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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10952. Wien, Dienstag, den 19. Februar 1895

[1]

Musik.

(Judas Maccabäus. Concert des Pensionsvereins „Nicolai“. Tappert und R. Wagner.)


0003Ed. H. An jedem der zwei letzten Sonntage ward uns
0004ein großes Concert bescheert. Zuerst der „Judas Macca-
0005bäus“, eines der kraft- und schwungvollsten Oratorien
0006Händel’s, zugleich eines der am häufigsten gehörten. In Wien 
0007sogar, das allerdings auf diesem Gebiete hinter den deutschen
0008und englischen Musikstädten so weit zurücksteht. Nicht über
0009das Werk selbst gilt es zu sprechen, nur über die Aufführung.
0010Kein glücklicher Stern hat ihr geleuchtet, kein Triumph den
0011allseitig guten Willen gelohnt. Die letzte Wiederholung (1882),
0012in welcher gleichfalls unter Gericke’s Leitung Frau
0013Materna, Fräulein Meyer, die Herren Walter 
0014und Rokitansky mitgewirkt haben, lebt mit ganz
0015anderer leuchtender Kraft in unserer Erinnerung. Die Chöre
0016wurden zwar auch diesmal von unserem „Singverein“ sicher
0017und correct gesungen, aber nur stellenweise mit Schwung
0018und gefühlter Begeisterung. Dennoch übertrafen sie weitaus
0019die Leistungen der Solosänger. Redlichen Eifer und
0020manch unbestreitbaren Vorzug brachten sie zwar Alle
0021mit, aber für so bedeutende und ungewohnte Aufgaben
0022reichte das nicht hin. Die traditionelle starke Wirkung dieses
0023Oratoriums blieb aus. Herr Anthes vom Dresdener Hof-
0024theater kämpfte als Judas Maccabäus mit einer Indis-
0025position seiner kraftvollen und ausdauernden Tenorstimme.
0026Der Düsseldorfer Bassist Herr Fenten ist ein junger
0027Mann mit einer ältlichen trockenen Stimme; was mit
0028dieser und einem beneidenswerthen langen Athem zu erreichen
0029ist, hat er erreicht, ist auch nach seiner schwierigen Arie
0030„Der Herr ist gewaltig“ verdientermaßen ausgezeichnet
0031worden. Ohne viel Wärme, aber mit schöner Stimme und
0032guter Betonung sang Fräulein Mary Lederer vom
0033Wiener Hofoperntheater den Sopranpart. Die Altpartie
0034ward, von der Dresdener Concertsängerin Fräulein 
0035v. Niessen nicht ohne Beifall ausgeführt. Von mäßigem
0036Wohlklang und Umfang, schien ihre Stimme oben-
0037drein durch den Einfluß des Unwetters beeinträchtigt.
0038Bei der Aufführung sind nicht weniger als siebzehn
0039Nummern der Partitur weggeblieben. Obgleich manches
0040größere und werthvolle Stück sich darunter befand, gibt es
0041für diese Kürzungen doch eine Entschuldigung. Gervinus 
0042freilich, der in seinem Buch „Händel und Shakespeare“
0043einen barbarischen Frevel schon darin erblickt, daß man aus
0044der Gruppe von drei Freiheitsarien zwei zu streichen pflegt
0045— er würde sich zu Tode entsetzt haben. Allein nicht nur
0046wehrt sich das Wiener Publicum unerbittlich gegen ein mehr
0047als dritthalb Stunden dauerndes Mittagsconcert, auch die
0048große Einförmigkeit der Handlung von „Judas Maccabäus“,
0049die in lauter Bußgebeten der besiegten und Dankgebeten
0050der siegreichen Juden besteht, macht den theilnehmendsten Zu-
0051hörer leicht ungeduldig.


