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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11343. Wien, Sonntag, den 22. März 1896

[1]

Hofoperntheater.

Das Heimchen am Herde“, Oper in drei Acten von Karl Goldmark.


0003Ed. H. Man wollte es gar nicht glauben. Hat Gold-
0004mark
sich wirklich Dickens’ friedliches Heimchen auserwählt für
0005seine neue Oper? Das klang ungefähr so überraschend, wie
0006kurz zuvor die Nachricht, der alte Verdi componire eine
0007komische Oper „Falstaff“. Denn gleich Verdi ist Goldmark 
0008eine eminent pathetische Natur, welcher man so wenig wie
0009früher Bellini und Spohr einen heiteren, kleinbürgerlichen
0010Stoff zugemuthet hätte. In der „Königin von Saba“ die
0011Feierlichkeit und leidenschaftliche Gluth des Orients, in
0012Merlin“ die mit dämonischen Elementen versetzte mythische
0013Ritterwelt — in beiden Opern auch äußerlich die berauschende
0014Pracht fremdartiger Gewandung und Landschaft. Selbst in
0015seinen Concert-Ouvertüren blieb Goldmark der Poet des
0016tragischen Kampfes und Untergangs: Penthesilea, Sakuntala,
0017Prometheus, Sappho. Und nun plötzlich diese Einkehr bei
0018gutmüthigen armen Landleuten, wo Keinem die Leber aus-
0019gehackt, Niemand von Amazonenhänden zerfleischt oder von
0020Liebesnoth zum leukadischen Felsen getrieben wird! „Das
0021Heimchen am Herde“ ist eine der populären Geschichten,
0022wie sie Dickens eine zeitlang alljährlich seinen Lesern zum
0023Weihnachtsfest bescheerte. Nebst den „Weihnachtsglocken“ hat
0024das „Heimchen“ den größten Erfolg und in England 
0025beispiellose Popularität erlangt. Dickens war in das Thema
0026förmlich verliebt. „Es würde,“ schrieb er 1845 an John
0027Forster, „ein schöner und zarter Gedanke für ein Weih-
0028nachtsbuch sein, das Heimchen zu einem kleinen Hausgott
0029zu machen, welcher schweigt bei dem Unrecht und dem
0030Schmerz der Geschichte und wieder laut wird, wenn Alles
0031gut und glücklich abläuft.“ Er hatte sich nicht getäuscht.
0032Thackeray nannte das Buch „eine nationale Wohlthat
0033und für Jeden, der es liest, eine persönliche Gunst“. Für
0034die Bühne ist, meines Wissens, noch keine von Dickens’
0035Erzählungen bearbeitet worden, wenn auch der Dichter selbst
0036etliche Kleinigkeiten für ein Liebhaber-Theater geschrieben
0037und darin selbst mitgespielt hat. Der große Erfolg von Gold-
0038mark’s Oper beweist, daß der Componist einen glücklichen
0039Griff gethan und an A. Willner einen dankenswerthen
0040Bearbeiter gefunden hat.


