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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11576. Wien, Samstag, den 14. November 1896

[1]

Concerte.

(Die neuesten Compositionen von Brahms und Dvořak.)


0003Ed. H. Dem Sänger Herrn A. Sistermans ge-
0004bührt das Verdienst, Brahms’ neueste Tondichtung zum
0005erstenmale öffentlich gesungen zu haben: „Vier ernste Ge-
0006sänge für eine Baßstimme“ (op. 121). Ernst in der That,
0007bedrückend ernst sind diese lyrischen Monologe, welche
0008unser bibelfester Brahms sich aus der Heiligen Schrift 
0009ausersehen hat. Leiden und Sterben, das ist der dumpfe
0010Grundten, auf den die ersten drei Gesänge gestimmt sind.
0011Er klingt am stärksten in dem ersten, resignirt pessimistischen
0012Stück: „Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh;
0013wie dieses stirbt, so stirbt auch er, und haben alle einerlei
0014Odem.“ Von allen vier Gesängen ist dieser erste
0015der ergreifendste, zugleich der ausgeführteste. Zweimal
0016wechselt das düstere Andante mit einem leidenschaftlichen
0017Allegro im Dreivierteltact. Dieses Allegro: „Es fährt
0018alles an Einen Ort“, bringt zu dem verzweifelten Inhalt
0019des ersten Theiles nicht etwa einen Gegensatz, sondern eine
0020leidenschaftliche Steigerung. Die wild aufstürmende Triolen-
0021Figur, fast immer in Gegenbewegung zur Singstimme, be-
0022ruhigt sich nur vorübergehend einmal zu dem ersten Zeit-
0023maß. Der Gesang schließt trostlos mit der dem altjüdischen
0024Glauben entsprechenden Verneinung einer Fortdauer nach
0025dem Tode. Das zweite Stück (aus demselben Salomonischen
0026Buche der Prediger) klagt, daß die Gerechten Unrecht leiden
0027unter der Sonne und haben keinen Tröster. „Da lobte ich
0028die Todten, die schon gestorben waren, mehr als die Leben-
0029digen; und der noch nicht ist, ist besser als alle Beide.“
0030Der Gesang schreitet in gleichmäßig schweren Athemzügen
0031klagend einher; die Begleitung wird an einigen nachdrück-
0032licheren Stellen bewegter, einschneidender. Nach Salomon 
0033spricht an dritter Stelle Jesus Sirach, der schon 200 Jahre
0034vor Christus ganz im Geiste so vieler protestantischer
0035Kirchenlieder den Tod als eine Wohlthat preist. Zu dem in
0036Moll stehenden Anfang („O, Tod!“) bringt der Mittelsatz 
0037in E-dur ein lichteres Gegenbild; dort ward der Tod als
0038bitter beklagt von dem Menschen, „der gute Tage und ge-
0039nug hat und ohne Sorge lebet“, hier als Erlöser begrüßt
0040„von dem Dürftigen, der in allen Sorgen steckt und nichts
0041Besseres zu hoffen noch zu erwarten hat“. Der vierte und
0042letzte von Brahms’ „Ernsten Gesängen“ ist der einzige,
0043der nicht vom Tode handelt; er tritt aus dem engen Kreis
0044trostlos pessimistischer Lyrik, ein Stückchen Himmelsblau,
0045das sich aus dem schwarzen Gewölk hervorkämpft. Es ist
0046die oft citirte Stelle aus Paulus erstem Korinther-
0047brief: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engels-
0048zungen redete und hätte die Liebe nicht, so wär’
0049ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.“
0050Auffallend heftig beginnt die Rede, etwa als wolle sie
0051mit „Ihr Halsstarrigen!“ anheben, echt Brahmsisch sind
0052die zornig herabspringenden Bässe. Der eifrige, stellenweise
0053zu leichterer Figuration sich belebende Predigerton mildert
0054sich zu sanfter Betrachtung in dem Adagiosatz: „Wir sehen
0055jetzt durch einen Spiegel“ und vergönnt sich sogar zu den
0056Worten: „Die Liebe ist die größte unter ihnen“ einen
0057wärmeren melodischen Abschluß.


