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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11223. Wien, Donnerstag, den 21. November 1895

[1]

Hofoperntheater.

(„Rothkäppchen“ von Boieldieu. Neu einstudirt.)


0003Ed. H. Boieldieu’s komische Oper „Le petit chaperon
0004rouge“ zählt heute etwas über 77 Jahre, wandelt also unter
0005den heutigen Repertoirestücken als eine Respectperson von
0006ehrwürdigstem Alter. Man hat in Wien zuletzt vor
000730 Jahren ihre Wieder-Erweckung aus dem langjährigen
0008Schlafe versucht. Damals ist sie beiweitem nicht so gut ge-
0009spielt und gesungen worden, wie von unseren heute wirken-
0010den Künstlern; hingegen kam der intimere Raum des alten
0011Kärntnerthor-Theaters, diese heute noch nicht ersetzte werth-
0012volle Stätte der Spieloper, dem Eindruck besser zu statten.
0013Der Erfolg jener Wiederbelebung war ein kühler Succès
0014d’estime. Seitdem sind wieder dreißig Jahre verflossen —
0015und was für Jahre! Wagner-Jahre, die gleich den Kriegs-
0016jahren doppelt zählen; doppelt in der Bewegungsschnelligkeit
0017des Opernstyls wie in der musikalischen Ueberreizung des
0018Publicums. Die Wirkung blieb, wie vorauszusehen, heute noch
0019unter jenem Niveau von 1866. Erwartungsvoll, fast rathlos
0020sah die junge Generation diesem Rothkäppchen entgegen,
0021von dem die Großeltern so gern erzählt hatten. Die Jugend
0022um mich her schien auf das bekannte alte Märchen von
0023Perrault aufzupassen. Aber den Stoff unserer Oper liefert
0024weder das naive Kindermärchen, in welchem der gefräßige
0025Wolf die Hauptrolle hat, noch das künstlich lallende, alt-
0026kluge Stück von Tieck, wo allerlei Vögel poetischen Unsinn
0027sprechen und Wolf und Hund philosophische Gespräche
0028führen. Boieldieu’s Oper spielt nur allegorisch und paro-
0029dirend auf das Märchen an, dessen Vorgänge die mit vielen
0030Worterklärungen gespickte Ouvertüre scherzhaft ausmalt.
0031Hier ist Rothkäppchen („Rose d’amour“) kein kleines
0032Kind, sondern ein achtzehnjähriges unschuldiges Bauern-
0033mädchen, das leicht unschuldig sein kann, weil sein
0034Talisman, ein rothes Mützchen, gegen jede Anfechtung
0035schützt. Auf dieses Rothkäppchen lauert kein Wolf,
0036sondern ein vornehmer Verführer von Profession, der ritter-
0037liche Baron Rudolph. Ihm fällt das Unwiderstehlichsein ganz
0038so leicht, wie dem Rothkäppchen die Tugend, denn auch er
0039hat seinen Talisman: einen Ring, dessen Glanz jedes Mäd-
0040chen berückt. Im Walde lauert Rudolph der Kleinen auf.
0041Von seinem Zauberring tapfer attaquirt, wird sie von ihrem 
0042Talisman noch tapferer vertheidigt — hübscher wäre es,
0043wenn sie sich selber vertheidigte. Beschämt über diese schmäh-
0044liche Niederlage, eilt Rudolph in die Einsiedelei voraus,
0045wohin Röschen’s Weg führt. Er weiß den Eremiten durch
0046List zu entfernen und erwartet nun, in dessen Kutte ver-
0047mummt, den Besuch Röschen’s. Diesmal hat der Wolf
0048seine Beute beinahe schon erfaßt — da tritt der echte
0049Klausner rechtzeitig als Retter ein und spricht die groß-
0050artigen Worte: „Es ist Zelindens Tochter, deine Schwester
0051war ihre Mutter!“ Also Onkel und Nichte! Mit dieser
0052zerschmetternden Entdeckung ist der Baron beseitigt und
0053Rothkäppchen kann den Grafen Hugo heiraten, der als
0054Schäfer und Tenor bereits ihr Herz gewonnen.


