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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11475. Wien, Dienstag, den 4. August 1896

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Hanns v. Bülow’s Briefe.


0002Ed. H. Die vor mir liegende Sammlung Bülow’scher
0003Briefe ist ganz eigentlich eine Autobiographie in Corre-
0004spondenzform.*) Zwei starke Großoctavbände von je 500
0008und 400 Seiten — und doch nur die Zeit von Bülow’s
000911. bis zu seinem 25. Jahre umfassend! Also seine Kinder-,
0010Lehr- und ersten Wanderjahre. Erst die folgenden Bände sollen
0011von seiner künstlerischen Reise sprechen und von seinem
0012Ruhme. Hanns v. Bülow hat musikalisch in dreifacher
0013Eigenschaft gewirkt: als Componist, als Clavier-Virtuose
0014und als Dirigent. Sein schöpferisches Vermögen, weder
0015reich noch eigenartig, konnte ihm einen Platz in der Musik-
0016geschichte nicht erobern; die wenigen gedruckten Composi-
0017tionen Bülow’s sind längst vergessen und haben niemals
0018lebendig gewirkt. Als Virtuose hingegen und als Dirigent
0019entfaltete er ein glänzendes Talent und eine bewunderungs-
0020würdige Thätigkeit. Auf diesem Gebiete einer der Allerersten
0021gewesen zu sein, reicht das hin, wird man fragen, zu einem so
0022pyramidalen literarischen Denkmal wie diese, nur den An-
0023fang bildenden zwei Bände? Gerade an erstaunlichen
0024Clavier-Virtuosen und genialen Dirigenten ist unsere Zeit
0025nicht arm; sie ist daran reicher, als irgend eine frühere
0026Periode. Welche Ausnahmsstellung gebührte also Bülow 
0027gegenüber seinen gefeiertsten Collegen? Die einer geistvollen,
0028hochgebildeten, in allen Lebensäußerungen energischen
0029und interessanten Persönlichkeit. Und darum lesen
0030wir seine Briefe mit so lebhaftem Antheil. Bülow’s ver-
0031ehrungswürdige Witwe (eine geborene Wienerin, als Fräu-
0032lein Schanzer ein hervorragendes Mitglied des Meininger 
0033Hoftheaters) hat durch die Herausgabe der Briefe wie durch
0034ihre vortrefflichen biographischen Erläuterungen dazu sich
0035ein unleugbares Verdienst erworben, nicht blos um das An-
0036denken ihres Gatten, sondern auch um die musikalische
0037Specialgeschichte der letzten 45 Jahre. Es ist an diesen
0038Bänden viel zu loben und zu lernen. Eben deßhalb möchte
0039ich ein kleines Bedenken mir lieber jetzt gleich vom Herzen
0040reden, um dann ganz unbeirrt das Gegebene zu genießen.
0041Dieses Bedenken richtet sich gegen die enorme Ausdehnung
0042und Ueberfülle der Briefsammlung. Zwei so dicke Bände, 
0043und das Alles nur Briefe aus Bülow’s ersten 25 Jahren!
0044Das heißt doch, um ein Wort Shakespeare’s anzuwenden,
0045„to make the service greater than the god“. Die Briefe
0046aus Bülow’s Knabenjahren hätten wol wegbleiben dürfen;
0047sie interessiren doch nur seine Familie. Man sehe die Briefe
0048an seine Schwester Isa, mit all den kindischen Fragen und
0049Mittheilungen über das kleine Hündchen, die Circusvor-
0050stellungen und dergleichen; man lese die neun Druckseiten
0051füllende Reisebeschreibung des 16jährigen Hanns an seine
0052Mutter, die eingehenden Berichte über die Krankheit des
0053„kleinen Arnoldchen“ u. s. w. Aber auch die späteren Briefe
0054hätten eine strengere Auswahl vertragen. Bülow schildert
0055nämlich dieselben Erlebnisse oft in zwei, auch drei ver-
0056schiedenen Briefen: an seinen Vater (in der Schweiz), an die
0057Mutter und die Schwester (in Dresden), an die Freunde
0058Raff, Uhlig, Cornelius; in späterer Zeit an Liszt und an
0059die Mutter. Schreibt er doch selbst einmal aus Weimar 
0060an seine Schwester: „Du hast keinen Begriff, wie gräßlich
0061es ist, zweimal dasselbe sagen zu müssen, zudem wenn man
0062über einen langweiligen Gegenstand Mittheilungen macht.“


