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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11232. Wien, Samstag, den 30. November 1895

[1]

Billroth über Musik.


0002Ed. H.*) „Mein kleines Opus ist hoffentlich kein Klecks
0006auf meinen chirurgischen Namen. Das Publicum kennt viele
0007Kinder aus meiner legitimen Ehe und hat sie über mein
0008und ihr Verdienst gütig aufgenommen; vielleicht wird es
0009neugierig sein, auch dies Kind meiner Alterslaune anzu-
0010sehen.“ Diese so bescheiden und humoristisch ausgesprochene
0011Erwartung Billroth’s hat sich jetzt schon reichlich erfüllt.
0012Von seiner nachgelassenen Schrift „Wer ist musikalisch?“
0013sind nur Exemplare der zweiten Auflage nach Wien ge-
0014langt, so schnell war die erste vergriffen, bevor noch die Zei-
0015tungen Notiz von ihr nehmen konnten. Ein erfreulicher Be-
0016weis für die Liebe und Verehrung, welche der Name Bill-
0017roth überall und nicht blos bei seinen Fachcollegen genießt.
0018Die allgemeine Zuversicht, von dem berühmten Arzte auch
0019über Musik Bedeutendes zu hören, wird durch das Buch
0020keine Enttäuschung erfahren, obgleich es eigentlich ein Torso
0021geblieben ist. Welch intensiv musikalische Natur Bill-
0022roth gewesen, das weiß man freilich nirgends so
0023gut wie in Wien. Man mußte ihn selbst Clavier-
0024spielen hören, ihn bei seinen häuslichen Musikabenden oder
0025im Concertsaale beobachtet, seinem treffenden Urtheile ge-
0026lauscht haben, um sofort zu fühlen, daß man nicht einem
0027Dilettanten gegenüberstand. Billroth’s Verhältniß zur Musik
0028reichte weit hinaus über das fröhliche Genießen und talent-
0029volle Reproduciren. Sein energischer, in streng naturwissen-
0030schaftlicher Methode geschulter Geist begnügte sich auch in
0031der Tonkunst nicht mit oberflächlichem Erkennen. Durch
0032seine Doppelstellung als gründlicher Musiker und genialer
0033Physiolog schien er auch in ganz einziger Weise berufen,
0034das geheimnißvolle Grenzgebiet zu beleuchten, auf welchem
0035musikalische Wirkungen mit unserem Nervenleben zusammen-
0036stoßen. In den letzten Lebensjahren drängte es ihn, seine
0037oft durchdachten Ideen über Musik zu ordnen und
0038zu fixiren. Im Herbst 1890 begann Billroth seine 
0039Anatomisch-physiologischen Aphorismen über Musik“
0040niederzuschreiben, welchen er schließlich den Titel „Wer ist
0041musikalisch?“ gab. Die Arbeit, welche immer nur stückweise,
0042in den Universitäts-Ferien, wieder aufgenommen werden konnte,
0043hatte einen sehr rhapsodischen Fortgang. Das letzte Capitel
0044schrieb Billroth kurz vor seinem Tode, wahrscheinlich An-
0045fangs Januar 1894, in Abbazia. Es war ihm nicht vergönnt,
0046dem Buche jene Vollständigkeit und formale Abrundung zu
0047geben, die er ohne Zweifel im Sinne hatte. Nur die beiden
0048ersten Capitel hat er selbst als druckfertig bezeichnet; das
0049dritte, vierte und fünfte stehen ihnen jedoch in keiner Weise
0050nach, ja sie scheinen mir noch reicheren Inhalts und frischer,
0051lebendiger in der Ausführung. Die beiden letzten Capitel
0052sind „Skizzen“ — Skizzen von genialer Hand.