0041Bei Dickens spielt die Geschichte am Weihnachtsabend.
0042Der Fuhrmann John Peerybingle, der die Post aus dem
0043nächsten Städtchen bringt, wird von seiner muntern jungen
0044Frau Marie — er ruft sie bei dem Scherznamen Dot 
0045(Punkt, Klecks) — und ihrem Knäblein erwartet. Nachdem
0046er die ungeduldige Menge, die nach Briefen und Paketen
0047drängt, befriedigt hat, erinnert er sich, daß ein Fremder,
0048den er im Postwagen mitgebracht, noch draußen stehe. Es
0049ist ein stiller alter Herr, etwas erfroren und so taub, daß
0050er jeder Frage, jeder Ansprache ausweicht. Er hat guten
0051Grund dafür, denn er will nicht erkannt sein. In der Ver-
0052kleidung steckt nämlich Edward Plummer, ein Jugendgespiele
0053Dot’s. Vor einigen Jahren hat er als Matrose die Reise
0054über das Weltmeer angetreten und daheim eine Geliebte
0055zurückgelassen, die arme May, der er die Treue bewahrt.
0056Die Nachricht, daß sie sich einem reichen alten Geizhals,
0057Tackleton, verlobt habe, treibt ihn nach Hause, wo er vor-
0058erst unerkannt sich überzeugen will. Mit einem leisen Wort
0059gibt er sich Dot zu erkennen. Sie erbleicht, faßt sich aber schnell und
0060bewahrt das Geheimniß vor ihrem Manne, dessen zutäppische
0061Ehrlichkeit den Plan vereiteln könnte. Wer zuerst Verdacht
0062schöpft und den guten John mißtrauisch macht, ist Tackleton,
0063der alte Spielwaaren-Händler, der sich der verwaisten May 
0064als Bräutigam aufdringt. Er zieht John hinaus, und Beide
0065belauschen, wie Dot mit dem Fremden eifrig und vertraut
0066spricht, ihn sogar in der Freude des unverhofften Wieder-
0067findens umarmt. John, von Schmerz und Eifersucht über-
0068wältigt, beschließt, den Fremden am nächsten Tage zu tödten
0069und das untreue Weib ziehen zu lassen. Da beginnt das
0070Heimchen am Herd zu zirpen. „Kein Ton, den er hätte
0071hören können, keine menschliche Stimme, nicht einmal die
0072ihre, würde ihn so bewegt, so ergriffen und beruhigt
0073haben.“ Das Gesprach, das jetzt das tröstende Heimchen mit
0074John führt (der Librettist hat es in einen Monolog ver-
0075wandelt), gehört zu den sinnigsten, hübschesten Stellen der
0076Erzählung. Man weiß ja, wie bei Dickens Alles Leben und Person
0077wird. In der Fähigkeit, Thiere reden zu machen, ist er unver-
0078gleichlich. Die zahlreichen Vögel in seinen Romanen, der Rabe
0079Barnaby’s, das Hündchen Jip im Copperfield, unser Heimchen am
0080Herd sind lebensvolle Genrebilder. John wird durch einen Traum 
0081getröstet und bezwingt sich, bis er andern Tages erfährt,
0082daß der Fremde kein Anderer als Edward sei. Dieser weiß
0083durch eine geschickte Verschwörung unter den Burschen des
0084Dorfes Tackleton an dessen Hochzeitstag zurückzuhalten; er
0085selber fährt in Tackleton’s Wagen mit May zur Kirche,
0086von wo sie als junges Ehepaar zurückkehren.


0087Herrn A. Willner gebührt die Anerkennung, seinem
0088Componisten ein sehr dankbares Libretto geliefert zu haben.
0089Die Umformung dieser Erzählung zur Oper hat allerdings
0090mancherlei Aenderungen nothwendig gemacht. So führt uns
0091Dickens einige originelle, scharfgezeichnete Personen vor,
0092welche Herr Willner fortließ, weil sie in die eigentliche
0093Handlung nicht eingreifen, wie zum Beispiel der alte Caleb,
0094ein bei Tackleton beschäftigter armer Arbeiter, der seine
0095blinde Tochter Bertha in dem glücklichen Wahn erhält,
0096sie hätte eine sehr schöne Wohnung und gute Kleider. Auch
0097hat der Librettist die Geschichte aus dem Duft der Christ-
0098bäume und der glitzernden Schneelandschaft in den
0099Sommer verlegt, vielleicht um das Heimchen, das
0100doch ans Herdfeuer gehört, aus einem Rosenbusch
0101hervortreten zu lassen. Dieser Zug, wie überhaupt die Aus-
0102breitung der Elfenscenen verräth den effectkundigen Ballet-
0103dichter. Eine starke Unwahrscheinlichkeit hat er sich mit dem
0104verkleideten Edward erlaubt. Dieser singt in Goldmark’s
0105Oper mit frischer Tenorstimme ein langes Seemannslied
0106vor seiner Geliebten, und — sie erkennt ihn nicht, singt
0107sogar die Schlußstrophe mit. Ja, Alle halten ihn trotz
0108seines jugendlichen Organs für einen alten Mann! Noch
0109mehr: im dritten Acte singt er wieder ein Lied voll deut-
0110lichster persönlicher Anspielungen, und seine Geliebte ahnt
0111noch immer nicht, wer neben ihr steht. Dazu gehört ein
0112wahrer Köhlerglaube, wenn dieser Ausdruck heute, wo die
0113Köhler auch nicht mehr Alles glauben, gestattet ist. Eine
0114Entschuldigung liegt nur in der zwingenden musikalischen Rück-
0115sicht auf den ersten Tenor. Aber eine andere, ganz willkürliche
0116Aenderung des Originals, für die nicht die geringste Nöthigung
0117vorlag, erscheint uns um so bedenklicher. Herr Willner be-
0118seitigt das Söhnchen John’s (das er allenfalls etwas älter
0119machen konnte) und versetzt dafür Frau Dot in gesegnete
0120Umstände. Für die Bühne sind derlei Umstände kein Segen.
0121Am wenigsten, wenn sie fortwährend so nachdrücklich be-
0122sprochen werden. Gleich zu Anfang erzählt das Heimchen 
0123dem Publicum, daß Frau Dot in der Hoffnung ist. Hierauf [2]
0124singt Frau Dot eine ganze Arie darüber, daß sie in der
0125Hoffnung ist. Im dritten Acte widmet sie besagter Hoffnung
0126ein eigenes Duett mit ihrem Manne, welcher darob in ein
0127bei armen Fuhrleuten nur selten vorkommendes Entzücken
0128geräth. Unser Textdichter gefällt sich ungemein in dieser em-
0129pfindsamen Hebammenlyrik; mir will sie weder zart noch
0130geschmackvoll vorkommen. Auf die Bühne gehören nur fertige
0131Kinder.