0063Wichtiger und interessanter werden die Briefe von
00641848 bis 1849. Da finden wir den jungen Bülow als
0065Studirenden der Jurisprudenz an der Universität Leipzig.
0066Es war mehr der Wille der Eltern als sein eigener Wunsch,
0067was ihn zur Juristerei führte. Hatte er doch bereits Proben
0068einer ungewöhnlichen Musikbegabung abgelegt, sogar in
0069Stuttgart schon 1845 öffentlich concertirt. Allein seine
0070Eltern konnten sich mit dem Gedanken nicht befreunden,
0071daß ihr Sohn die so unsichere, obendrein für den Träger
0072eines altadeligen Namens unpassende Virtuosenlaufbahn
0073erwähle. Er hatte es übrigens nicht zu bereuen, sich eine
0074zeitlang mit Jurisprudenz, Philosophie und Sprachen be-
0075faßt zu haben — Studien, denen er die Erweiterung seines
0076geistigen Horizonts und damit die Ueberlegenheit über die
0077meisten seiner Fachgenossen verdankte. Der Aufenthalt in
0078Leipzig während des Revolutionsjahres 1848/49 brachte ihm
0079peinvolle Stunden. Bülow war von Herzen demokratisch
0080gesinnt, so gern er in seinem gesellschaftlichen Auftreten den
0081„Cavalier“ merken ließ. Hielt er es doch trotz seiner Mittel-
0082losgkeit für unschicklich, von zwei vornehmen Damen in
0083Weimar Honorar anzunehmen für den ihnen ertheilten
0084Clavierunterricht; er habe „großen Widerwillen gegen diesen
0085unadeligen Act“. Aber in der Achtundvierziger-Bewegung
0086stand er mit allen seinen Sympathien auf Seite des Volkes
0087und mußte täglich schweigend, knirschend anhören, wie seine 
0088hochconservativen Verwandten, bei denen er wohnte, jede
0089freiheitliche Regung verdammten. Natürlich wurde da auch
0090Richard Wagner wegen seiner Theilnahme an der
0091Revolution heftig geschmäht, er, den der junge Bülow 
0092schwärmerisch verehrte. „Ich wollte dir etwas ver-
0093schweigen,“ schrieb er nach dem Dresdener Mai-Aufstande
0094an seine Mutter, „allein es ist mir unmöglich, ich
0095muß damit heraus: ich kann es in diesem Hause nicht
0096mehr aushalten, denn ich bin ein Mensch und keine Maschine.
0097Jede Stunde hier ist eine Qual. Die deutlich ausgesprochene
0098Geringschätzung, ja Verdächtigung in den letzten Tagen
0099ist nicht mehr zu ertragen. Ich wollte, ich wäre kein Mensch,
0100sondern ein dummes unvernünftiges Thier, um nicht die
0101Empfindungen zu fühlen, die mich durchpeitschen! Ich bitte
0102dich flehentlich, schick’ mich anderswo hin — trockenes Brot
0103wäre mir lieber!“ Sein Leipziger Exil dauerte nicht lange.
0104Nach einem für Bülow sehr wichtigen Ausflug nach Weimar,
0105wo er Liszt kennen lernte, übersiedelte er 1849 nach Berlin,
0106um an der dortigen Universität seine Studien fortzusetzen
0107und in Musikzeitungen als enthusiastischer Kämpfer für
0108Richard Wagner aufzutreten. Dieser war sein Ideal in
0109Allem und Jedem; er wehrt sich heftig dagegen, daß man
0110„die Heiligkeit Wagner’s“ antaste. Ueber diese „Heilig-
0111keit“ hatte Bülow in späteren Jahren freilich recht schmerz-
0112liche Erfahrungen am eigenen Leib zu machen. In Berlin 
0113hört er zuerst von der geplanten Aufführung des „Lohen-
0114grin“ unter Liszt’s Leitung in Weimar. „Käme es zu
0115Stande, so müßte Weimar die Hauptstadt der Welt 
0116werden!“ Natürlich reist Bülow zu dieser Aufführung nach
0117Weimar, wo die musikalischen Eindrücke, insbesondere auch
0118der tägliche Verkehr mit Liszt, den entscheidenden Wende-
0119punkt in seinem Leben vorbereiten.