0053Das nachfolgende Resumé, welches den Hauptinhalt, so
0054viel als möglich mit Billroth’s eigenen Worten, reproducirt,
0055kann nicht entfernt einen Anspruch auf Vollständigkeit er-
0056heben; es soll dem Leser dieser Zeilen nur als Führer
0057dienen und ihn aneifern, sich mit dem Buche selbst vertraut
0058zu machen. Man wird es nicht ohne werthvolle Belehrung
0059und Anregung aus der Hand legen, nicht ohne Bewunde-
0060rung dieses vielseitigen, glänzenden Geistes — und, für
0061uns Wiener darf ich beisetzen, nicht ohne tiefe Bewegung.


0062Als Billroth sich die Frage stellte: „Wer ist musikalisch?“
0063wußte er auch, daß eine gründliche Antwort ziemlich weit
0064zurückgreifen müsse zu den Quellen unserer Tonempfindungen
0065überhaupt. Die beiden ersten Capitel seiner Abhandlung
0066sind demnach vorwiegend physiologischen und anatomischen
0067Inhalts; sie bilden die Brücke zu den im engeren Sinne
0068musikalischen Betrachtungen der späteren Capitel. Billroth 
0069behandelt zuerst den Rhythmus als ein wesentliches,
0070mit unserem Organismus innig verbundenes Element des
0071Musikalischen. Rhythmische Bewegungen gehören zu den
0072wichtigsten, zum Leben nöthigsten Eigenschaften unseres
0073Körpers: der Rhythmus des Athmens, des Herzschlages.
0074„Das Herz schlägt von dem ersten Moment seiner Thätig-
0075keit an den Tact zu dem Trauermarsch, der uns das ganze
0076Leben hindurch zum Grabe leitet.“ Die ziemlich allgemein
0077verbreitete Annahme, daß jedem Menschen das Gefühl
0078für Rhythmus angeboren sei, hält Billroth für irrig; er
0079weiß aus Erfahrung, daß es Menschen gibt, denen das
0080rhythmische Marschiren ebensowenig beizubringen ist, wie 
0081das rhythmische Singen.**) Menschen, denen das rhythmische
0092Gefühl nicht angeboren und auch nicht beizubringen ist,
0093müssen absolut unmusikalisch sein, denn die
0094Fähigkeit, die rhythmische Gliederung der Töne
0095zu einer Melodie aufzufassen, ist die erste Bedingung zum
0096Erfassen von Musik. Dadurch, daß das aufmerksame Ver-
0097folgen von rhythmischen Gehörs- und Gesichtswahrnehmungen
0098und die rhythmische Bewegung des eigenen Körpers den
0099meisten Menschen Vergnügen bereitet, wird der Rhythmus
0100zu einem wichtigen ästhetischen, zumal musikalischen Element.
0101Wir können ihn mit drei Sinnen zugleich wahrnehmen:
0102wir können ihn hören, sehen und in unseren Muskeln
0103fühlen. Billroth übergeht dann auf die Anatomie und
0104Physiologie des Hörapparats des Menschen und gelangt
0105zu dem Schluß, daß zwar das Wesen des Musiksinns im
0106Gehirn liegt, daß aber auf alle Fälle ein gesundes Gehör-
0107organ
eine wesentliche Bedingung ist für die Entwicklung
0108der Tonempfindungen, des Musiksinns. Sehr früher Ver-
0109lust des Gehörs muß den Musiksinn nach und nach voll-
0110ständig ertödten. Beim Erlöschen des Gehörs im späteren
0111Lebensalter ist, wenn das Spiel mit den aufgenommenen
0112Klängen einigermaßen lebhaft und intensiv war, die Menge
0113der fest eingeprägten Erinnerungsbilder eine so große und
0114das willkürliche Hervorrufen derselben ein so leicht und
0115rasch vor sich gehender Proceß, daß es der von außen an-
0116geregten Tonwahrnehmungen nicht bedarf, um eventuell neue
0117Combinationen von Tonbildern zu gestalten. (Beethoven.)


0118Von den physiologischen Betrachtungen führt uns das
0119dritte Capitel zum eigentlich Musikalischen, zur Tonkunst.
