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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11322. Wien, Sonntag, den 1. März 1896

[1]

Hofoperntheater.

(„Walther von der Vogelweide“, romantische Oper in drei Acten von Albert Kauders.)


0003Ed. H. Die Oper, zu welcher Herr Kauders Text
0004und Musik geschrieben, ist neuesten Datums. Wie mochte
0005uns dennoch die Handlung so altbekannt vorkommen? Der
0006Ritter, welcher in den heiligen Krieg ziehen muß, dort
0007schwer verwundet in ein Kloster getragen wird und in
0008der jüngsten Nonne seine Geliebte wiedererkennt — das
0009Alles haben wir ja als Gymnasiasten in vielen Romanen
0010und Dramen gelesen, auch als „Kreuzfahrer von Kotzebue“
0011aufführen sehen. Walther von der Vogelweide ist zwar meines
0012Wissens noch nicht als Titelheld einer Oper aufgetreten,
0013allein auch für unsere Novität gibt er nur den Namen her.
0014Man kann den Kauders’schen Heldentenor eben so gut Kurt
0015oder Adalbert heißen und die Herzogsburg anstatt Mödling 
0016etwa Nürnberg oder Wartburg. Die ganze Hand-
0017lung enthält nichts Individuelles, nichts was speciell
0018dem Charakter oder den Erlebnissen Walther’s angehört.
0019Denn daß man eines Walther’schen Liedes wegen gar
0020nicht den Dichter persönlich zu incommodiren brauche, be-
0021weist Herr Kauders selbst, indem er einer ganz andern
0022Person (dem Ritter Kuenring) Walther’sche Verse in den
0023Mund legt. Auch die Einschaltung anderer Citate aus den
0024Gedichten dieses größten mittelhochdeutschen Lyrikers fruchtet
0025wenig, da man in dem Orchesterschwall ohnehin kein Wort
0026davon versteht. Um Titel und Rang eines Opernhelden zu
0027verdienen, müßte dieser Walther irgend etwas, womöglich
0028etwas Heldenhaftes thun oder erleben. In den beiden ersten
0029Acten schwimmt er ausschließlich in Liebe und Lyrik: dann
0030freilich zieht er in den Krieg gegen die Ungläubigen. Hat
0031er das wirklich gethan? Es ist mit guten Gründen bestritten,
0032daß Walther den Kreuzzug von 1228 mitgemacht hat; nach
0033W. Scherer waren von ihm blos die Lieder gedichtet, unter
0034deren Gesang die Kreuzfahrer das heilige Land betraten.
0035Gleichviel. Dem Dichter verkümmern wir nicht sein altes
0036Recht, historische Nebensachen für seine Zwecke umzubiegen 
0037oder zu ignoriren. Wir bemängeln nur, daß dieser
0038Kauders’sche Walther von der Vogelweide sich durch nichts
0039von anderen gepanzerten Veilchenfressern unserer Rittercomödien
0040unterscheidet. Da war Ulrich von Liechtenstein schon ein
0041dankbarerer Opernstoff, mit seinen wunderlichen Einfällen und
0042Abenteuern. Freilich hätte dieser Don Quixote des Minne-
0043dienstes nicht pathetisch, sondern fein komisch behandelt wer-
0044den müssen.