0120Die Sehnsucht, ganz der Musik zu leben, wächst immer
0121heftiger in ihm, im selben Maße die Unzufriedenheit mit
0122dem „gräulichen Berlin“. Was die Gemüthsverfassung des
0123jungen Mannes vollends trüben mußte, war der offenkundig
0124hervorgetretene Zwiespalt zwischen seinen Eltern. Der Vater 
0125wie die Mutter, sie Beide waren in ihrer Art vortreffliche
0126Menschen, aber durchaus nicht harmonisch zusammengestimmt.
0127Eduard v. Bülow ließ sich von seiner Frau scheiden und
0128heiratete eine Verwandte, Louise v. Bülow. Mit dieser über-
0129siedelte er in die Schweiz, wo er ein kleines Schloß, Oetlis-
0130hausen im Thurgau, angekauft hatte. Hanns v. Bülow’s
0131Mutter und sein Schwesterchen Isa blieben in Dresden 
0132zurück. Er selbst begab sich nach Oetlishausen zu Besuch [2]
0133bei seinem Vater und schien dort anfangs wohlauf und zu-
0134frieden. Eines Morgens aber war Hanns verschwunden.
0135Er fehlte zum Frühstück, zu Tische, zum Abendessen. Alle
0136Nachfragen blieben erfolglos. Der Vater äußerte sehr
0137bald: Hanns ist gewiß zu Wagner nach Zürich ge-
0138gangen. So war es auch. Er hatte in der nächsten
0139Station, Rorschach, die Post genommen und sich nach Zürich 
0140gewendet. Anderntags kam er zurück, sehr ergriffen und
0141aufgeregt. Er fiel dem Vater zu Füßen und bat, ihn Musiker
0142werden zu lassen. Der Vater gab nach, unter dem Vor-
0143behalt, daß auch die Mutter einwillige. Die beiden Briefe
0144Bülow’s an seine Mutter, worin er seinen Lebensplan aus-
0145einandersetzt und ihre Zustimmung erbittet, gehören zu den
0146schönsten Zeugnissen für seine kindliche Liebe wie für die
0147Reife seines Verstandes und Charakters. „Ich versprach dir,“
0148schreibt er der Mutter im September 1850, „Jurisprudenz
0149zu studiren, und bin auch heute noch gesonnen, mein Ver-
0150sprechen zu halten. Aber verhehlen kann ich es dir nicht
0151länger: es mangelt mir ebensowol Talent als Lust und
0152Liebe, um ein guter Rechtsgelehrter, ein Mann der Wissen-
0153schaft zu werden. Zum Staatsdienst ist es mir rein unmög-
0154lich, mich zu entschließen, ich passe zu wenig in dieses mir
0155unbeschreiblich verhaßte Gebiet.“ Wenigstens ein „Probe-
0156halbjahr möge sie ihm bewilligen, um unter Wagner’s
0157Leitung in Zürich sich zum praktischen Musiker auszubilden“.
0158Als die Mutter auf ihrer Weigerung verharrte, schrieb
0159Bülow ihr einen zweiten, langen, rührend liebevollen Brief:


0160„Lange habe ich geschwankt und gezaudert, dir zu
0161schreiben, denn ich habe dir gegenüber ein böses Gewissen;
0162ich habe eine gewaltsame Verletzung aller kindlichen Pflichten
0163gegen dich begangen und bin mir dessen vollkommen bewußt,
0164da nicht Leichtsinn mich bethört und keine Ueberstürzung
0165stattgefunden hat, denn sonst wäre ihr ja die Reue auf dem
0166Fuße nachgefolgt, und ich wäre nicht mehr hier und unser
0167Verhältniß zu einander nicht gebrochen oder gestört. Ich be-
0168reue jedoch die That, die vom Standpunkte meiner heiligen
0169Pflichten gegen dich verwerflich zu nennen ist, nicht und
0170fürchte nun, dein gerechter Zorn habe über die Mutterliebe
0171den Sieg davongetragen; ich fürchte — und Thränen stehen
0172mir bei dieser schmerzlichsten aller Besorgnisse in den Augen
0173— du könntest von deinem Sohne, der sich von seiner
0174Mutter selbst getrennt, nichts mehr wissen wollen; du er-
0175kennest ihn nicht mehr als solchen an; du werdest vielleicht
0176auch jedes von ihm gekommene Schreiben ungelesen ver-
0177nichten. Ich gab mich keiner milden Täuschung hin; ich 
0178machte es mir klar, daß das Alles natürlich sein würde, daß
0179ich allein die Schuld trage und es nicht anders verdient
0180habe. Und dennoch konnte ich mich nicht darein ergeben, konnte
0181es nicht fassen, und die Furcht, die traurige, unselige Gewiß-
0182heit zu erlangen, daß dem so sei, hielt mich vom Schreiben
0183ab. Besteht nun auch heute dieselbe Furcht noch in vollem
0184Maße, so läßt es mir doch keine Ruhe und drängt mich,
0185den Versuch zu machen, dich zu fragen, ob es wirklich wahr
0186sei, daß ich unser Verhältniß unwiderruflich aufgelöst, daß
0187ich mir die Mutterliebe durch meine That rebellischen Un-
0188gehorsams auf immer verscherzt habe. Ich vermag nicht zu
0189glauben, daß es wirklich so sein könne, daß deine unbesieg-
0190bare Antipathie gegen den Mann, den ich so hoch verehre
0191und der durch die warme, herzliche Theilnahme, durch die
0192väterliche Fürsorge für mich sich die größten Ansprüche auf
0193meine Liebe und Dankbarkeit erworben hat, so allmächtig
0194sein könnte, dir den Sohn ganz aus dem Herzen zu
0195reißen. ... Es ist meine Bestimmung, die entschieden sich
0196an den Tag legende Tendenz meiner Kräfte und Anlagen,
0197Wagner nachzustreben, ohne sklavische, kindische Nachahmung.
0198Ich sage jetzt: besser selbst ein mittelmäßiger Musiker als
0199ein guter, sogenannt tüchtiger Jurist. Wagner glaubt, ich
0200werde ein guter Musiker, ein bedeutender Künstler: es ist
0201an mir, sein Vertrauen im Laufe der Zeit zu rechtfertigen.
0202Diesen Winter absolvire ich hoffentlich mein Brotstudium,
0203ich werde ein guter, routinirter Dirigent, wozu ich — nach
0204Wagner’s Worten — die entschiedenste Anlage durch meine
0205Feinheit des musikalischen Ohres, durch die Leichtigkeit
0206meiner Auffassungsgabe, meiner schnellen Uebersicht, meines
0207fertigen Clavierspiels besitze. Als Dirigent werde ich dann
0208überall mein Brot verdienen können und in den Stand
0209gesetzt sein, ohne Nahrungssorgen zu produciren.“


0210Sowol R. Wagner wie Liszt suchten in hochinter-
0211essanten, ausführlichen Briefen (welche dem ersten Bande
0212beigedruckt sind) Bülow’s Eltern zu überzeugen, wie unrecht
0213sie thäten, wenn sie ihren so genial angelegten Sohn seiner
0214natürlichen Bestimmung, der Musik, entziehen wollten.
0215R. Wagner erklärt der Mutter Bülow’s unumwunden, daß
0216er ihren Wunsch, Hanns möchte seine juridischen Studien
0217fortsetzen, für verderblich halte. „Verderblich für die
0218fernere Entwicklung des Charakters und der Thätigkeit
0219Ihres Sohnes, verderblich für die Erhaltung eines gedeih-
0220lichen, ungestört liebevollen Verhältnisses zwischen Mutter
0221und Sohn. ... Geben Sie willig, gern und schnell dazu
0222Ihre Zustimmung, daß Ihr Sohn nicht einen Augenblick 
0223mehr im Zwange gegen seine wohlbegründete und geprüfte
0224Neigung lebe!“ Die Mutter Bülow’s blieb ungerührt; der
0225Vater gab endlich nach, als Hanns durch Wagner’s Ver-
0226mittlung eine Art zweiter Capellmeisterstelle in Zürich erhielt.
0227Diese Herrlichkeit währte freilich nur zwei Monate. Nach
0228einem scharfen Wortwechsel Bülow’s mit dem Gatten der
0229Züricher Primadonna erklärte diese, unter der Leitung
0230Bülow’s nicht mehr auftreten zu wollen. Die Sängerin war
0231dem Director unersetzlich, und so mußte der junge Capell-
0232meister das Feld räumen. Mit beiden Händen ergriff
0233er die ihm angebotene Capellmeisterstelle an dem kleinen
0234Theater in St. Gallen. Was hatte er da Alles zu
0235leisten und zu erdulden! Das kleine, ungeübte Orchester be-
0236stand aus lauter Dilettanten, die sehr schlecht spielten, aber
0237sehr höflich behandelt sein wollten. Nach der ersten Probe
0238kommt Bülow „fast“ zu der Ueberzeugung, daß mit diesen
0239Leuten absolut nichts anzufangen sei: „es ging nicht einmal
0240infam, es ging gar nicht“. Seine Briefe erzählen höchst er-
0241götzliche Details aus seiner Capellmeisterei in St. Gallen.
0242Jedenfalls hat er dort durch die unbarmherzige Praxis viel
0243gelernt; er wird früh ein eminenter Dirigent. Bei dem
0244Studium des „Freischütz“ gelangt Bülow zu der fortan
0245von ihm festgehaltenen Einsicht und Methode: die Partitur
0246gründlich durchstudiren heißt sie auswendig lernen. „Erst
0247wenn man es mit einer Oper so weit gebracht hat, das
0248heißt mit einer guten Oper, wo jede Note, jede Nuance,
0249jedes Instrument seine besondere Bestimmung und Bedeu-
0250tung hat, glaube ich, ist man im Stande, sie gut einzu-
0251studiren und zu dirigiren, was nur geschehen kann, wenn
0252man nicht nöthig hat, in die Partitur hineinzublicken.“