0120Eine scharfe Grenze läßt sich da freilich ebensowenig wie
0121zwischen Körper und Seele ziehen. Die Seele ist nach unseren
0122heutigen Anschauungen vom Körper nicht zu trennen, und
0123die Vorgänge auf ihrem Gebiete bilden somit einen sehr [2]
0124wesentlichen Theil der Physiologie. Die Seele ist ab-
0125hängiger vom Körper, als der Körper von der Seele. Was
0126wir Wahrnehmen, Denken, Vorstellen, Bewußtsein nennen,
0127kann ohne Gehirn nicht entstehen, nicht bestehen. Als die
0128physiologischen Grundbedingungen für das, was wir jetzt
0129„musikalisch“ nennen, präcisirt Billroth: das Gefühl für
0130Rhythmus und die Wahrnehmungsfähigkeit von verschiedenen
0131Tonhöhen, Tonklängen und Tonstärken, sowie die Unter-
0132scheidungsfähigkeit dieser Töne bei raschem Wechsel und beim
0133Zusammenklingen. Aber nicht jeder Mensch, der diese Eigen-
0134schaften besitzt, ist deßhalb schon als „musikalisch“ zu be-
0135zeichnen. Was das rhythmische Gefühl betrifft, so gibt
0136es Menschen, wenn auch bei Culturvölkern selten, denen
0137es gänzlich fehlt. Viel häufiger findet man Menschen,
0138denen es nicht möglich ist, einen vorgesungenen
0139Ton genau nachzusingen; auch solche, die, selbst für größere
0140Tonintervalle, ja sogar dafür, ob ein Ton im Verhältniß
0141zu einem andern höher oder tiefer ist, keine bewußte
0142Empfindung haben. Ja, es gibt eine vollkommen psychische
0143Gleichgiltigkeit gegen alle Tonwahrnehmungen, zumal gegen
0144Zusammenklänge, eine Art harmonischen Nihilismus, eine
0145harmonische Taubheit. Billroth belegt diese Behauptung mit
0146einigen merkwürdigen Beispielen aus seiner eigenen Er-
0147fahrung. Er erzählt: „Einem meiner Freunde, der gern
0148Gesang hört und der seine musikalische Frau auch wol
0149zuweilen in ein Concert begleitet, fehlt jede Empfindung
0150für das Angenehme oder Unangenehme des Zusammen-
0151klanges von Tönen. Er hat keinen andern Eindruck von
0152dem Anschlagen eines Dreiklanges, als von dem gleichzeitigen
0153Anschlagen fünf neben einander liegender Töne. Ich spielte ihm
0154nämlich die Melodie: „Wir winden dir den Jungfernkranz“
0155in Fis-dur auf dem Clavier vor und begleitete sie mit der
0156linken Hand in F-dur „Das ist aus dem Freischütz,“ sagte
0157er; ich behielt nun die F-Begleitung in der linken Hand
0158bei und spielte die Melodie in G-dur „Bemerken Sie keinen
0159Unterschied?“ fragte ich. Er besann sich und sagte: „Ich
0160glaube, das erstemal hat es mir besser gefallen.“ — Wenn
0161man bedenkt, daß es in einem großen Concertsaale hundert
0162oder noch mehr Zuhörer und Zuhörerinnen gibt, welche auf
0163diesem Standpunkt stehen, und daß es noch viel mehr
0164Menschen gibt, welche bis auf eine Terz Alles für einen 
0165Ton halten, so daß es für sie innerhalb einer Octave 
0166höchstens vier leidlich unterscheidbare Töne, ein unrein
0167Spielen oder Singen überhaupt nicht gibt, so ist das wol
0168ein etwas schauerliches Gefühl — für die Künstler: Verlorene
0169Liebesmüh’. Bei meinem Freunde war doch ein musikalisches
0170Moment vorhanden, nämlich das Gedächtniß für das Rhyth-
0171mische: er erkannte die Melodie, als aus dem „Freischütz“
0172entnommen, wieder. Aber auch dies Gedächtniß kann ganz
0173fehlen, und doch wird Clavier gespielt. Ein junges Mädchen,
0174das schon zwei Jahre lang Clavierstunden gehabt hatte, übte
0175seit drei Wochen ein Stück von Mozart und hatte es so
0176weit erlernt, daß sie es nun dem Lehrer vorspielen sollte.