0052Das alljährliche Concert der Philharmoniker für den
0053Pensionsfonds „Nicolai“ kennzeichnet regelmäßig ein
0054leichteres und bunteres Programm. Damit ist ein
0055Wunsch des größeren Publicums erfüllt und nebenbei
0056ein Anspruch des Faschings. Unter seinem Zeichen
0057begann das Concert mit der jüngst gehörten lebens-
0058frohen Carnevals-Ouvertüre v. Dvořak. Hierauf hörten
0059wir einen jungen Violin-Virtuosen, Herrn Willy Bur-
0060mester
, dem ein schnell erworbener, wohlverdienter Ruhm
0061vorausgeeilt war. Mit dem glänzenden Vortrage eines
0062Paganini-Concertes und der „Faust“-Phantasie von Wie-
0063niawski gewann er die Zuhörer; mit einem (mir nicht be-
0064kannten) Solo-Bravourstück verblüffte er sie. Alle erdenk-
0065lichen Kunststückchen und Hexereien erschienen in diesem
0066Blendwerk zusammengedrängt. Neben seiner colossalen Technik
0067besitzt Burmester einen nicht eben großen, aber schönen
0068Ton, Reinheit der Intonation in allen Lagen und warme
0069Empfindung. Auf die Virtuosität scheint er vorläufig den
0070Hauptaccent zu legen, wie dies auch die Wahl seiner Vor-
0071tragsstücke verräth. Burmester, der wie ein ernster nord-
0072deutscher Candidat aussieht, erinnert trotzdem in seinem 
0073Spiel an den Spanier Sarasate in dessen bester Periode.
0074Die letzte Zeit hat einen ganzen Frühling prächtiger junger
0075Geiger hervorgezaubert. Es blüht das tiefste, fernste Thal —
0076das Geigen will nicht enden! ... Mit echt dramatischem
0077Geist sang Fräulein Paula Mark eine Arie der „Bezähm-
0078ten Widerspenstigen“ von Goetz, auf welcher noch der goldene
0079Nachklang von Pauline Lucca’s genialer Darstellung ruht.
0080Zur vollen Wirkung bedarf diese Arie des lebendigen Zu-
0081sammenhanges mit der Bühne — dasselbe läßt sich auch
0082vom Gesang der Mark sagen. Erklärter Liebling des Publi-
0083cums, ist die junge Künstlerin nach der Arie und einigen
0084Liedern mit Beifall überschüttet worden. Eines dieser Lieder
0085Der Knabe und das Immchen“ von Hugo Wolf, ließ
0086uns eigentlich eine (von Herrn Mader brillant gespielte)
0087Triller-Etude hören, welche von einigen declamirten Phrasen
0088der Singstimme begleitet wird. Der Componist hat sich als
0089Tonmaler, offenbar auch in der Farbe vergriffen und einen
0090kräftigen Harzer Canarienvogel anstatt einer Biene ver-
0091körpert. ... Bizet’s Zweite Orchester-Suite „L’Arlé-
0092sienne“ ist, nach der bekannten ersten, eine etwas dürftige
0093Nachlese aus seiner Bühnenmusik zu Daudet’s Drama. Die
0094für die Theater-Aufführung bestimmte Original-Partitur ent-
0095hält nicht weniger als 25 Nummern, worunter manches
0096feine und reizvolle melodramatische Stückchen. Wie
0097viel Musik hat doch Bizet aus dieser überaus ein-
0098fachen provençalischen Dorfgeschichte zu ziehen gewußt!
0099Daudet’s Schauspiel ist vielleicht das einzig existirende, in
0100welchem die Hauptperson und Titelheldin, das verführerische
0101Mädchen aus Arles, gar nicht auf der Bühne erscheint. Es
0102wird nur immer von ihr gesprochen; unsichtbar, aus der
0103Ferne bewegt sie die ganze Handlung und treibt den liebes-
0104kranken jungen Frédéri in den Tod. Wie ihre Vorgängerin,
0105so besteht auch diese Zweite Suite aus vier bunt aneinander
0106gereihten Stücken mäßigen Umfangs: Musik, die eng mit
0107der Bühne zusammenhängt und mehr durch ihre pro-
0108vençalische Localfarbe als durch tieferen Gehalt wirkt.
0109Ueberall jedoch erfreut uns Bizet’s Originalität und Feinheit
0110in melodischer wie harmonischer Gestaltung, sowie sein spe[2]-
0111cielles Talent für exotische Klangmischungen. „Tiens, on
0112entend ronder les tambourins!“ wie es in Daudet’s
0113Schauspiel heißt. ... Nach Bizet erschien Humperdinck 
0114mit einer „Humoreske“ betitelten Orchester-Composition.
0115Das Stück — ohne Posaunen und auch sonst ohne beson-
0116dere Prätensionen — ist ein marschartiges Allegretto mit
0117einem Trio in ländlerischem Dreivierteltact, nach welchem
0118der erste Theil wiederholt wird. Vielleicht ein aus einer
0119Jugend-Symphonie gerettetes Scherzo? Warum es „Humo-
0120reske“ heißt, weiß ich nicht; von Humor ist nichts darin zu
0121spüren. Vielleicht ist gerade das der Humor davon. Nichts weni-
0122ger als originell, mehr Capellmeister- als Zukunftsmusik, hört
0123sich das wohlklingende Stück immerhin recht gefällig an.
0124Ohne die mächtige Protection der Geschwister Hänsel und
0125Gretel wäre aber die „Humoreske“ von den gestrengen
0126Philharmonikern schwerlich zur Aufführung hervorgezogen
0127worden.