0253Aus diesem qualvoll beengenden Wirkungskreis erlöst
0254ihn Liszt, der, im Einverständnisse mit Bülow’s Eltern,
0255ihn in Weimar bei sich aufnimmt und persönlich seine
0256weiteren Musikstudien leitet. Die Weimarer Periode (1851 
0257bis 1853) wurde für Bülow’s Ausbildung zum Clavier-
0258virtuosen der wichtigste Abschnitt seines Lebens. Liszt erwies
0259sich ihm da als genialer Führer und als väterlicher Freund.
0260In Liszt’s Wohnung auf der Altenburg fühlte sich Bülow 
0261bald heimisch, gewann auch die specielle Zuneigung von
0262Liszt’s Freundin, der Fürstin Wittgenstein. Es ist eine feine
0263Bemerkung von V. Widmann, daß man alle diese Per-
0264sonalien mit verdoppelter Theilnahme liest, weil man sich
0265vergegenwärtigt, welche intimeren Bande diese genialen
0266Menschen später noch enger verknüpfen sollten und welche
0267schicksalsvollen Beziehungen diese Verhältnisse dann durch [3]
0268Wagner erhielten. Der Leser genießt hier einmal das Ver-
0269gnügen einer allwissenden Vorsehung, welche die gegen-
0270wärtigen Beziehungen der handelnden Personen zugleich mit
0271der Kenntniß ihrer ihnen selbst noch verborgenen zukünftigen
0272Schicksale überblickt. Die Briefe aus Weimar sind ganz be-
0273sonders charakteristisch für Bülow, den ehrlichen, hoch-
0274begabten, aber rücksichtslosen und nicht selten anmaßenden
0275jungen Mann. Er lebte nach seiner Devise „honnête et
0276exalté“. Seine Mutter berichtet nach einem Besuche in
0277Weimar über ihn: „Hanns ist sehr fleißig, aber in beständiger
0278Aufregung; er würde sehr viel leisten, aber leider widmet er
0279seine meiste Zeit der Verherrlichung Wagner’s; er ist fanatisirt
0280und opfert sich gänzlich auf, setzt sich und alle seine Zwecke
0281hintan deßhalb.“ Die Exaltation für Wagner macht ihn auch
0282(ganz verschieden von Liszt) ungerecht gegen jede andere
0283Richtung. Daß Auber’s „Fra Diavolo“ in Deutschland 
0284noch gerne gehört werde, findet er lächerlich, da doch diese
0285Oper in Frankreich selbst längst beseitigt sei. Aber „Fra
0286Diavolo“ ist heute noch ein Lieblingsstück im Repertoire
0287der Opéra Comique. Er verflucht „die wahrhaft unermeßlich
0288verderblichen Wirkungen, welche der französische und ita-
0289lienische Schund seit der Juli-Revolution auf allen deutschen
0290Bühnen ausgeübt hat.“ Als er in einem Orchesterstücke
0291seines Freundes Raff die Pauken schlägt, ärgert es ihn
0292nachträglich, weil er erfährt, Meyerbeer habe einmal
0293Cherubini denselben Dienst erwiesen. Gegen Henriette
0294Sonntag schreibt er einen fulminanten Artikel, „der sich
0295gewaschen hat“; hauptsächlich wegen ihrer „schäbigen Wahl“
0296(Regimentstochter, Martha) und wegen der Verwerflichkeit
0297des Coloraturgesanges überhaupt. Diese „von Frechheit
0298platzende“ Recension über eine der berühmtesten Künst-
0299lerinnen „machte Scandal“, wie Bülow selbst nicht ohne
0300Befriedigung voraussagte. „Meine Unpopularität ist hier
0301grenzenlos,“ schreibt er aus Weimar im Mai 1852 an
0302seine Mutter; „ich freue mich höchlichst darüber, da sie eine
0303Filial-Unpopularität der Liszt’schen ist und das qu’ils me
0304haïssent, pourvu qu’ils me craignent hier anwendbar ist.“