0132Also Goldmark Componist einer kleinen, gemüth-
0133lichen Dorfgeschichte! Nicht wenig überrascht von diesem
0134Stoff, waren wir noch neugieriger darauf wie gerade Gold-
0135mark ihm musikalisch beikommen werde. Natürlich war er
0136sich darüber klar, daß die Hütte des Fuhrmanns ein ganz
0137anderes Colorit erheischt, als König Salomon’s Palast oder
0138der Zaubergarten Merlin’s. Aber wird seine Natur es her-
0139geben, wird er sich so weit verleugnen, verwandeln können?
0140In der That, die Metamorphose ist ihm erstaunlich gelungen.
0141Goldmark hat seine überströmende Lyrik gleichsam in
0142Röhren gefaßt und sein volltönendes Pathos zwanglos
0143auf den Ton einer schlichten Haus- und Herzensgeschichte
0144herabgestimmt. Im „Heimchen“ waltet eine künst-
0145lerische Selbstverleugnung, ein ruhiges Ebenmaß, das,
0146ich wiederhole es, Wenige von Goldmark erwartet
0147hätten. Was die neue Oper auf den ersten Blick
0148auszeichnet, ist ihre Abkehr vom modernen „Musik-
0149drama“, von dem angeblich allein dramatischen und allein-
0150seligmachenden System Wagner’s. Im „Heimchen“ wechseln
0151Strophenlieder, Arien, Duette und Chöre; freie Parlando-
0152sätze flechten sich in die Cantilene; Liebende und Eheleute
0153geniren sich nicht, in Terzen zu singen; einzelne Wörter
0154und Sätze werden ohneweiters wiederholt, mitunter sogar
0155(wie in John’s „Alt und jung“) sehr oft. Die Melodien,
0156meistens sangbar und einfach, bewegen sich in faßlichen
0157Rhythmen und Perioden; die Singstimmen herrschen,
0158das Orchester begleitet — allerdings sehr theilnehmend.
0159So predigt denn das „Heimchen“ die nie veraltende
0160Wahrheit, daß Musik ohne die Gesetze der Form
0161und Symmetrie nicht existiren kann, soll sie nicht
0162zu bloßem Sinnenrausch und pathologischem Nerven-
0163reiz herabsinken. Was uns an Goldmark’s neuer Oper
0164zunächst erfreut und noch Tausende erfreuen wird,
0165ist der natürliche Ausdruck der Empfindung. Goldmark,
0166welcher („un chercheur“, wie die Franzosen sagen) in seinen 
0167früheren Werken gerne auf die Suche nach Appartem, Un-
0168gewöhnlichem ausging, dem jedes starke Gefühl leicht in
0169Ekstase, jedes Reizmittel in ätzende Schärfe überschlug, der-
0170selbe Goldmark findet im „Heimchen“ den liebenswürdigen,
0171maßvollen Ton des Familienstückes und weiß ihn, sogar
0172mit glücklichen Abstechern ins Komische, festzuhalten. Wahr-
0173heit des Ausdruckes ist die erste Forderung an den Opern-
0174componisten, aber nicht die einzige. Finden wir sie ja auch
0175in manchen sehr reizlosen Gesängen erfüllt. Es muß noch
0176ein positiver, schöpferischer Factor hinzutreten. Und in diesem
0177Betracht läßt sich nicht leugnen, daß die Gesänge im
0178Heimchen“ uns Manches schuldig bleiben. Sie klingen
0179nicht alle neu und originell. Ich erinnere beispielsweise
0180an May’s Strophe „Einst war’s so schön“, an Dot’s
0181„Ein junges Weib“, an Edward’s „Ach Heimat“ und
0182„O eitel Glück“; unter den heiteren Gesangsstücken an
0183John’s Fuhrmannslied, an Tackleton’s Entrée und seine
0184Bräutigamsstrophen im dritten Acte, an die Chöre „Guten
0185Abend“, „Hurrah, Herr Bräutigam“ und „Lauf nur, lauf
0186nur!“ Die eigentlich melodische Erfindung im „Heimchen“
0187ist etwas dürftig; sie schmeckt stellenweise nach Lortzing, ja
0188noch weiter zurück nach Dittersdorf und Wenzel Müller.
0189Und dennoch erfreute sich das Publicum herzhaft an diesen
0190Gesangsstücken, die in ihrer rothwangigen Gesundheit sich nicht
0191fürchten vor dem drohenden Schatten des jungen Goldmark. Daß
0192solcher musikalischen Einfalt nicht das Salz fehle, dafür
0193sorgt die Begleitung. Durch ein stets charakteristisches und
0194interessantes Orchester, das uns bald durch satte Farben,
0195bald durch zarte Lichter entzückt, weiß Goldmark auch dürftige
0196Zeichnungen schön und lebensvoll zu coloriren. Hand in
0197Hand mit diesem Klangreiz wirkt seine harmonische Kunst. Man
0198weiß, wie meisterlich Goldmark diese handhabt; sie würzt auch
0199das „Heimchen“, und recht stark, wird aber nie so beißend,
0200wie manchmal in seinen früheren Compositionen. Immerhin
0201erkennen wir an einzelnen Manieren (und Goldmark hat
0202deren wie jeder Künstler) den „Hofcomponisten der Königin
0203von Saba“, wie er einmal einem Fremden vorgestellt
0204wurde. Die scharfen Modulationen, das Nisten in
0205chromatischen und enharmonischen Gängen, insbesondere
0206die auf- und niederrauschende Jagd chromatischer Accord-
0207folgen! Diese Figur ist das theilnehmende Heimchen
0208am Goldmark’schen Herde, das sich jederzeit meldet,
0209wenn etwas los ist, Frohes oder Schmerzliches. Wir hören 
0210es lärmen, wenn John die Eifersucht quält und ebenso,
0211wenn die Bauern mit ihren Postpaketen forteilen. Das
0212Glänzendste als Orchester-Zauberer vollbringt aber Gold-
0213mark auf seinem eigensten Gebiet, der Welt des Phan-
0214tastischen. Die Elfenchöre („Zum Tanz!“) mit dem Traum-
0215bild am Schluß des zweiten Actes und die „Apotheose“
0216(um in der Sprache des Ballets zu reden, wohin es auch
0217gehört) schimmern in märchenhaftem Glanz. Und das so
0218enthusiastisch aufgenommene Vorspiel zum dritten Act,
0219welches die lustigen Chor- und Tanzmotive der Tackleton-
0220Scenen vorausnimmt und in anwachsender Stärke und
0221Schnelligkeit bis zur Berauschung steigert! Gern hätte ich
0222auf manche schöne Einzelheit noch hingewiesen (wie auf das
0223prächtige Es-dur-Quintett), wäre mein Bericht nicht schon
0224ungebührlich angewachsen. Es muß auch der Aufführung ihr
0225Recht widerfahren.