0045Ich besinne mich, daß ich über die Handlung der neuen
0046Oper raisonnire, ohne sie zuvor dem Leser pflichtgemäß er-
0047zählt zu haben. Das ist bald geschehen. Zwei Minnesänger,
0048Reinmar (Herr Grengg) und der von seinen Fahrten
0049nach Oesterreich zurückgekehrte Walther (Herr Winkel-
0050mann
), lustwandeln im Gespräch vor der Burg Mödling.
0051Unversehens naht sich des Herzogs schöne Pflegetochter Hil-
0052gunde (Frau Schläger) im Jagdcostüm und erkennt in
0053Walther ihren geliebten Jugendgespielen. Sie fliegt ihm an
0054die Brust und Beide singen ein Liebesduett, womit der erste
0055Act schließt. Der zweite spielt im Burghof von Mödling.
0056Die schon im ersten Act stark hergenommenen Jagdhörner
0057ertönen neuerdings, dann begrüßt ein Festchor den von
0058seinen Jagdgenossen umgebenen Herzog (Herr Horwitz).
0059Ihm führt Reinmar den langvermißten holden Sänger
0060zu, ganz wie Wolfram im „Tannhäuser“. Walther singt ein
0061Lied von „hehrster Heimatliebe“ und erbittet sich zum
0062Lohn — Minnedank für Minnesang — die Hand Hilgundens.
0063Der Herzog gestattet dieser, nach ihrem Herzen zu wählen.
0064Aber ein gleichfalls in Hilgunde verliebter, äußerst auf-
0065geregter Ritter, Namens Kuenring (Herr Neidl), erhebt
0066Anspruch auf ihre Hand, obwol dieser „giere Geier“ bereits
0067im ersten Act den so- und sovielten Korb von ihr ein-
0068geheimst hat. Eben wollen die Rivalen ihre Schwerter
0069kreuzen, als sehr rechtzeitig von Wien Herzog Leopold’s
0070Aufruf zum Kreuzzug eintrifft. Walther äußert den sehr
0071begreiflichen Wunsch, zuvor wenigstens ein Jahr das Glück
0072an Hilgundens Seite zu genießen. Der Herzog jedoch,
0073ungehalten darüber, „daß ihn nicht rühret Zions Noth“,
0074tadelt „solche Rede, die heiligster Erkenntniß kündet Fehde“.
0075Auch Hilgunde meint: „Du bist zu hehr für eitle Weibes-
0076minne!“ — und so zieht denn der arme Walther „hin
0077zum heil’gen Land, zu kämpfen um das hehrste Pfand“.
0078Der dritte Act spielt zwei Jahre später in einem Nonnen-
0079kloster nächst dem Lager der Kreuzritter. Hilgunde, trauernd
0080um den todtgesagten Walther, kniet (ganz wie Elisabeth im
0081dritten Act) stumm in brünstigem Gebete. Der treue
0082Reinmar nähert sich ihr und beschwichtigt ihren „sehrenden
0083Gram“ mit dem Troste, daß ja Walther’s Tod nicht zweifel-
0084los beglaubigt sei. „Sein hehres Wort bewegt ihr das Herz,“
0085beugt aber nicht ihren Entschluß, das bindende Klostergelübde
0086abzulegen. Da erscheint Kuenring, der unverbesserliche korb-
0087gewohnte Liebhaber, schwört Hilgunden, daß Walther todt sei,
0088und erneuert in Einem Athem seine Liebesanträge. Allein
0089er „kann ihr nicht ersetzen des hehrsten Mannes Werth“,
0090und so tobt er sich denn in einer umfangreichen Haß- und
0091Rache-Arie aus, während man Hilgunde im Kloster ein-
0092kleidet. Schwerverwundet wird Walther hereingetragen. Zu
0093ihm tritt Hilgunde als Pflegerin in das Krankenzimmer;
0094sie erkennt ihn, verbleibt aber abseits. „Was gönnst du mir
0095nicht der holdesten Nähe heilenden Zauber?“ ruft der Kranke.
0096Hilgunde schlägt den Schleier zurück; wir hören ein zweites
0097und letztes Liebesduett. Es schließt mit einer heißen Um-
0098armung, bei welcher die Beiden von der Aebtissin über-
0099rascht werden. Ein jäher Tod befreit Hilgunden von dem
0100ihr angedrohten „tiefsten Verließ“.


0101Dem Leser dürften an diesem Stoff sofort zwei sehr
0102bedenkliche Eigenschaften aufgefallen sein. Einmal die außer-
0103ordentliche Dürftigkeit der Handlung, welche nur durch maß-
0104loses Ausdehnen der einzelnen Scenen die Dauer eines
0105Theaterabends auszufüllen vermag. Sodann die sehr nahe
0106Verwandtschaft der Handlung und der Charaktere (noch
0107ganz abgesehen von der Musik) mit Wagner’schen Opern,
0108Unleugbar ist die Aehnlichkeit Walther’s mit dem Tannhäuser,
0109der auch nach langer Irrfahrt von der Geliebten schwär-
0110merisch begrüßt wird, dann vor der höfischen Versammlung
0111singt und schließlich nach schmerzlichem Kampfe fortstürzt,
0112„auf nach Rom!“ Der Herzog, edel, weise, deutsch und
0113langweilig, ist ein genauer Nachdruck des Landgrafen Her-
0114mann; Reinmar, der treue, selbstlose Freund und Beschützer
0115des Liebespaares, ein Seitenstück zu Wolfram. Glauben
0116wir in den zwei ersten Acten uns auf die Wartburg ver-
0117setzt, so erinnert uns der dritte an Tristan und Isolde.
0118Ueber den todtkranken Walther (der mit dem todtkranken
0119Tristan die erstaunliche Stimmkraft und Ausdauer gemein
0120hat) beugt sich Hilgunde, ganz wie Isolde, in schmerz[2]-
0121licher Entsagung. Sie stirbt nach einem langen Liebesduett
0122(oder an demselben) schleunigst den von Wagner erfundenen,
0123in der Medicin unbekannten „Liebestod“.


