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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10938. Wien, Dienstag, den 5. Februar 1895

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Concerte.


0002Ed. H. In dem vorletzten Philharmonie-Concert inter-
0003essirte zumeist die Sängerin Frau Lillian Henschel. Die
0004geistreiche kleine Amerikanerin mit dem blassen, pikanten
0005Gesichtchen sang zwei Coloratur-Arien von Händel und
0006Rameau, unter deren gehäuftem Schmuck der eigentliche
0007Körper, Fleisch und Knochengerüste der Musik, beinahe ver-
0008schwindet. Für Preisaufgaben dieses Styls eignet sich am
0009besten eine Stimme, die leicht beweglich, wie ein feines
0010Seidenfädchen, nirgends durch ihr eigenes Volumen behindert
0011wird. Aus Frau Henschel’s Vogelkehle kam das Alles über-
0012aus zierlich und geschmackvoll heraus. Allerdings mußten die
0013Zuhörer auf den entfernteren Plätzen scharf aufpassen, um
0014nichts von diesem holden Gezwitscher zu verlieren. Daß
0015man vom Texte kein Wort verstand, konnte hier nicht
0016schaden, denn sowol Händel’s wie Rameau’s Arie
0017dürften allenfalls solfeggirt werden, da beide zunächst
0018der Gesangs-Virtuosität dienen und im rein elementaren
0019Klang schwelgen. In der Händel’schen Arie hält sich der
0020Dichter thatsächlich an das Bild des flatternden Vogels;
0021dieser wird dem Componisten zum musikalischen Motiv.
0022Welch hochausgebildete Gesangstechnik wurde damals bei
0023jeder Primadonna vorausgesetzt! In derselben Händel’schen
0024Oper „Alessandra“, worin Faustina Hasse jene Vogel-Arie
0025sang, rivalisirte mit ihr (1726) eine zweite, ebenso große
0026Sängerin, die Cuzzoni. Beide mußten als Solosängerinnen
0027gleichmäßig bedacht und am Schluß des ersten Actes in einem
0028effectvollen Duett vereinigt werden. Von ähnlichem Charakter,
0029nur melodisch weniger reizvoll, ist die zweite von Frau Hen-
0030schel vorgetragene Coloratur-Arie aus Rameau’s Oper
0031Hippolyte et Aricie“ (1733). Ein Gesangstück von Rameau,
0032dem großen französischen Zeitgenossen Händel’s, ist heute ein
0033seltenes Ereigniß und darum doppelt interessant. An Kraft
0034und Reichthum der musikalischen Erfindung steht Rameau 
0035gegen Händel weit zurück; speciell als Dramatiker überholt er
0036diesen in vielen Stücken. In Rameau’s „Castor et Pollux“
0037herrscht eine Gewissenhaftigkeit gegen das Wort und die
0038Situation, sogar eine Energie des dramatischen Ausdruckes, 
0039wie wir sie in Händel’s ganz dem italienischen Modegeschmack
0040huldigenden Opern nur ausnahmsweise begegnen. „Hippo-
0041lyte und Aricie“ war die erste Oper Rameau’s und behan-
0042delt denselben Stoff, wie Racine’s „Phädra“. Von der
0043Händel’schen Arie wie von der Rameau’s könnte man sagen,
0044sie gehören zu jenen Musikstücken, die einmal schön waren.
0045Heute von überwiegend historischem Interesse, bedeuten sie
0046mehr einen Triumph der Sängerin als des Componisten.
0047Nicht das Genie der beiden Meister spricht daraus, sondern
0048der Geschmack ihres Publicums und der Glanz einer ent-
0049schwundenen Gesangskunst. Heute leben wenige Sängerinnen,
0050welche solchen Aufgaben vollkommen gewachsen sind. Kein
0051geringer Ruhm für Frau Henschel, daß sie zu diesen weni-
0052gen zählt.


0053Von Instrumentalstücken hörten wir Mendels-
0054sohn’s
Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“, Brahms’ 
0055F-dur-Symphonie und dazwischen eine fünfsätzige Suite für
0056Clavier und Streichinstrumente von Hugo Reinhold.
0057Letztere enthält neben oberflächlichen Redensarten und er-
0058müdenden Wiederholungen (besonders im Finale) auch sehr
0059anmuthige, melodiöse Partien. Die Suite hat sehr ge-
0060fallen und Herrn Reinhold als Componisten und elegantem
0061Clavierspieler lebhaften Beifall verschafft. Trotzdem war uns
0062die Wahl dieses Stückes nicht recht verständlich. Es ist ein
0063Erstlingswerk, mit welchem der junge Reinhold schon vor
0064achtzehn Jahren sein Debüt bei den Philharmonikern gemacht
0065hat. Seit dieser langen Zeit wird er wol Reiferes, Be-
0066deutenderes geschaffen haben. Und dann: wie kostbar und
0067vielumworben ist ein Platz auf dem Programm der Phil-
0068harmoniker! Wie viele weit bessere Compositionen sind seit
0069diesen achtzehn Jahren zur ersten Aufführung gelangt, ohne
0070einer zweiten gewürdigt zu werden! Schließlich war die Auf-
0071führung der sehr ausgedehnten Reinhold’schen Suite, un-
0072mittelbar vor Brahms’ dritter Symphonie, auch noch ein
0073ökonomischer Fehler. In einem Wiener Mittagsconcert darf
0074man eine große, die volle Aufmerksamkeit und Frische der
0075Hörer fordernde Symphonie, wie die von Brahms, nicht
0076erst kurz vor 2 Uhr beginnen lassen. Die höchst bedauerliche,
0077aber unausbleibliche Folge davon ist, daß nach jedem der
0078ersten drei Sätze ein immer größerer Theil des Publicums
0079sich entfernt. Eine Ouvertüre an Stelle der fünfsätzigen 
0080Suite würde zur Ausfüllung des Programms genügt und
0081die Zuhörer empfänglicher und freudiger vorgefunden haben
0082für die mächtige Tondichtung von Brahms.