0128Noch einer anderen Humoreske, einer literarischen, muß
0129ich heute erwähnen. Herr Wilhelm Tappert, der Robespierre 
0130des Wagner’schen Jacobiner-Clubs, hat pflichtschuldigst im
0131Berliner „Kleinen Journal“ die Vernichtung meiner armen
0132Memoiren übernommen — „so weit es die vorhandenen
0133Kräfte erlauben“. Unseren Lesern ist der wüste Geselle
0134vielleicht aus dem Jahre 1877 erinnerlich, als er zur ersten
0135Aufführung der „Sieben Todsünden“ eigens nach Wien 
0136gereist war, um für Herrn A. v. Goldschmiedt die große
0137Trommel zu schlagen. Im Allgemeinen bestand und besteht
0138seine Lebensaufgabe darin, sich vor R. Wagner im Staube
0139zu winden und alle anderen, staubfreien Menschen anzu-
0140bellen. Es fällt mir nicht bei, Herrn Tappert zu erwidern.
0141Er citirt aber einen mich betreffenden ungedruckten
0142Brief von Richard Wagner, den ich nicht ignoriren darf.
0143Nach Herrn Tappert’s Angabe ist es eine „Epi-
0144sode“ aus Wagner’s noch unveröffentlichter Selbst-
0145biographie, welche Tappert am 22. Januar 1877 von Wagner 
0146„mit Ergänzungen und Aenderungen“ zugeschickt erhielt.
0147Wagner erzählt darin von seinem Zusammentreffen mit mir
0148in Wien 1861. Diese Schilderung, die schon durch ihren
0149unbeschreiblich hochmüthigen und gereizten Ton Bedenken
0150erregen muß, strotzt von Unrichtigkeiten und Widersprüchen. 
0151Ich will mir dieselben nur so erklären, daß Wagner’s immer
0152aufgeregte, bei leidenschaftlichem Haß aber völlig unzurechnungs-
0153fähige Phantasie ihm Vorgänge aus dem Jahre 1861 nach
0154Ablauf von sechzehn Jahren ganz entstellt vorspiegelte und
0155ihn Dinge erblicken ließ, die niemals stattgefunden haben.


0156Erheiternd ist gleich die Behauptung Wagner’s, ich
0157hätte mich in Wien bei drei verschiedenen Gelegenheiten ihm
0158„von neuem vorstellen lassen“. Ich hatte mit Wagner in
0159Marienbad und in Dresden verkehrt (von wo er mir be-
0160kanntlich einen langen, sehr interessanten Brief geschrieben),
0161zu Dritt mit ihm und Professor Fischhof im Sommer 1848 
0162einen ganzen Abend zugebracht, auch bei Heinrich Laube seine
0163Tischnachbarschaft genossen, und nun sollte ich nöthig gehabt
0164haben, mich ihm dreimal von neuem vorstellen zu lassen?
0165Unglaublich! Dann erzählt Wagner von einer Vorlesung
0166seiner „Meistersinger“-Dichtung bei Dr. Standhartner, zu
0167welcher er mich hatte „einladen lassen“. Während dieser
0168Vorlesung sei ich „immer blässer und verstimmter geworden“
0169und habe nach dem Schluß „in unverkennbar gereizter Stim-
0170mung Abschied genommen“. Die Wahrheit ist, daß ich nicht
0171nur nicht blässer und verstimmter, sondern im Gegentheil
0172sehr angenehm berührt worden bin von der glück-
0173lichen Wahl dieses Stoffes. Ich würde sonst nicht unmittel-
0174bar nach der Vorlesung im Feuilleton der „Presse“
0175mit folgenden Worten darüber berichtet haben: „Nach der
0176qualmenden Gluth der Nibelungen ein ansprechendes, bald
0177heiteres, bald rührendes Sittenbild aus dem deutschen
0178Städteleben, auf einfachen Verhältnissen ruhend, bewegt von
0179Freud’ und Leid schlichter Menschen. Mit den Meistersingern 
0180wird Wagner dem deutschen Theater einen größeren Dienst
0181leisten, als mit den Nibelungen.“ Wenn ich nach dieser sehr,
0182sehr langen Vorlesung mich empfahl, ohne an dem Souper
0183theilzunehmen, so geschah dies einfach, weil es mir zu spät
0184geworden.