0124So viel von dem Textbuch. Hört man die Musik
0125dazu, so glaubt man jeden Augenblick Wagner zu ver-
0126nehmen. Mir ist kein zweites Beispiel vorgekommen, wo ein
0127Componist so vollständig, bis zur gänzlichen Selbstvergessen-
0128heit sich in die Ausdrucksweise, in den Ton, die Form, die
0129Gesten eines Andern verlieren konnte. Herr Kauders ist
0130ganz und gar in die Haut Wagner’s hineingeschlüpft, was
0131leider zur Folge hat, daß wir weder einen echten Kauders 
0132vor uns haben, noch einen echten Wagner. Die Methode
0133Wagner’s, den Singstimmen nur eine erhöhte Declamation
0134über einer ununterbrochen selbstständig fortarbeitenden
0135Orchesterbegleitung zuzutheilen, ist von Kauders mit pein-
0136licher Genauigkeit beibehalten. Da seine Personen sich nicht
0137durch charakteristische wirkliche Melodien auszeichnen (wie
0138bei Mozart oder Weber), so geschieht es, daß in dieser angeblich
0139allerdramatischesten Musik Einer so singt wie der Andere.
0140Man lasse in den Gesängen Walther’s, Reinmar’s, Hilgun-
0141dens die Worte weg und sehe dann zu, ob man die Per-
0142sonen nach ihrer Individualität zu unterscheiden vermag.
0143Sie singen Alle in dem gleichen Ton pathetischer Salbung
0144oder verzückter Exaltation. Kauders’ Musik setzt sich aus
0145lauter Wagner’schen Redensarten zusammen, oft musivisch
0146aus ganz kleinen Partikeln derselben. Eigentlich nachahmen
0147läßt sich nur die Manier, und ganz ohne Manier ist kein
0148Meister. Durch die Nachahmer kommt sie erst recht zum
0149Vorschein. Wir finden bei Kauders die uns wohlbekannte
0150sprunghafte, oft unnatürliche Declamation Wagner’s, zum
0151Beispiel wenn Reinmar in dem Worte „Herzog“ die zweite
0152Sylbe um eine Octave hinaufsteigen läßt und der-
0153gleichen. Auch der altmodische sentimentale Doppel-
0154schlag, eine Lieblingszierde von Wagner’s früheren
0155Opern, kräuselt zahlreiche Wässerlein im „Walther“. Bis
0156auf die Vortragsanweisungen erstreckt sich der Wagner’sche
0157Einfluß; die Kauders’schen Personen müssen „mit großer
0158Betonung“, „mit großem Ausdruck“ singen, auch wenn sie
0159uns gar nichts Großes zu sagen haben. Die Solostimmen,
0160auch der Chor, bewegen sich meist in anstrengend hoher
0161Lage; in dem langen Finale des zweiten Actes legen sie
0162mit und gegen einander so furchtbar los, als wollten sie
0163ihre eigene Langweile übertäuben. Das Schwergewicht liegt 
0164natürlich im Orchester. Manche Einzelheit des sorgsam aus-
0165getiftelten Accompagnements würde interessiren, schlüge nur
0166in diesem Tumult von Orchester-Effecten nicht einer den an-
0167dern todt. So werden wir bald stumpf und ermüdet durch
0168dieses nervöse Wühlen der Begleitung, die mit ihrem fort-
0169währenden Farbenwechsel, ihren unaufhörlichen Modulatio-
0170nen, enharmonischen Rückungen und Trugschlüssen keinen
0171Augenblick zur Ruhe kommt. Den Clavierauszug durchzu-
0172spielen, kostet keine kleine Arbeit, denn jeder Tact wimmelt
0173von Kreuzen und Auflösern, Doppelkreuzen und Doppel-B.
0174Das angenehme Gefühl der Sicherheit genießen wir
0175kaum minutenlang; immer schwankt der Boden der
0176Tonart vulcanisch unter unseren Füßen. Eine Musik,
0177die nicht Musik sein will, sondern nur „Ausdruck“, glaubt
0178jedes gesungene Wort im Orchester mit einem entsprechen-
0179den Farbenklecks interpretiren zu müssen. Zusammen geben
0180aber diese Farbenkleckse im „Walther“ ebensowenig ein Bild,
0181wie die Wellenlinien der Gesangspartien eine bestimmte
0182Zeichnung. Oben und unten liegt die Schuld, daß nirgends
0183eine Melodie plastisch hervortritt. Erst gegen Ende der Oper
0184überrascht uns ein Gebet der Hilgunde („Die hehr du
0185thronest“) über einfach begleitenden Accorden. Offenbar hat
0186die Situation dem Componisten Elisabeth’s Gebet ins Ge-
0187dächtniß gerufen, wie denn fast jede Nummer im „Walther“
0188auf ein Wagner’sches Beispiel zurückweist. Die Exaltation des
0189Orchesters steigert sich mitunter an recht unpassender Stelle
0190zur Janitscharenmusik, z. B. in Kuenring’s Bericht über
0191Walther’s Tod. Da toben Becken, große und kleine Trommel,
0192als spielte die Schlacht leibhaftig auf der Bühne, während
0193doch von ihr nur beiläufig erzählt wird. Ungern erinnern wir
0194uns auch gewisser gräßlich dissonirender Accordfolgen, wie zu
0195Hilgundens Worten: „Fahre hin, du trügend Hoffen“, oder
0196in dem Schlußduett: „Der Tod allein kann uns noch scheiden.“
0197Flüchtig tauchen hin und wieder Lichtblicke auf, wenn der
0198Componist es versucht, natürlich zu sprechen und seine
0199Melodien-Fragmente zu musikalischer Form zusammenzufassen,
0200wie in dem „Tandareilied“ und einigen Stellen im letzten
0201Liebesduett. Fassen wir nach diesen Einzelheiten das Ganze
0202ins Auge, so müssen wir den großen Fleiß, die technische
0203Geschicklichkeit, endlich die aufrichtig ideale Tendenz des
0204Autors anerkennen. Das Alles bleibt leider machtlos gegen
0205die Unfruchtbarkeit des Bodens. Dem Componisten fehlt
0206eben jede Spur von Originalität und schöpferischer Kraft. 
0207Als ich bei Durchsicht der Partitur die auffallend Wagner-
0208schen Stellen anzustreichen begann, mußte ich nach den
0209ersten Tacten aufhören und entschloß mich lieber zu dem
0210kürzeren Wege, blos die original Kauders’schen Themen zu
0211bezeichnen — da kam ich aber gar nicht zum Anfang. Nur
0212eine ruhigere, hübsch klingende Chormelodie („Liebreich
0213von Sinnen“), die sich im zweiten Finale unzähligemale
0214wiederholt, erinnerte mich nicht an Wagner. Sie ist von
0215Gounod, in dessen „Romeo und Julie“ sie am Schlusse
0216des „Prologs“, dann als Einleitung und Ende des Liebes-
0217duetts im vierten Act eine bedeutsame Rolle spielt. Im
0218Uebrigen so ziemlich Alles Wagner: copirter oder verwässerter
0219oder vergröberter Wagner. Nur noch Ein Schritt weiter
0220auf diesem Wege und es entsteht etwas wie eine Wagner-
0221Parodie, ein erheiternder „Walther von der Vogelscheuche“.
0222Aber diese letzte Schritt unterbleibt; der Componist ver-
0223harrt in seinem hehren Ernste und überläßt uns einer
0224sehrenden Langweile. Aus diesem neuesten Opernversuch kann
0225man wieder einmal lernen, wie leicht und zugleich wie
0226gefährlich es ist, ohne Wagner’s Geist in Wagner’schen
0227Formeln zu componiren. „O Walther, der du also sangest“
0228— sei den Jungen ein warnender Freund!