0177Sie kam etwas zu spät zur Stunde und fand den Lehrer
0178am Clavier sitzend und spielend. Als er sich nicht stören
0179ließ, fragte sie: „Was spielen Sie denn da?“ Der Lehrer
0180wendete sich verwundert um und sagte: „Das ist ja das
0181Stück, welches Sie mir heute vorspielen sollen.“ — „So,
0182so!“ Sie spielte nun das Stück ohne Fehler vor, und die
0183Stunden wurden fortgesetzt.


0184Wer ist musikalisch? Billroth gesteht, daß die
0185Antwort auf diese scheinbar so einfache Frage eine schwierige
0186und höchst complicirte ist. Es gibt verschiedene Grade (oder
0187„Arten“) des Musikalischseins, weil die Tonkunst aus ver-
0188schiedenen Momenten zusammengesetzt ist, aus dem Rhyth-
0189mischen, dem Melodischen und dem Harmonischen, und in
0190jedem dieser Momente wieder rein Technisches und eigentlich
0191Aesthetisches liegt. Je mehr man darüber grübelt, um so
0192verwickelter wird das, was man heute unter Musik versteht.
0193Billroth will der Lösung näher kommen, indem er unter-
0194sucht, wie unsere heutige Tonkunst entstanden ist. Wir
0195müssen hier über die interessanten Untersuchungen hinweg-
0196eilen, welche Billroth über die Entstehung unseres Musik-
0197systems, über Dur- und Moll-Tonarten, über die Entwick-
0198lung der Polyphonie, endlich über die Begriffe Consonanz
0199und Dissonanz anstellte. Das vierte Capitel („In welcher
0200Weise wirkt die Musik auf uns?“) bewegt sich inmitten
0201unserer lebendigen Musik. Es charakterisirt verschiedene Ton-
0202dichtungen und die hervorragendsten Componisten, dürfte daher
0203das größere musikliebende Publicum am meisten interessiren.
0204Auch tritt uns Billroth, der Mensch, hier am persönlichsten
0205gegenüber, z. B. wenn er sagt: „Die reine Schönheit einer
0206Instrumentalmusik kann auf einen musikalischen Menschen
0207ohne irgend welche Associations-Vorgänge derart körperlich 
0208wirken, daß er, wie etwa bei rührenden Scenen im Theater,
0209nicht mehr im Stande ist, zu sprechen, bis Thränen ihn
0210aus diesem fast peinlichen Zustand eines höchsten Glücks-
0211gefühls erlösen. Ich habe das oft an mir erfahren und
0212mich im Concert vor meinen Nachbarn dieser Weichlichkeit
0213geschämt, die ich doch auch wieder nicht missen möchte;
0214man weiß eigentlich nicht, ist es Freud oder Leid,
0215was man dabei empfindet.“ Hier kommt Billroth auf
0216die Programm-Musik zu sprechen, auf die ge-
0217druckten Ueberschriften und längeren Erklärungen, welche
0218den „Inhalt“ eines Tonstückes auseinandersetzen sollen.