0058Kein Zweifel, daß diese neuesten Gesänge von Brahms 
0059zu seinen tiefstempfundenen und künstlerisch vollendetsten ge-
0060hören. Populäre Concertnummern oder Lieblingsstücke
0061unserer Dilettanten zu werden, das bleibt ihnen wol ver-
0062sagt; sowol durch die niederdrückende Traurigkeit der Texte,
0063wie durch den herben Ernst der Musik und ihre strengen
0064Anforderungen an den Sänger. Ihr Styl erinnert zu-
0065nächst an das Deutsche Requiem und das Schicksalslied.
0066Dieser Styl ist Brahms’ unbestreitbares Eigenthum, wenn-
0067gleich seine Wurzeln zutiefst in Bach ruhen. Dasselbe
0068gilt ja auch von Mendelssohn’s geistlichen Tonwerken; und
0069doch, wie sehr unterscheiden sich auf den ersten Blick der
0070Psalter Mendelssohn’s von jenem Brahms’! Sebastian Bach,
0071dort nachwirkend in einer weichen, sanften Individualität,
0072hier in einer starken und herben. Von den „Vier ernsten
0073Gesängen“ könnte jeder seine Stelle in einem Oratorium
0074finden, und so wecken sie in uns ein stilles Bedauern, daß
0075Brahms sich zu einem Oratorium niemals entschlossen hat. 
0076Seit Mendelssohn sind es doch nur Talente zweiten Ranges,
0077welche sich im Oratorium bethätigt haben und deren (wirk-
0078licher und vermeintlicher) Glaubenseifer uns nur zu oft
0079ersetzen soll, was ihnen an musikalischer Schöpferkraft fehlt.
0080Die ganze Kunstgattung ist entschieden gesunken: die Chorvereine
0081müssen nach allen Versuchen mit Hiller und Löwe, Schneider und
0082Meinardus, Massenet und Tinel doch immer wieder auf Bach,
0083Händel und Mendelssohn zurückgreifen. Brahms allein
0084wäre im Stande gewesen, das Oratorium wieder zu heben;
0085er allein besitzt neben der großen Kunst auch die große
0086Autorität, von welcher ein etwas verweltlichtes Publicum
0087selbst sehr Strenges und Herbes vertrauensvoll aufnimmt.
0088Eine Probe davon, in kleinerem Umfange allerdings, hat
0089der Vortrag der vier ernsten Gesänge durch Herrn Sister-
0090mans geliefert. Welch athemlose Stille und Andacht in
0091dem gedrängt vollen Saale! Welch gerührter Beifall nach
0092jedem Stück! Und, das Allermerkwürdigste: der dritte
0093Gesang „O, Tod!“ mußte auf anhaltendes Drängen
0094wiederholt werden. Ein besonders heiteres, angenehmes
0095Stück ist das gewiß nicht. Brahms hat sich sein Publicum
0096schon erzogen; er hat (um eine französische Wendung zu
0097brauchen) sich ihm imponirt.


0098Die neuen Brahms-Gesänge stellen, wie erwähnt, große
0099Anforderungen an den Sänger. Sie verlangen eine aus-
0100giebige Stimme von beträchtlichem Umfange, vollkommene
0101Beherrschung des Athems, der Aussprache, der Declamation,
0102also, ganz abgesehen von der geistigen Potenz, eine meister-
0103hafte Gesangstechnik. Herr Sistermans, bekanntlich ein
0104würdiger Schüler Stockhausen’s, hat seine ganze Kunst für
0105das ihm sympathische Werk aufgeboten. Vielleicht wäre der
0106Geist der Composition noch echter hervorgetreten, ohne so
0107übermäßigen Aufwand an Stimme, wie er namentlich in
0108dem vierten Gesange auffiel. Herrn Rückauf’s Clavier-
0109begleitung erhob sich neben dem Gesange zu einer gleich-
0110werthigen Kunstleistung.