0083In ihrem sechsten Concert machten uns die Philharmoniker
0084mit einer neuen Concert-Ouvertüre von Dvořak bekannt.
0085Sie ist „In der Natur“, betitelt und ein sehr erfreuliches
0086Seitenstück zu seiner jüngst gehörten „Carnevals-Ouvertüre“.
0087In beiden Stücken pulsirt ein jugendlich drängendes Leben
0088— dort in übermüthiger Faschingslust, hier in milderer
0089Frühlingsfreude. A. B. Marx, der einmal mit Mendelssohn 
0090über die Farbe einer Composition stritt, würde die erste
0091Ouvertüre etwa purpurroth, die zweite hellgrün gefunden
0092haben. Aber beide beherrscht dieselbe Freude am schönen
0093Klang, dieselbe melodische Frische, Unmittelbarkeit und
0094Natürlichkeit. Mit den besten Compositionen Dvořak’s haben
0095sie jenes Glücksgefühl gemein, das in unseren pessimistischen
0096Tagen doppelt wohlthuend wirkt. Nach modernem Maßstab
0097wird man vielleicht keine der beiden Ouvertüren „bedeutend“
0098nennen — sie legen es gar nicht darauf an — aber echt
0099und liebenswürdig sind sie, eine Erfrischung nach
0100der Mehrzahl der neuesten Orchesterwerke, die sich
0101für tief und bedeutend ausgeben, während sie nur tief
0102im Größenwahn stecken und bedeutend sind in falschen Con-
0103trasten und angeschminktem Weltschmerz. Zugleich mit diesen
0104zwei Ouvertüren hat Dvořak eine dritte, „Othello“, ver-
0105öffentlicht, also eine Einleitung oder Nachdichtung des
0106Shakespeare’schen Trauerspieles. Es dürfte nicht an Stimmen
0107fehlen, welche diese tragische Ouvertüre gegen jene zwei
0108heiteren für die „bedeutendere“ erklären. Mir scheint das
0109Gegentheil richtig. Im „Carneval“ und der Frühlings-Ouver-
0110türe ist Dvořak er selbst, im „Othello“ trägt er eine Maske,
0111die bald an Liszt, bald an Wagner erinnert. Hier wollte
0112Dvořak einmal tragisch kommen, und da seiner Natur der
0113vernichtende dramatische Conflict, das Selbstzerfleischen und
0114Blutvergießen ferne liegen, so nimmt er Zuflucht zu künst-
0115licher Injection. Auch sein „Othello“ interessirt durch geist-
0116reiche Züge und wirkt durch instrumentalen Pomp, aber
0117man merkt nicht blos die Absicht, sondern auch die
0118Anstrengung. Die „Othello“-Ouvertüre sucht den drama-
0119tischen Verlauf der Tragödie nachzubilden und verweilt
0120mit grausamer Ausführlichkeit bei dem Erwürgen der [2]
0121Desdemona. Dvořak kehrt hier am unrechten Ort den
0122dramatischen Componisten hervor; er ist aber kein drama-
0123tischer Componist im eminenten Sinne: das hat er am
0124rechten Ort, in seinen Opern, gezeigt, welche nur durch ihre
0125lyrischen Schönheiten, vorzüglich in gemüthvoller und heiterer
0126Stimmung glänzen. Nicht ohne einiges Verwundern wird
0127man in Dvořak’s „In der Natur“ ein Motiv entdecken,
0128das auch in den beiden anderen Ouvertüren („Carneval“ und
0129Othello“) auftaucht. Es heißt, Dvořak habe ursprünglich alle
0130drei Ouvertüren in einem gewissen Zusammenhange gedacht.
0131Ein solcher Zusammenhang ist, wie ich glaube, schlechterdings
0132unverständlich. Gut, daß der Componist den Einfall auf-
0133gegeben hat, die drei Stücke auch äußerlich als etwas Zusam-
0134mengehöriges erscheinen zu lassen, was sie doch nimmermehr
0135sein können. Dvořak’s Ouvertüre „In der Natur“ wurde
0136unter Hanns Richter’s Leitung ebenso glänzend ausgeführt
0137und so stürmisch applaudirt, wie jüngst sein „Carneval“.