0229Die Aufführung der neuen Oper verdient alles Lob. Sie
0230ist schön ausgestattet und von Hanns Richter gewissenhaft
0231einstudirt. Die Hauptdarsteller, Frau Schläger, die
0232Herren Winkelmann, Neidl und Grengg hatten
0233ihre besten Kräfte eingesetzt und wurden nach den Actschlüssen
0234gerufen. Trotzdem läßt sich kaum behaupten, daß „Walther
0235von der Vogelweide“ gefallen hat und daß das von Herrn
0236Kauders dem Minnesänger errichtete Monument so lange
0237dauern werde, wie dessen Erzstandbild auf dem Promenade-
0238platz zu Bozen. Unser Publicum ist zwar überwiegend
0239wagnerisch, erkennt aber doch mit richtigem Instinct, daß
0240Einer, der drei Stunden lang geläufig wagnert, darum noch
0241kein Wagner ist. Uebrigens schienen die Zuhörer die erlittene
0242Enttäuschung mehr der Direction des Hofoperntheaters, als
0243dem Componisten zur Last zu legen. Einem Autor kann es
0244ja kein Mensch verdenken, wenn er sein Werk vortrefflich
0245findet und damit vorzudringen sucht. Ob aber im vorliegenden
0246Falle nicht die Hofopern-Direction gar zu wenig Rücksicht
0247auf ihr Publicum und ihre Künstler bewiesen habe, ist eine
0248andere Frage.