0185Wie wunderbar verzerrten sich doch in Wagner’s Augen
0186die einfachsten Dinge — oder wie sinnreich wußte er sie
0187nachträglich zurechtzulegen!


0188Eine zweite Geschichte ist noch viel effectvoller. Sie
0189spielt zum Theil im Salon der Frau Dustmann, zum
0190größeren Theil in Wagner’s Kopf. Wagner phantasirt, ich 
0191hätte ihn dort „unter Thränen und Schluchzen“ versichert,
0192ich könne es nicht ertragen, mich länger von ihm verkannt
0193zu sehen; es sei, was ihm an meinem Urtheil über ihn
0194auffällig gewesen, lediglich einer Beschränktheit meiner
0195Individualität
die Schuld zu geben, deren Erkennt-
0196nißgrenzen zu erweitern ich ja nichts sehnlicher wünsche, als
0197von ihm belehrt zu werden! (Echter Wagner-Styl.) Der
0198Ton dieser Schilderung ist geradezu komisch, das Erzählte
0199selbst ein Product von Wagner’s fabulirender Einbildungs-
0200kraft. Kein Mensch wird jemals weder Neigung noch Talent
0201zu solchen melodramatischen Soloscenen an mir wahr-
0202genommen haben. Einen classischen Zeugen für die Unwahr-
0203heit der Wagner’schen Erzählung wird der Leser am Schluß
0204dieser Zeilen vernehmen. Aber auch ohne jede Zeugenschaft
0205ergibt sich die Unwahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit jener
0206Scene aus den thatsächlichen Umständen. Würde ich mich
0207bis zu jenem Abend wirklich als Kritiker so schwer an Wagner 
0208versündigt gehabt haben, so mußte ich doch unbedingt jedem
0209Zusammentreffen mit ihm ausweichen, wie auch er gewiß
0210eine solche gemeinsame Einladung abgelehnt und nicht (wie
0211bei Dustmann und Standhartner) selbst veranlaßt hätte.
0212Nimmt man aber Wagner’s Erzählung von meinem reuigen
0213Schuldbekenntniß für wahr an, dann mußten offenbar meine
0214nächsten Kritiken über Wagner einen von den früheren
0215grundverschiedenen Ton anschlagen, ja von Bewunderung
0216überfließen, wie ich zuvor „von Thränen“; umsomehr
0217als damals Wagner, wie er schreibt, mir „seine rückhaltlose
0218Theilnahme an meinem ferneren Wirken versprochen hatte“.
0219Allein das Gegentheil ist wahr und liegt in meinen Auf-
0220sätzen gedruckt vor Aller Augen. Gerade die späteren
0221„Musikdramen“ Wagner’s, die sich durch ihre doctrinäre
0222Methode so scharf von den drei ersten scheiden, drängten mich
0223zu viel lebhafterem Widerspruch. Ein Pater peccari habe
0224ich zu Wagner weder jemals gesprochen noch geschrieben.
0225Just in den Zeitraum zwischen jener Dustmann-Soirée und
0226den von Herrn Tappert citirten Wagner’schen Brief (1877)
0227fallen die Kritiken, welche Richard Wagner so sehr erbittert
0228haben, insbesondere mein im Jahre 1869 erschienener Auf-
0229satz über „Das Judenthum in der Musik“ — dieses häß-
0230liche Pamphlet, das ich eines ernsten Künstlers ganz [3]
0231unwürdig fand und ohne alle Höflichkeit auch so be-
0232zeichnete. Dann meine Bayreuther Berichte von 1876.
0233Von diesen Aufsätzen und aus dieser Zeit stammt
0234Wagner’s maßloser Haß gegen mich und zeitigte dessen
0235wenig edles Vorhaben, sich in seinen Memoiren an mir zu
0236rächen — also übers Grab hinaus. Wie gerade Herr Tappert 
0237dazu kommt, diesen Abschnitt aus Wagner’s dem Publicum
0238noch vorenthaltenen Memoiren zu veröffentlichen, weiß ich
0239nicht, finde aber die besondere Vorliebe und Hochschätzung
0240des „Meisters“ für dieses Individuum sehr bezeichnend.
0241Wagner hat nur solche Kritiker geduldet und begnadet, die
0242ihm das vollständigste Sacrificium intellectus und unbedingte
0243Anbetung darbrachten. Bei der geringsten Regung einer ab-
0244weichenden Meinung waren sie aus dem Hofstaat auch
0245sofort verstoßen. Sie tragen die meiste Schuld daran, daß
0246Wagner’s starkes Selbstgefühl in vollständigen Cäsarenwahn
0247ausartete. Ewig schade, daß Wagner die letzte geistvolle
0248Schrift seines ihm so theuren und hoch gepriesenen Freundes
0249Nietzsche („Der Fall Wagner“) nicht erlebt hat. Wie schnell
0250hätte Wagner den Werth des Mannes „umgewerthet“, als
0251dieser laut in dem Glücksgefühl schwelgte, endlich geheilt zu
0252sein von der bösen Krankheit der Wagnerei! Die Welt ist
0253da um ein kostbares Schauspiel gekommen und — um ein
0254sehr lehrreiches.