0055Die große Einfachheit der Handlung und deren Moti-
0056virung aus einer hier ganz unnöthigen und widersinnigen
0057Zauberwelt ist unserem Geschmack sehr ferngerückt. Ins-
0058besondere für Opern-Eremiten haben wir nicht mehr das
0059rechte Verständniß. Der im „Rothkäppchen“ ist vollends ein
0060wunderlicher Kautz; trotz seiner zweihundert Jahre hat er
0061ein fabelhaftes Gedächtniß, verräth aber früher nichts von
0062der vornehmen Herkunft Röschen’s, weil sonst die Oper
0063schon im ersten Acte ein Ende hätte. Als ein umgekehrter
0064Samiel marschirt er jedesmal über den Hintergrund der
0065Bühne, so oft der Tugend Gefahr droht. Offenbar stammt
0066dieser Klausner direct von dem zaubernden Prinzen-Erzieher
0067Alcidor aus Isouard’s „Cendrillon“ ab, sowie „Rose
0068d’amour“, von Aschenbrödel selbst. Der Einfluß dieser
0069Isouard’schen Oper auf Boieldieu’s „Rothkäppchen“ ver-
0070räth sich in Text und Musik; er findet auch eine historische
0071Bestätigung in der ungeheuren Beliebtheit Aschenbrödels
0072bei dem damaligen Pariser Publicum und dem eifrigen
0073Bestreben Boieldieu’s, seinen Rivalen Isouard im gleichen
0074Genre zu überflügeln.


0075An die Composition des „Rothkäppchen“ hatte
0076Boieldieu, ein Künstler von peinlichster Sorgfalt, mehrere 
0077Jahre rastloser Arbeit verwendet. Sie durften ihn nicht
0078reuen, denn der Erfolg der Oper war ebenso glänzend, wie
0079nachhaltig. Wir begreifen ihn vollkommen. Man denke nur
0080siebzig Jahre zurück und stelle sich gleichsam auf den histo-
0081rischen Isolirschemel jenes Zeitpunktes, wo all die reizenden
0082Blüthen des späteren italienischen und französischen Sing-
0083spiels noch nicht aufgebrochen waren und „Le chaperon
0084rouge“, die eben erstiegene höchste Spitze der komischen
0085Oper in Frankreich bezeichnete. „Rothkäppchen“ ist ein Werk
0086von vornehmster Einheit des Styls, von feinem Geschmack,
0087niemals trivial und überall melodiös im Charakter jener
0088musikalischen Conversation, welche die Franzosen vor Allem
0089lieben. Diese Musik hat etwas Akademisches, und nicht um-
0090sonst nannte man das „Rothkäppchen“ Boieldieu’s „Discours
0091de réception“, indem der Componist seine Aufnahme in die
0092Akademie damit gleichsam legitimirte. Anmuth und Eleganz
0093walten vorherrschend, die Empfindung wird nur leicht
0094gestreift, nirgends ins Herz getroffen; die Charaktere locken als
0095scharfgezeichnete lohnende Contouren die ausmalende Hand
0096des Schauspielers. Neben kleinen Romanzen und Couplets
0097(wie die allerliebsten der Nanette im dritten Act) bringt
0098Rothkäppchen“ auch große ausgeführte Nummern, Musikstücke,
0099welche die damaligen Normalmaße der Opéra comique
0100(„Johann von Paris“ mit eingeschlossen) beträchtlich erwei-
0101terten. Ich brauche blos an Rudolph’s Duett mit Nanette,
0102an sein zweites Duett mit Röschen, an seine letzte Arie zu
0103erinnern, dieselbe, die Julius Stockhausen mit Vorliebe
0104in seinen Concerten sang. Dies Alles erschien noch gehoben
0105durch eine feine, bewegliche Instrumentirung, welche
0106namentlich im Ausdruck des Wunderbaren (Harfen-, Flöten-
0107und Waldhorn-Solos) als originell und effectvoll damals
0108gerühmt werden durfte. „Rothkäppchen“ war eben neu.
0109Die Neuheit ist aber das wahrhafte rothe Käppchen, welches
0110Melodien bezaubernd aussehen macht, die später ohne das Käpp-
0111chen uns recht alltäglich dünken. Das rothe Käppchen der
0112Boieldieu’schen Oper erhielt sich lange wie neu; endlich
0113begann doch seine Farbe den Glanz zu verlieren. Am em-
0114pfindlichsten abgeblaßt erscheinen uns heute die Chöre und
0115die große Traumscene im zweiten Acte. Noch immer sind
0116wir uns der künstlerischen Vorzüge dieser Oper wohl be[2]-
0117wußt und hören Vieles daraus, insbesondere den dritten
0118Act, mit aufrichtigem Vergnügen. Als Ganzes hat sie die
0119Zaubermacht über uns verloren, denn wir vermissen darin,
0120was uns unmittelbar ergreift und festhält, was uns nicht
0121blos freundlich anregt, sondern auch ein wenig aufregt. Wir
0122hören heute rascher und ungeduldiger, fühlen accentuirter
0123und energischer als unsere Vorgänger Anno 1818. Die
0124Instrumentirung dünkt uns allzu zart und gleichförmig,
0125die Melodie nicht warm, die Harmonie nicht reich genug.
0126Der Puls der ganzen Oper geht uns zu langsam. Ja,
0127wie eine artige Auseinandersetzung klingt uns mitunter,
0128das unsere Großeltern als glühende Leidenschaft empfanden:
0129Hugo’s und Rudolph’s Liebesergüsse sprechen mehr zu un-
0130serem Verstande, als zu unserem Herzen, und gar an dem
0131Lockenhaupte des salbungsvollen Eremiten erblicken wir, was
0132vor siebzig Jahren Niemand gewahrte — ein böses An-
0133hängsel. In der Original-Partitur hat der Eremit eine
0134(hier mit Recht gestrichene) Arie, in der er sich beklagt, daß
0135er, der Zweihundertjährige, noch immer nicht sterben kann.
0136— Der Tondichter, welcher zuerst das gefeierte „Roth-
0137käppchen“ weit übertraf und es aus der ersten in die zweite
0138Reihe der komischen Opern zurückwarf, war Boieldieu 
0139selbst mit sein „Weißen Frau“. Dieses sieben Jahre nach
0140dem „Rothkäppchen“ componirte Meisterwerk steht gegen
0141Boieldieu’s frühere Opern wie ein in Rosenfülle prangender
0142Garten gegen eine grün angehauchte, schüchtern knospende
0143Frühlingslandschaft.