0219„Alle nicht musikalisch Gebildeten und selbst die Unmusikalischen
0220kommen durch diese Nebenwirkungen der Musik in eine ge-
0221wisse Beziehung zu derselben; sie haben einen Berührungs-
0222punkt mit einer Kunst gefunden, die ihnen sonst unverständ-
0223lich, uninteressant, ja unerfreulich erschien; sie fangen an,
0224sich doch auch für musikalisch zu halten, und fühlen sich nicht
0225mehr als Parias unter den Eingeweihten. So ist es wol
0226gekommen, daß die Mehrzahl der Menschen, welche über-
0227haupt Gelegenheit haben, complicirtere Orchestermusik zu
0228hören, die Auffassung gewinnen, Musik habe überhaupt den
0229Zweck, etwas darzustellen oder zu bedeuten, und daß sie noch
0230mehr Genuß davon haben würden, wenn man ihnen immer
0231vorher sagen wollte, was die zu hörende Musik bedeuten
0232sollte. Diese Auffassung habe ich bei unmusikalischen, doch
0233sonst sehr gebildeten Menschen oft gefunden.“ Musik ist im
0234Allgemeinen ernsthaft oder heiter. Aber es gibt streng ge-
0235nommen weder eine tragische, noch eine komische, noch eine
0236specifisch religiöse Musik. Ueber die classische Musik, die
0237das Stammkapital unserer heutigen Concerte bildet, folgen
0238einige treffende Bemerkungen. „Mit Haydn, Mozart,
0239Beethoven,“ sagt Billroth, „ist die Generation, der ich
0240angehöre, auferzogen. Ihre Werke waren unsere Jugend-
0241nahrung, sie bilden den Maßstab, mit welchem wir bewußt
0242oder unbewußt messen. Haydn und Mozart treten bereits
0243stark in den Hintergrund. Die jüngste Generation, die ihre
0244eigenen Studien mit Beethoven, Schubert, Schumann,
0245Brahms, Wagner, manchmal nur mit dem Letzteren beginnt,
0246muß sich bewußt in eine Art historischer Anempfindung ver-
0247setzen, um bei Haydn und Mozart überhaupt aufzumerken;
0248sie sind ihr kaum näher als Bach und Händel, denn nach
0249rückwärts gesehen, verkürzen sich die Entfernungen gewaltig [3]
0250rasch. Es ist nicht unmöglich, daß man in nicht zu langer
0251Zeit alle Vor-Beethoven’sche Musik als nicht interessant
0252genug beiseite setzt. Auch die Beethoven-Periode mit
0253ihren Epigonen wird einst vergessen sein.“ Billroth 
0254erzählt nun, wie er die ihm anfangs unsympathische
0255Musik Schumann’s erst später verstehen und lieben
0256gelernt hat. Ebenso erging es ihm mit Brahms. An
0257seinem eigenen Beispiel zeigt er uns, wie sich Musikfreunde
0258in neuere Musik hineinleben. Vor Allem gehört dazu ein
0259lebhaftes Interesse an der Musik überhaupt, bei einiger-
0260maßen fester Grundlage musikalischer Bildung. Je nach dem
0261Vertrauen und der Sympathie, welche man zu diesem oder
0262jenem Künstler oder Kunstkenner hat, wird man unbewußt
0263beeinflußt. Man wird geführt und führt Andere, und wenn
0264man auch nicht aus der Haut heraus kann, die uns ange-
0265boren ist und die sich von Jugend an um und mit uns
0266dehnt, so ändert man doch seinen Geschmack im Laufe eines
0267längeren Lebens vielfach, wie man ja auch seine Ansichten
0268über Dinge und Menschen ändert. Ueber Richard Wagner 
0269finden wir folgende Bemerkung: „In Hebbel’sNibelun-
0270gen“ entwickelt sich Alles zu dramatischem Leben; bei Wagner 
0271fließt Alles sich selbst erzählend hin, ohne Abschnitte, außer
0272den Zwischenacten. Jeder Gott und jeder Held spricht in
0273gleicher Weise; die musikalische Zeichnung der
0274Charaktere ist aufgegeben
; statt dessen hat jede
0275Figur ein sogenanntes Leitmotiv, welches kaum mehr be-
0276deutet als ihr Costüm. Trotz heißestem Bemühen, diesen
0277neuen Styl acceptabel zu finden, vermisse ich, von der
0278immer pathetisch daherwandelnden, breiten und dicken,
0279wenn auch manchmal sehr schönen Musik, meist den Zu-
0280sammenhang zwischen Orchester und Sängern. Der Gesang
0281ist da nicht die Hauptsache, und demnach treten die Sänger
0282in den Hintergrund; sie wachsen weder aus dem Orchester
0283heraus, noch in dasselbe hinein, sondern sie stehen nur
0284breitbeinig auf dem Orchesterteppich. Und dann der äußerst
0285seltene, durch Chöre und Ensembles unterbrochene Einzel-
0286gesang; es ist noch schlimmer, als viele Arien nach einander.