0111Ein ungewöhnlich glücklicher Anfang der Concertsaison
0112gab uns an zwei aufeinanderfolgenden Abenden ein neues
0113Werk von Brahms und ein neues von Dvořak zu
0114hören. Sein jüngstes Streichquartett in As-dur (op. 105) [2]
0115zeigt uns Dvořak in der Fülle seines Talents, im schönsten
0116Gleichgewichte seiner Fähigkeiten. Gesund, klar und ein-
0117präglich, ohne banal zu werden, geistreich ohne eitle Bi-
0118zarrerie, gehört dieses Werk zu den besten dieses Autors.
0119Erstaunlich und erfreulich nennen wir die Fruchtbarkeit
0120Dvořak’s, der, spät in die Oeffentlichkeit getreten, doch schon
0121über hundert Werke publicirt hat, fast genau so viel wie der
0122um ein Jahrzehnt ältere Brahms. Dieser ist die tiefere und
0123reichere Natur, Dvořak die naivere und leichter produ-
0124cirende. Man hat manchmal die Empfindung, als ob Beide
0125einander ergänzten; der optimistische und volksthümliche
0126Grundzug in Dvořak und der tiefsinnig pathetische, exclu-
0127sivere in Brahms. Uns ist die eine Tonart so unentbehrlich
0128wie die andere. Unter den so rasch sich drängenden Com-
0129positionen Dvořak’s können nicht alle gleich inspirirt, nicht
0130alle gleich ausgereift sein; trotzdem darf man freudig zu-
0131gestehen, daß seine neuen größeren Werke sich auf gleicher Höhe
0132erhalten, ja bei ungeschwächter Erfindung eine Verfeinerung
0133des Geschmacks aufweisen. Die amerikanische Episode
0134in seinem Leben mag Dvořak persönlich als Prüfung und
0135Entbehrung empfunden haben; ein Nachtheil für seine
0136musikalische Entwicklung war sie nicht. Er hat auch aus
0137den wunderlichen Naturproducten Amerikas musikalischen
0138Honig gesaugt und bereitet. Seine Symphonie „Aus der
0139neuen Welt“, sein reizendes Streichquintett op. 97, sein
0140F-dur-Quartett op. 96 erquicken uns als köstliche Früchte
0141seines amerikanischen Aufenthaltes. Dennoch halten wir es
0142für eine glückliche Fügung, daß Dvořak seit Jahr und Tag
0143wieder bei Frau und Kindern auf heimischem Boden schafft,
0144in dem zärtlich geliebten Lande, das nur in Shakespeare’s
0145Wintermärchen am Meere liegt. Man glaubt dieses sichere
0146wohlige Behagen aus dem As-dur-Quartett herauszu-
0147hören. Nicht als ob czechische Motive sich wieder
0148vordrängten — davon scheint sich Dvořak ziemlich
0149emancipirt zu haben — aber es ist auch nichts Amerika-
0150nisches mehr zu verspüren. Ein sehr kurzes, dabei ungemein
0151stimmungsvolles Vorspiel führt zu dem feinen, liebens-
0152würdigen Allegro in As-dur, durch das eine zierliche
0153Quintolen-Figur sich neckisch schlängelt. Es folgt ein in
0154kecken Octavensprüngen sich erlustigendes F-moll-Scherzo; 
0155mit einem entzückend gesangvoll Mittelsatz in Des. Dem
0156Adagio (F-dur 3/4) möchte ich den Preis zusprechen unter
0157den vier Sätzen. Nur bei Brahms findet man noch Adagios
0158von so entschieden idealem Zug. Welch süßer, ruhig sich ent-
0159faltender Gesang in der Oberstimme; wie einheitlich die
0160Stimmung und doch nirgend ermüdend! Das Finale, ein
0161rascher Zweivierteltact, strömt ohne leidenschaftliches Pathos,
0162frisch und anmuthig dahin. Die Erfindung steht nicht ganz
0163auf der Höhe der früheren drei Sätze; die Durchführung
0164zeigt hin und wieder Lücken, die von etlichen kleinen Fugato-
0165Anfängen mehr verrathen als verdeckt werden.


0166Den Herren Rosé, Siebert, Steiner und
0167Hummer danken wir für die Bekanntschaft des neuen
0168Dvorak’schen Quartetts und dessen correcte, liebevolle Aus-
0169führung. Es hat ungemein gefallen und wird es noch mehr,
0170wenn einmal Spieler und Hörer sich darin vollkommen
0171heimisch fühlen. Das Quartett Rosé gibt seine diesjährigen
0172Productionen im kleinen Musikvereinssaal, womit ein
0173großer Theil des Publicums gewiß sehr zufrieden ist. Wir
0174wollen dem Bösendorfer-Saal nichts nachtragen, in wel-
0175chem wir unvergeßliche Musikabende genossen haben und
0176hoffentlich noch genießen werden. Aber die Unbequemlichkeit
0177der Zu- und Abfahrt, die bedrohliche Wagenburg im Hof-
0178raume, vor Allem aber der peinliche Zwang, sich
0179durch ein vollgepfropftes Stehparterre zu seinem
0180Parquetsitze durchkämpfen oder durchbetteln zu müssen
0181— das sind Specialitäten, die wir im Musikvereinssaale
0182mit Wonne vermissen. Was man an der Akustrik neuestens
0183glaubte aussetzen zu müssen, ist jetzt durch eine hinter dem
0184Podium aufgerichtete Wand glücklich getilgt. Und so hoffen
0185wir, es werde Meister Hansen’s schmucker Concertsaal schnell
0186wieder in Mode kommen, wie er es anfangs gewesen, als
0187Joachim, Clara Schumann, Amalie Joachim und so viele
0188andere berühmte Künstler sich dort mit ihren Concerten
0189ablösten. Auf die Novität von Dvořak folgte unter vor-
0190trefflicher Mitwirkung des Pianisten Hugo Reinhold 
0191das Clavierquartett in A-dur (op. 26) von Brahms.
0192Auch hier zeigte es sich, daß die Akustik des Saales trefflich
0193functionire, wenn nur die Musik vom Himmel und der
0194Beifall vom Herzen kommt.