0226Die Novität ist von Herrn Director Jahn sorgfältig
0227vorbereitet und dirigirt, überdies sehr hübsch ausgestattet.
0228Fräulein Renard singt die Frau Dot mit ungeschminkter
0229Empfindung und liebenswürdiger Laune, Herr Schrödter 
0230(der nur zu jung aussieht in der Verkleidung) den Edward 
0231frisch und beherzt. Herr Ritter ist ein gemüthvoller
0232wackerer John, Herr v. Reichenberg ein ergötzlich
0233komischer Tackleton. Neben diesem vortrefflichen Quartett
0234bietet Frau Forster als Elfe ein entzückendes Bild, und
0235Fräulein Abendroth als sentimentale May eine sehr an-
0236nehmbare Leistung, wie fast immer, wo sie nicht in erster
0237Linie steht. Die Oper erzielte einen außerordentlichen Erfolg.
0238Das Intermezzo vor dem dritten Acte (eigentlich eine aus-
0239gewachsene Ouvertüre) muß wiederholt werden — eine
0240Virtuosenleistung unseres berühmten Orchesters. Alle Mit-
0241wirkenden und mit ihnen Goldmark wurden nach den Act-
0242schlüssen wiederholt stürmisch gerufen. Die Oper hat an
0243dem „Heimchen“ ein Zugstück gewonnen, das noch kräftiger
0244wirken müßte, wenn das allzu schleppende Tempo der
0245sentimentalen Nummern etwas beschleunigt und einige er-
0246müdende Tänze beseitigt würden. Unsere Freude über Gold-
0247mark’s neuesten Erfolg ist stark und aufrichtig. Sie gilt
0248nicht nur dem ausgezeichneten Künstler, sondern ebenso sehr
0249dem Manne, dessen charaktervolle, jeder Reclame abholde
0250Persönlichkeit in so hohem Grade die allgemeine Achtung
0251und Sympathie genießt.