen Rückblicks
0087zu entschuldigen? Dann citire ich Berger’s Festgedicht:
0088„Jeglich Menschenwerk, groß oder klein, wie sich’s auch
0089wandle in der Zeiten Wechsel, des eig’nen Ursprungs bleib’
0090es eingedenk!“ Alfred v. Berger war auch diesmal, wie
0091jüngst bei der Johann Strauß-Feier, rasch und gefällig mit
0092einem Prolog bei der Hand. „Bereit sein ist Alles,“ sagt
0093Shakespeare. Unser Dichter nimmt seinen Ausgang
0094bedeutungsvoll von den politischen Weltereignissen, unter
0095deren Einwirkung die alte Gesellschaft der Musik-
0096freunde erwuchs. Das neue Haus selbst bot ihm
0097weniger poetische Motive. Gelegenheitsgedicht ist häufig
0098Verlegenheitsgedicht; es entsteht nicht immer auf specielle
0099Einladung der Minerva. Berger’s Poem, sachgemäß und
0100würdig, muß sich ohne die poetischen Fittiche behelfen, auf
0101denen sein Strauß-Prolog sich so kräftig aufschwang. Der
0102alte Johann Strauß stimmt uns noch immer lyrischer als
0103ein fünfundzwanzigjähriges Haus. An Lewinsky, dem
0104Sprecher des Prologs, bewunderten wir wieder die Kunst
0105der klaren und doch warmen, gehobenen Rede. ... Die
0106Aufführung der „Jahreszeiten“ unter Director Gericke’s
0107Leitung entsprach allen Anforderungen. Voll des Dankes
0108und der Zufriedenheit ist diese Musik ein Heilmittel —
0109wenigstens ein momentanes — gegen den Pessimismus
0110unserer Zeit. Aber jedesmal frappirt es uns von neuem,
0111wie die einzelnen Jahreszeiten auf Haydn’s Phantasie eine
0112so ganz andere, fast umgekehrte Wirkung üben, als auf uns
0113im wirklichen Leben. Herbst und Winter sind bei ihm nicht
0114blos die blühendsten, frischesten Jahreszeiten, in ihnen fängt
0115überhaupt geniales Leben erst recht an, während der Früh-
0116ling nach Haydn ein ziemlich gleichgiltiger, der Sommer [2]
0117sogar der verdrießlichste Abschnitt sein müßte, in dem man
0118blos schwitzt und sich vor dem Gewitter fürchtet. Sogar die
0119Liebe zwischen Lucas und Hannchen läßt er nicht im
0120wunderschönen Monat Mai erwachen, sondern erst im
0121October. Frau Lillian Henschel, die Gattin
0122Georg Henschel’s, der im Londoner Musikleben seit
0123zehn Jahren eine bedeutende Stellung als Sänger,
0124Componist und Dirigent behauptet, sang die Sopranpartie.
0125Ein feines, leicht ansprechendes, wohlgeschultes Stimmchen,
0126das besonders in kleinem Raume, bei Clavierbegleitung vor-
0127trefflich wirkt. In ihrem eigenen Concert hat Frau Henschel 
0128das Publicum entzückt mit dem geistreichen Vortrag französischer,
0129deutscher und englischer Lieder. Was in den „Jahreszeiten“
0130den Styl des heiteren Singspiels streift, wie das Duett mit
0131Lucas, sang Frau Henschel mit vollendeter Grazie. In den
0132langsamen, pathetischen Sätzen, im Recitativ zumal, fühlte
0133sie sich weniger behaglich und verfiel leicht in Manierirtheit.
0134Verschweigen läßt sich auch nicht, daß ihre Aussprache leider
0135ganz unverständlich blieb. Frau Henschel fand sehr lebhaften
0136Beifall, desgleichen Herr Sistermans, der uns vom
0137vorigen Jahre her in gutem Andenken steht. Stimmlich
0138schien er mir diesmal weniger disponirt. Die treffliche Me-
0139thode dieses Sängers, stylvoller Vortrag und deutliche Aus-
0140sprache müssen ersetzen, was seinem Organ an Farbe und
0141sinnlichem Reiz abgeht. Der Beste von Allen war wiederum
0142— Herr Walter. Ein fast überraschendes Lob, das wir
0143bereits drei Jahrzehnte lang der strengsten Wahrheit gemäß
0144wiederholen. Bei der Einweihung des neuen Musikvereins-
0145Gebäudes, im Januar 1870, entzückte Walter die Hörer mit
0146dem Vortrag einer Mozart’schen Arie — und jetzt, bei der
0147fünfundzwanzigjährigen Jubelfeier desselben Hauses, entzückte
0148er sie ganz ebenso in Haydn’s „Jahreszeiten“. Er ist immer
0149gleich liebenswürdig und „wird es ewig, ewig bleiben!“


0150Wir sind jetzt reich an Musik — an lebendiger echter
0151Musik, nicht blos an musikmachenden Concertgebern. So
0152haben wir binnen wenig Tagen zwei neue, noch ungedruckte
0153Compositionen von Brahms zu hören bekommen: Sonaten 
0154für Clarinette und Piano. Jede Novität dieses sparsam zurück-
0155haltenden Tondichters versetzt unser Publicum in eine fest-
0156liche Stimmung. Diesmal versprach gar sein herrliches 
0157Clarinet-Quintett eine hoffnungsvolle Descendenz! Nach
0158einander ein Quintett, ein Trio und zwei Sonaten —
0159Brahms’ Spätliebe für die Clarinette scheint zu förmlicher
0160Brautschaft gediehen. C. M. Weber und Brahms, zwei so