0144Die Ausgrabung des „Rothkäppchen“ für Wien geschah
0145wol kaum um des Werkes willen, das man ja nicht wieder
0146jung und zugkräftig machen kann. Den Anlaß lieferten viel-
0147mehr die Gotha’schen Musteraufführungen unter Herzog
0148Ernst von Coburg, bei welchen Fräulein Renard als
0149Rothkäppchen in erster Linie glänzte. Neben den beiden
0150einactigen Preisopern „Evanthia“ und „Rose von Ponte-
0151vedra“ brachte man dort Boieldieu’s „Rothkäppchen“ und
0152Cherubini’s „Medea“ zur Darstellung — gleichsam um der
0153allerneuesten Opernmode ein Stück classischer Verschollenheit
0154entgegenzusetzen. In einem kleinen Theater, vor festlich ge-
0155stimmten Zuhörern, ausgeführt von einer Elite erster Künstler,
0156können solche Meisterwerke von veraltetem Inhalt und Zu-
0157schnitt noch auf einsichtsvolle, aufrichtige Theilnahme rechnen.
0158Ein Lieblingstraum — nicht von mir allein — war von
0159jeher eine kleine Opernbühne, eigens bestimmt für das
0160Beste des älteren französischen und deutschen Repertoires,
0161ein „classisches“ oder „historisches“ Operntheater, das in
0162periodischen Cyklen grundsätzlich nur Altes bringt, etwa wie
0163die Berliner Freie Bühne oder das Théâtre libre in Paris 
0164principiell nur Allerneuestes. Dieser Traum wird sich
0165schwerlich je erfüllen. Aber die Festvorstellungen in Gotha 
0166gaben einen kleinen Vorgeschmack davon und ganz besonders
0167das „Rothkäppchen“ mit Marie Renard. Schon um dieser
0168köstlichen Leistung willen verlohnte es sich, Boieldieu’s Oper
0169der Verschollenheit zu entreißen. Fräulein Renard mit dem
0170rothen Käppchen über den blonden Locken sieht reizend aus,
0171singt und spielt die Rolle ganz vortrefflich, sowol
0172in den kindlich einfachen Scenen der beiden ersten Act,
0173wie in dem dramatisch gesteigerten letzten Duett mit Rudolph 
0174in der Klause. Wenn vielleicht etwas dem Charakter Röschen’s
0175und der Musik widersprach, so war es nur der gezierte,
0176durch kokette Ritardandos und Stockungen in den Parlando-
0177stellen verkünstelte Vortrag der ersten Couplets. Die kleinere
0178Rolle der Nanette gewann an Reiz und Bedeutung durch
0179die liebenswürdige Persönlichkeit und den reinen, schlichten
0180Gesang der Frau Forster. Die dankbarste, zugleich
0181schwierigste Aufgabe ist Baron Rudolph. Herr Reich-
0182mann
imponirte wie immer durch den Glanz seiner
0183Stimme und seiner Erscheinung, aber seine Individualität
0184reagirt gegen diese Rolle. Sie war für den berühmten
0185Bariton Martin geschrieben, dessen hohe Bruststimme
0186sich in einem kunstvoll ausgebildeten Falsett fortsetzte, ähnlich
0187wie das Organ des Baritonisten Chollet, für den
0188Herold seinen Zampa schrieb. Herr Reichmann mußte sich
0189Vieles transponiren und manche effectvolle Stelle in dem
0190Ensemble abändern. Allein nicht blos musikalisch, auch
0191dramatisch liegt ihm die Rolle dieses französischen Don Juan 
0192nicht. Ein prachtvoller Hans Heiling, Holländer, Vampyr,
0193kommt Herr Reichmann aus diesen Gestalten nie vollständig
0194heraus. Ein düsteres Pathos und melancholisches Phlegma
0195drückt auf seinen Vortrag, der sich zu herzhafter Frische und
0196liebenswürdiger Anmuth nur mühsam durchringt. In der 
0197Maske des Eremiten soll Rudolph den Anfang des Märchens
0198ruhig, im gedämpften Erzählerton vortragen, später erst
0199darf seine Leidenschaft allmälig hervorbrechen und den
0200„Wolf“ verrathen. Herr Reichmann sang gleich die erste
0201Strophe mit voller Stimmkraft und pathetischer Erregung,
0202so wie ungefähr die letzte Strophe zu singen wäre. Noch
0203weniger vertragen die Liebesscenen so schwere Gewichte, und
0204wenn es selbst goldene wären. Dem Grafen Hugo, der ge-
0205sanglich und dramatisch stark hinter Rudolph zurücksteht,
0206lieh Herr Schrödter seine süße Tenorstimme und schau-
0207spielerische Gewandtheit. Die kleineren Rollen fanden in
0208Frau Kaulich, den Herren Reichenberg und Felix 
0209sorgfältige Darsteller. Das Orchester konnte in dieser Oper
0210ohne Posaunen sich durch seine Schattirung und Delicatesse
0211hervorthun. Die Tempi schienen mir manchmal zu langsam.
0212Musikstücke, welche uns schon durch ihre vielen Wieder-
0213holungen ungeduldig machen, wie das Duett: „Mein
0214schöner Herr, laßt euch erbitten“, vertragen dieses Schleppen
0215am wenigsten.