0287Dazu die endlosen Längen!“


0288Das Verhältniß des Künstlers zum Publi-
0289cum
bestimmt Billroth mit folgendem richtigen Ausspruch:
0290„Wissenschaft und Kunst können sich in Einzelnen ohne
0291Theilnahme weder entwickeln noch fortbestehen. Der Künstler 
0292kann nach und nach das Publicum zu sich erheben, doch er
0293muß sich wenigstens auf einen Theil desselben stützen können.
0294Die Entwicklung von Kunst und Wissenschaft, welche Fleisch
0295und Bein vom Menschen sind, ist eine organische, keine
0296Krystallisation um beliebig ausgeworfene Körper.“


0297Nach diesem längsten Capitel, in welchem Billroth am
0298persönlichsten hervortritt, behandelt das folgende (als „Skizze“
0299bezeichnete) das Verhältniß der Musik zu den übrigen Künsten.
0300Das Schlußcapitel endlich greift mit verdoppelter Energie zu
0301der Thesis des Ganzen zurück: „Wer ist musikalisch?
0302„Die Frage muß eigentlich lauten: Woran erkennt man, daß
0303Jemand musikalisch veranlagt und daß er musikalisch
0304gebildet ist? Der Begriff Musik ist ein sehr weiter; er
0305beginnt mit dem monotonen Rhythmus und reicht bis zur
0306Symphonie. Die Begabung nur für Rhythmus wird
0307man kaum für eine specielle, musikalische gelten lassen, son-
0308dern erst bei dem spontanen Auffassen und Behalten einer
0309Melodie. Was man unter dem „Verstehen“ eines Musik-
0310stückes begreift, ist wesentlich die Erkenntniß der Art, wie
0311und aus welchen Stücken es zusammengesetzt wurde. Zwei
0312Momente sind dabei von der allergrößten Wichtigkeit,
0313nämlich das Gedächtniß für das Vorübergezo-
0314gene
und für die Art seines Zusammenhanges.
0315Eine kurze Melodie immer wieder zu erkennen und sie
0316summend oder pfeifend richtig zu reproduciren, ist der
0317erste Grad des Verständnisses von Musik. Wer das nicht
0318vermag, der ist unmusikalisch. Bei einem höheren Grade
0319werden auch längere Melodien behalten, beim höchsten auch
0320die längsten. Wir können ein Werk nur dadurch verstehen,
0321daß wir die Theile unterscheiden lernen, aus welchen sich
0322das Werk zusammensetzt, das als etwas Zusammenhängen-
0323des an uns vorüberzieht, und das wir doch als Ganzes
0324empfinden. Die sogenannte musikalische Bildung besteht in
0325der Erkenntniß dieser Formen. Die musikalische
0326Bildung führt zum specifischen musikalischen
0327Gefühle
, was von dem übrigen Gefühle dadurch ver-
0328schieden ist, daß letzteres sich immer zu etwas Anderm 
0329wendet. Musikalische Schönheit ist ein Ding für sich, nur
0330aus den Tönen als Tonerscheinung auf uns wirkend. Das
0331Gefühl dafür ist ein rein ästhetisches, angeboren in der An-
0332lage. „Der in seiner musikalischen Bildung stehen Gebliebene
0333wird die Freude an seiner Jugendmusik, sagen wir an 
0334Haydn und Mozart, nicht verlieren, doch Schumann und
0335Brahms werden ihm unverständlich sein; er genießt von
0336allem uns Erfreuenden weniger als wir, doch dies schmeckt
0337ihm um so besser; er verlangt nicht mehr und ist mit
0338dem, was er hat, glücklich, und das ist doch wie bei allem