0161grundverschiedene Naturen, begegnen sich in der Vorliebe
0162für dieses Organ schwärmerischer Romantik; sogar in der
0163Thatsache persönlicher Anregung durch einen idealen Clarinet-
0164tisten. Weber hat ihn in Bärmann, Brahms in Herrn
0165Richard Mühlfeld gefunden, dem berühmten Blasengel
0166der herzoglich meiningen’schen Capelle. Den neuen Clarinett-
0167Sonaten danken wir eine bleibende und ganz eigenartige
0168Bereicherung unserer Kammermusik. Die packende Wirkung,
0169welche das Clarinett-Quintett namentlich in seinem genialen,
0170tief ergreifenden Adagio ausübt, hat Brahms in den zier-
0171licher geformten Sonaten nicht erreicht, auch nicht be-
0172absichtigen können. Bescheidener an Wuchs und gelasseneren
0173Temperaments besitzen doch beide die Vorzüge echt
0174Brahms’scher Prägung. Anders als im Quintett hat im
0175Duo die Clarinette entschieden die führende Stimme;
0176der Componist, der sie weislich in den Grenzen ihrer
0177schönen Wirkungen hält, verfügt hier über keinen
0178sehr weiten Spielraum. Er kann unmöglich in jedem der
0179acht Sonatensätze stets überraschend Neues bringen und
0180nicht auch manchmal an Stellen seiner früheren Clarinett-
0181Compositionen erinnern. Entzückend ist der erste Satz der
0182Es-dur-Sonate. Ein Thema, wie vom Himmel ge-
0183fallen, oder richtiger, aus schönster Jugendzeit herüber-
0184duftend, voll süßer Schwärmerei und drängendem Liebes-
0185glück! Um dieser Melodie willen, mit welcher die Clarinette
0186ohne jedes Vorspiel anhebt, sich am eigenen Gesang be-
0187rauschend, ist mir dieser Satz der liebste und die Es-dur-
0188Sonate lieber als die zweite in F-moll. Und doch vernahm
0189man am zweiten Concertabend zahlreiche Stimmen, welche
0190die F-moll-Sonate vorziehen. Um so besser! Der zweite
0191Satz, ein Allegro appassionato in Es-moll, unterbricht den
0192der Clarinette weniger zuträglichen Gefühlssturm, um in
0193einen gesangvollen, langsamen Dur-Mittelsatz einzulenken,
0194nach welchem der erste Theil zurückkehrt und in tiefen
0195Schalmeitönen leise hinstirbt. Ein Sechsachteltact, Es-dur,
0196in dem sinnenden, bequem schlendernden Gang, den 
0197Brahms für seine mitteren Sätze liebt, bringt einige
0198reizende Variationen und leitet unmittelbar in das Finale,
0199welches bei geringerer Erfindung doch einen effectvollen
0200Abschluß bildet. ... In der F-moll-Sonate 
0201ist der erste Satz (gleichfalls ein Allegro appassionato) der
0202musikalisch bedeutendste, nicht so sehr durch melodiöse
0203Erfindung als durch seine vielgestaltigen geistvollen Combi-
0204nationen. Ein stimmungsvolles kurzes Andante in As-dur
0205verwendet in schönem Wechsel alle hohen und tiefen Klang-
0206wirkungen der Clarinette. Ihm folgt der unmittelbar an-
0207sprechendste aller Sätze: ein Allegretto grazioso, dessen
0208idyllische Anmuth und Heiterkeit an Schubert’sche und an
0209Brahms’ eigene Ländler erinnert. Es wird überall große
0210Eroberungen machen. Frisch und behend strömt das Finale
0211dahin, ein rascher alla breve-Satz, in welchem eine Clarinett-
0212figur von stakkirten Achtelnoten originell und witzig heraus-
0213sticht. Beide Sonaten sind in Rosé’s Quartett-Abenden
0214überaus beifällig aufgenommen worden. Wie fast
0215allen Compositionen von Brahms, steht ihnen bei
0216näherer Bekanntschaft ein wachsender Erfolg bevor.
0217Gehören sie auch keineswegs zu den schwerfaßlichen
0218Werken, so liegen doch ihre feinsten Züge und intimsten
0219Reize nicht gerade auf der Oberfläche. Die historische Weihe
0220und der Nimbus der ersten Wiener Aufführung werden freilich
0221nicht jeder Stadt zu Theil: Brahms und Mühlfeld 
0222einträchtig zusammenwirkend! Ueber Mühlfeld’s unvergleich-
0223liche Kunst habe ich mich bereits vor zwei und drei Jahren
0224im Lobe erschöpft und kann heute nur constatiren, daß sie
0225ganz die alte geblieben. Daß Mühlfeld, meines Erachtens,
0226jetzt noch schöner spielt, wird mir doch Niemand glauben.
0227Brahms, den Schöpfer dieser schönen Sachen, selbst am
0228Clavier zu sehen, ist uns immer ein Anblick voll freudiger
0229Rührung. Mag er auch mitunter mehr in sich hinein und
0230für sich spielen, als für das Publicum — ungefähr wie
0231Schumann zu dirigiren pflegte — es kann ihn doch Keiner
0232ersetzen. An jedem der beiden Rosé-Abende feierte Brahms 
0233einen Doppeltriumph. Nebst seinen zwei neuen Sonaten 
0234wurde nämlich auch das herrliche G-dur-Quintett (op. 111)
0235und das Clarinett-Quintett in vollendetem Zusammenspiel
0236zu Gehör gebracht.