0255Ein werthvolles Actenstück ist der Brief, welchen die
0256seit Jahren meinem Gesichtskreis entrückte ehemalige Zierde
0257der Wiener Hofoper, Frau Kammersängerin Louise Dust-
0258mann
, in dieser Angelegenheit an mich richtet. Ihr
0259Schreiben lautet wörtlich wie folgt:


0260Charlottenburg, 12. Februar 1895.
0261Hochverehrter Freund! Vor einigen Tagen wurde mir
0262aus Wien von meinen Freunden „Das kleine Journal“ vom
02635. Februar 1895 eingesendet mit der Anfrage, ob Alles auf
0264Wahrheit beruhe, was das Feuilleton „Aus der Musikwelt“
0265gebracht. Ich war, als ich den Aufsatz gelesen, geradezu
0266empört und wollte im ersten Augenblicke des Zorns an
0267den Herrn Tappert, der mir, nebstbei gesagt, gänzlich un-
0268bekannt, selbst schreiben; allein nach ruhiger Ueberlegung
0269mußte ich einsehen, daß ich mich mit einem Herrn von der
0270Feder nicht einlassen kann, und so wende ich mich an Sie, 
0271lieber Freund, mir beizustehen, der Wahrheit gemäß den
0272unvergeßlichen denkwürdigen Abend in meinem Salon zu
0273schildern. Sie und ich, wir sind leider die einzig überlebenden
0274Personen von der ganzen lieben Tafelrunde. Doch zur
0275Sache. Auf Richard Wagner’s Veranlassung lud
0276ich damals Sie mit einigen Freunden von mir zum Souper.
0277Wir waren sehr heiter, Wagner selbst war vortrefflicher
0278Laune, so daß wir aus dem Lachen nicht heraus-
0279kamen. Nachdem Wagner noch eine kleine bissige, pikante
0280Rede, mit dem Glase in der Hand, gehalten, standen
0281wir auf, stießen mit einander an, und bei dieser Gelegenheit
0282wußte es Wagner so geschickt zu bewerkstelligen, daß er Sie 
0283in eine Fensternische hineindrängte und nun einen liebens-
0284würdigen Redestrom über Sie Ahnungslosen ausgoß. Mir
0285wurde etwas schwül zu Muthe, denn ich nur allein wußte,
0286was Wagner bezweckte. Nach dieser von Wagner in Scene
0287gesetzten Comödie ließ er Sie frei, glühte über und über,
0288seine Augen glänzten, wie immer, wenn er sehr erregt war.
0289Sie aber, verehrter Freund, waren weder erregt, noch haben
0290Sie geweint oder geschluchzt, denn dies hätte ja ein Jeder
0291von uns bemerken müssen, wenn es der Fall gewesen.
0292Hat das Wagner wirklich selbst geschrieben, so ist das nur
0293eine kleinliche, für ihn selbst ganz unwürdige Rache, die er
0294an Ihnen ausgeübt, und wer dies jetzt noch dem Publicum
0295auftischt, den bestimmen auch keine edlen Beweggründe.
0296Wäre ich der Feder mächtiger, würde ich gern dem Herrn
0297Tappert schreiben, mich aber in einen Federkrieg einzulassen,
0298da soll mich Gott bewahren. Wenn Sie aber, geehrter
0299Freund, die Güte haben wollten, diese ganz unwahre 
0300Begebenheit der Wahrheit gemäß zu widerlegen und sich
0301meiner Erzählung hiebei zu bedienen, so würde ich Ihnen
0302sehr dankbar sein, habe auch nichts dagegen, wenn Sie
0303meinen Brief veröffentlichen, so weit Sie es für gut finden,
0304selbst auf die Gefahr hin, von einem der gewaltigsten
0305Wagnerianer gerädert zu werden.


0306Mit herzlichen Grüßen Ihre alte Freundin Dustmann.“


0307Diese rückhaltlose Darstellung der begeisterten Anhängerin
0308und gefeierten Interpretin Richard Wagner’s hat gewiß
0309weder Mißdeutung noch Anfechtung zu befürchten.