0305Nachdem Bülow in Weimar (in Joachim’s Quartett-
0306Soirée), dann bei dem Musikfeste zu Ballenstedt als Clavier-
0307spieler großen Beifall geerntet, entwirft er mit Liszt den
0308Plan zur ersten Kunstreise. Das Ziel derselben ist Wien.
0309„Meine eigentliche Absicht in Wien,“ schreibt er dem Vater,
0310„besteht darin, so viel Geld als möglich zu machen,
0311denn eine ruhige Unabhängigkeit ist mir vor Allem für ein
0312Künstlerleben und Wirken, wie ich es mir wünsche, voll-
0313kommen unentbehrlich.“ Welch bittere Enttäuschung harrte
0314seiner! Gegen Ende der Saison kommt Bülow nach Wien 
0315und gibt am 15. und 19. März zwei Concerte. „Mein
0316erstes Concert brachte neben der Ausgabe von 133 fl. 19 kr.
0317die Einnahme von 28 fl. Ich hatte also 105 fl. darauf zu
0318zahlen! Mit dieser Unsumme hatte ich das Recht erkauft,
0319meinen Namen in mehr als einem Dutzend Blättern auf
0320das unsinnigste heruntergerissen zu sehen ...“ schreibt
0321Bülow an seine Mutter. Liszt’s Empfehlungen hatten ihm
0322nichts genützt, Namen und Bekanntschaften besaß er noch
0323nicht ... dafür befand er sich trotz Liszt’s Generosität —
0324er hatte ihm 200 fl. vorgestreckt — schon nach ein paar
0325Tagen seiner Anwesenheit in schweren Geldcalamitäten. Er
0326sieht sich von lauter Feinden umringt, „cynisch“ und „wie-
0327nerisch“ dünkt ihm dasselbe, das Wiener Klima „ruinirend“,
0328er findet, daß in dieser Stadt „die Commodité des Alters
0329ist“ ... kurz, in Wien ist Alles schlecht, abscheulich, miserabel.
0330Die Worte: „... ich hätte am liebsten während des Spieles
0331abbrechen, einige Stühle dem Publicum ins Gesicht schleudern
0332... mögen,“ zeichnen so ziemlich vollständig seine Stimmung.


0333In Oedenburg, Preßburg und Budapest erringt er
0334ehrenvollen Beifall, aber so wenig Geld, daß er auf Unter-
0335stützung vom Hause angewiesen bleibt. Den Glauben an
0336seinen Beruf vermag aber all das Mißgeschick nicht zu er-
0337schüttern. Er schreibt an die Mutter: „Ich mache mir
0338einerseits Vorwürfe und Gewissensbisse, daß ich dir so viel
0339wirklich theures Geld koste, während andererseits das Be-
0340wußtsein meines — ich darf es nach den bitteren Erfah-
0341rungen, nach den tiefen Entmuthigungen wol sagen —
0342außergewöhnlichen Talents mich wieder Muth fassen läßt
0343und mir die Hoffnung gibt, doch einmal zur Geltung und
0344zu Geld zu kommen.“ In Berlin und Hamburg spielt
0345Bülow mit großem künstlerischen Erfolg; aber der klingende
0346Lohn will sich auch da noch nicht einstellen. Kein Wunder,
0347wenn seine Briefe aus dieser Zeit ein manchmal gereiztes
0348und verbittertes Gemüth offenbaren. Auf einer dieser Kunst-
0349reisen lernt er Brahms kennen, dessen Erscheinen er
0350anfangs unter dem Eindrucke der bekannten Prophezeiung
0351Schumann’s mißtrauisch beobachtet hatte. Jetzt schreibt er
0352(aus Hannover, 6. Januar 1854) an die Mutter:
0353„Den Robert Schumann’schen jungen Propheten Brahms 
0354habe ich ziemlich genau kennen gelernt; er ist seit zwei Tagen
0355hier und immer mit uns. Eine sehr liebenswürdige candide
0356Natur und in seinem Talent wirklich etwas Gottesgaden-
0357thum im guten Sinne!“