0138Auch eine Novität von Grieg ward uns bescheert.
0139Die „Drei Orchesterstücke aus Sigurd Jorsalfar“ sind zur
0140Aufführung des gleichnamigen Dramas von Björnson com-
0141ponirt, also ursprünglich Zwischenacts- und Bühnenmusik,
0142wie Grieg’s Musik zu Ibsen’s symbolisch-nationalem Schau-
0143spiel „Peer Gynt“. In beiden Fällen hat sich der Com-
0144ponist zu einer nachträglichen Adaptirung für den Concert-
0145saal entschlossen. Werth und Wirkung dieser Composition
0146speciell für Björnson’s Drama vermag ich, ohne Kenntniß
0147desselben, nicht abzuschätzen. Als Concertmusik erreicht sie
0148nirgends die reizende (erste) „Peer Gynt“-Suite. Sie hört sich
0149nicht übel an, reizt vorübergehend durch einige norwegische
0150Klänge, ist aber im Ganzen von dürftiger Erfindung und
0151sehr bequemer Arbeit. Das Vorspiel ist ein etwas steif
0152idyllisches „Allegretto semplice“ (molto semplice!),
0153welches durch das auffallend langsam genommene Tempo
0154an die Grenze des Langweiligen gerieth. Es folgt
0155ein ängstlich düsterer „Traum der Borghild“, der man
0156wahrscheinlich etwas geborgt hat, was sie nicht zurückzahlen
0157kann. Zweimal springt sie plötzlich auf, fleischt die Zähne,
0158lacht convulsivisch und legt sich wieder schlafen. Die dritte
0159und letzte Nummer, ein Triumphmarsch, weist auf einen
0160glücklichen Ausgang des Dramas hin. Das Thema des
0161Marsches ist von einer unerschrockenen Alltäglichkeit und 
0162wird nur durch das Aufgebot aller materiellen Kraft ge-
0163steigert. Schon des Contrastes wegen freut man sich an
0164dem Trio, einer sanften Geigenmelodie über Harfenaccorden,
0165worauf leider der Marsch wieder losgeht. Von Militär-
0166Capellen im Freien gespielt, mag er Beifall finden, im
0167Concertsaal hat dieses brutale Fortissimo aller Blechinstru-
0168mente sammt Becken, Pauken, großer und kleiner Trommel
0169nur die Wirkung, daß wir mit Goethe’s Faust ausrufen:
0170„Baumwolle her! Der Kerl sprengt mir die Ohren!“


0171Noch eine dritte Novität verdanken wir dem Phil-
0172harmonischen Concert — nicht ein neues Tonstück, aber
0173einen neuen, vielbesprochenen Tonkünstler: den Pianisten
0174Joseph Hofmann. Wie gegenwärtig sein jüngerer pol-
0175nischer Landsmann Bronislaw Hubermann, so gehörte kurz
0176zuvor der (jetzt sechzehn- bis siebzehnjährige) Hofmann zu den
0177angestaunten Wunderkindern. Außer seinem Talent verfügt
0178er über eine interessante „Legende“. Vor acht Jahren in
0179Amerika concertirend, erregte er durch sein kränklich über-
0180müdetes Aussehen das Mitleid eines reichen Menschen-
0181freundes, welcher den talentvollen Knaben der Gefahr fort-
0182gesetzter Ausbeutung entziehen wollte. Er bot dem Papa
0183Hofmann eine große Summe gegen das Versprechen, den kleinen
0184Joseph mehrere Jahre lang nicht öffentlich auftreten, sondern in
0185Ruhe weiterstudiren zu lassen. Der Handel wurde geschlossen
0186und hat dem jungen Künstler vortrefflich angeschlagen. Die
0187übernächtige Blässe ist von seinem feinen intelligenten Ge-
0188sichte verschwunden und sein Clavierspiel zu sicherer Meister-
0189schaft gediehen. Hofmann’s hochausgebildete Technik, sein
0190klangvoller Anschlag, auch die Art, zu phrasiren und zu be-
0191tonen, erinnern auffallend an seinen Meister Anton Rubin-
0192stein. An Kraft natürlich steht er hinter diesem Titanen
0193zurück. Rubinstein’s D-moll-Concert setzt die Virtuosität des
0194Pianisten auf eine starke Probe; der junge Hofmann hat
0195sie glänzend bestanden, da in dem beschleunigten Tempo des
0196Finales noch ein Uebriges gethan. Ob er auch so viel Tiefe
0197und Gemüth besitzt wie Bravour, das läßt sich nach diesem
0198Rubinstein’schen Concert, das weder tief noch gemüthvoll ist,
0199nicht entscheiden. Der junge Hofmann gibt dem Wiener
0200Publicum, das ihn überschwänglich ausgezeichnet hat, gewiß
0201noch Gelegenheit, sein Talent von allen Seiten kennen zu
0202lernen.