0216Die durchwegs sehr beifällige Aufnahme der Vorstellung
0217haben wir gestern bereits constatirt. Trotzdem wird wol
0218Niemand das „Rothkäppchen“ für diejenige Oper erklären
0219wollen, welche unserem Repertoire am dringendsten noththat.
0220Von neueren französischen Opern warten Delibes’ 
0221Lakmé“ und Bizet’sDjamileh“ seit Jahren auf eine
0222Wiener Aufführung; von älteren sind der „Schwarze
0223Domino“, die „Stumme von Portici“ und andere mit Un-
0224recht vergessen. Ja, es dürften auch „Fidelio“, „Oberon“,
0225Euryanthe“ bei uns bald zu den verschollenen Opern ge-
0226hören. Sie fehlen auf keiner andern deutschen Bühne. „Es
0227mangeln uns dafür die geeigneten Sängerinnen“ — so
0228heißt es immer. Nun, so muß man sie suchen, ernsthaft und
0229eifrig suchen und für Wien gewinnen. Es gibt kaum eine
0230deutsche Sängerin, die nicht gern ans Hofoperntheater käme.
0231Man hat Fräulein Mora engagirt, welche sowol die Rollen
0232der Lola Beeth (Rebekka), als jene der Materna singt
0233(Valentine, Donna Anna). Die junge Sängerin ist eine
0234anständige Aushilfe, aber kein Ersatz für die Materna, noch
0235selbst für die Beeth — am wenigsten für alle Beide.