0339menschlichen Genießen die Hauptsache in unserem Verhält-
0340nisse zur Kunst. Freilich ist die Freudenempfindung aus-
0341gedehnter, je mehr von Kunst wir verstehen lernen, sie wird
0342aber nicht intensiver. Ob ich das höchste Glück bei einer Bach’-
0343schen Sarabande, einem Mozart’schen Andante empfinde,
0344oder bei einem Beethoven’schen Adagio, einem Liede von
0345Brahms, ist schließlich dasselbe; denn über das für uns
0346höchste Glücksgefühl kann das Subject nicht hinaus. Es
0347ist psychologisch interessant, daß der Mensch im Stande ist,
0348in dem reinen Tonspiele den höchsten Genuß zu finden,
0349ein Glücksgefühl, über das hinaus es kein höheres mehr
0350gibt, das in gewisser Beziehung gegenstandslos ist. Man
0351spricht daher wol von überirdischem Glück in der Musik,
0352ein Glück, welches in Sphären liegt, die anderen Menschen
0353nicht erreichbar sind, ein Glück, welches sich durch das
0354Studium der Formen steigert.“


0355Mit diesem Ausspruch, der uns so recht empfinden
0356läßt, wie innig Billroth in der Musik lebte und webte,
0357schließen seine Betrachtungen. Müde von nächtlicher Arbeit,
0358von anhaltendem Denken und Schreiben, scheint der bereits
0359schwer Leidende hier die Feder aus der Hand gelegt zu
0360haben. Er ergreift sie nur wieder, um ein kurzes, unsäglich
0361rührendes Schlußwort beizufügen, das in sicherer Todes-
0362ahnung wenige Tage vor seinem Ende geschrieben ist. Es
0363lautet: „Nacht ist’s; schon lange lautlose Stille um mich;
0364nun wird’s auch in mir still. Mein Geist beginnt zu wan-
0365dern. Ein ätherblauer Himmel wölbt sich über mir. Ich
0366schwebe körperlos empor. Es klingen die schönsten Har-
0367monien von unsichtbaren Chören, in sanften Wechsel gleich
0368dem Athem der Ewigkeit! Auch Stimmen nehm’ ich wahr,
0369die Worte sind ein leise rauschend Klingen: Komm’, müder
0370Mann, wir machen glücklich dich. In dieser Sphären Zauber
0371befreien wir dich vom Denken, der höchsten Wonne und
0372dem tiefsten Schmerz der Menschen. Du fühltest dich als
0373Theil des Alls, sei nun im ganzen All vertheilt, das Ganze
0374zu empfinden mächtig.“

Fußnoten
  • *)Wer ist musikalisch?“ Nachgelassene Schrift von
    Theodor Billroth. Herausgegeben von Eduard Hanslick.
    Berlin, bei Gebrüder Paetel, 1896.
  • **)Das bestätigen verschiedene von Billroth mitgetheilte Be-
    richte von Officieren deutscher, böhmischer, ungarischer und polnischer
    Regimenter. Sie stimmen in der Hauptsache darin überein, daß es
    Recruten gibt, die nie im Tact marschiren lernen; diese sind nur
    als Wärter, Handwerker u. dergl. zu verwenden oder werden zur
    Cavallerie transferirt. Es gibt sehr Ungeschickte, welche erst in
    acht bis zehn Wochen, Ungeschickte, welche erst in vier bis sechs
    Wochen maschiren lernen, aber in der Truppe immer als schlecht
    maschirend kenntlich sind und dieselbe verunstalten. Es sind ungefähr
    20 bis 30 Percent, zumal unter den Soldaten aus den Gebirgsländern.