0358Und wieder einen Monat später meldet er der Mutter 
0359aus Hamburg (28. Februar 1854), daß er im morgigen
0360Concert „einen Satz aus der Sonate von Brahms“ spielen
0361werde. Das ist, den Briefen nach, der Anfang der Beziehun-
0362gen Bülow’s zu dem „dritten B“, das in jenem späteren
0363Ausspruche Bülow’s: „Mit den drei B’s gedenke ich an
0364meinem Lebensabend auszukommen“ — neben Bach und
0365Beethoven gemeint ist.


0366Eine entscheidende Besserung in Bülow’s Verhältnissen
0367trat erst ein, als er an das Stern’sche Conservatorium in
0368Berlin als erster Clavierlehrer berufen wurde. Von da aus
0369verbreitete sich immer weiter und nachhaltiger sein Ruhm.
0370Auch seine Mutter, mit welcher er in Berlin nach langjähriger
0371Trennung wieder zusammenleben konnte, hatte nun ihr
0372früheres Widerstreben überwunden und wurde eine über-
0373zeugte, rückhaltlose Bewunderin ihres geliebten Sohnes.


0374Hanns hat vollendet gespielt,“ schreibt sie im Jahre
03751855, „ganz unirdisch schwebt der Ton in der Luft, und
0376seine Auffassung und Ausführung gibt ein Drama. Mit
0377Blick und Ton weiß er das Publicum zu bannen, daß es
0378nicht zu athmen wagt. ... In dieser Herrschaft, die er
0379über die Hörer ausübt, liegt für ihn der Reiz des öffent-
0380lichen Spielens ... Es ist in der That ein eminentes
0381Talent! Etwas Dämonisches! Möge ihm endlich Anerkennung
0382und die Stellung werden, die ihm gebührt!“


0383Mit diesen Worten von Bülow’s Mutter schließt der
0384zweite Band der uns vorliegenden Briefsammlung. In
0385diesen beiden Bänden, auf deren Fortsetzung man mit Recht
0386gespannt sein darf, finden wir die markantesten Eigenthüm-
0387lichkeiten der Bülow’schen Individualität stark und unver-
0388kennbar ausgeprägt. „Ein in tiefem Wahrheits- und
0389Gerechtigkeitsdrang begründetes leidenschaftliches Verlangen,
0390jeder bedeutenden Künstler-Erscheinung zu ihrem vollen Recht
0391zu verhelfen, und zwar lange bevor sich eine ihr günstige
0392Strömung in der Oeffentlichkeit bemerkbar macht, und im
0393Zusammenhange damit die rücksichtslose Bekämpfung von
0394Allem, das sich, bewußt oder unbewußt, diesem Recht ent-
0395gegensetzt; der persönliche Muth, in solchem Kampfe keine
0396Schwierigkeit zu kennen, keinen Ausdruck und keinen daraus
0397etwa für ihn resultirenden Nachtheil zu scheuen“ — so be-
0398zeichnet Frau Marie v. Bülow in einer treffenden
0399Charakteristik die glänzende und sympathische Persönlichkeit
0400ihres Gatten. Wir sehen den folgenden Bänden der Bülow-
0401schen Briefsammlung mit Spannung und Begierde entgegen.

Fußnoten
  • *)Hanns v. Bülow: Briefe und Schriften.“ Herausge-
    geben von Marie v. Bülow. Zwei Bände. (Leipzig, Breitkopf &
    Härtel. 1895.)