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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11662. Wien, Dienstag, den 9. Februar 1897

[1]

Zum Schubert-Jubiläum. III.

(Die Festconcerte.)


0003Ed. H. Die Festwoche ist zu Ende. Könnte man die
0004Stunden zusammenzählen, welche da nur von Schubert’scher
0005Musik widerhallten, und die Schubert’schen Compositionen
0006verzeichnen, die klein und groß in allen Wiener Concert-
0007sälen, Vereinen, Privathäusern gesungen und gespielt worden
0008sind — es gäbe ein Resultat, das sich in Schubert’s
0009kühnsten Traum nicht hineingewagt hätte. In seinem ganzen
0010Leben hat der Mann, dem diese Festwoche galt, sich nicht so
0011häufig und so gut aufführen gehört. Falls künstlerische Ver-
0012sündigung der Vorfahren wirklich von den Nachkommen
0013gesühnt werden kann, so ist es durch die Wiener von 1897 
0014reichlich und vollbewußt geschehen. Nicht vermögen wir all
0015die Schubert-Concerte aufzuzählen, die, gleichsam zu einem
0016ungeheuren Accord vereinigt, jeden fremden Ton, jedes
0017fremde Wort weit von sich abwehrten.


0018Mit der Opernvorstellung der „Verschworenen“ und
0019des „Vierjährigen Postens“ begann am 30. Januar
0020das große Wiener Schubertfest, das, durch zehn Tage fort-
0021gesetzt, erst am 8. Februar mit einer Production des Conser-
0022vatoriums abschloß. Alle unsere Concertinstitute, die Phil-
0023harmoniker, die Musikfreunde, der Männergesang-Verein,
0024der „Schubertbund“, die Quartettgesellschaften Rosé und
0025Hellmesberger sind in großer Gala aufmarschirt, um
0026mit ihrer Kunst ausschließlich Schubert zu verherrlichen.
0027Und von den fremden Concertgebern hat keiner unterlassen,
0028wenigstens Ein Schubertstück, Eine duftige Blume zu dem
0029mächtigen Jubiläumskranz beizusteuern; die geistreiche, an-
0030muthige Französin Clotilde Kleeberg, der hinreißend
0031temperamentvolle Emil Sauer, der abgeklärte
0032große Meister d’Albert. Wer vermöchte alle die
0033einzelnen Künstler und Vereine zu nennen, die hier in Be-
0034geisterung für Schubert wetteiferten! Ein einziges besonderes
0035Moment möchte ich doch hervorheben, das unsere Schubert-
0036Feier von ähnlichen Musikfesten unterschied: das Volks-
0037thümliche. Weder das hundertjährige Jubiläum Mozart’s 
0038(1856) noch das Beethoven’s (1870), geschweige denn 
0039C. M. Weber’s (1886) haben in Wien eine so gewaltige,
0040allgemeine, bis in die Tiefen des Volkes nachzitternde Be-
0041wegung hervorgerufen, wie die Schubert-Feier. Ich erinnere
0042nur an die vielen am 31. Januar unentgeltlich veranstalteten
0043und massenhaft besuchten Volksconcerte im IX., X., XI. 
0044und XV. Bezirk, an Dr. H. Schenker’s historischen Vor-
0045trag im III. Bezirk und die Festrede des hochverdienten
0046Schweizer Musikhistorikers A. Niggli im „Schubertbund“.
0047Schade, daß unser ausgezeichneter Schubert-Forscher Max
0048Friedländer der Rednerbühne ferne blieb, für welche
0049sein interessanter Aufsatz im letzten Heft der „Deutschen
0050Rundschau“ so willkommenen Stoff geboten hätte. Auch
0051das Quartett Rosé hat zu sehr herabgesetzten Preisen
0052Schubert gespielt und damit eine außerordentlich zahlreiche,
0053dankbare Hörerschaft erfreut. Diese liberale Propaganda
0054Schubert’scher Musik und ihre starke Wirkung auf breite
0055empfängliche Volksschichten ist in der Wiener Schubert-
0056Feier als ein neues hocherfreuliches Element zu bezeichnen.


0057Die Aufgabe, ein großes Musikfest ganz aus Schubert-
0058schen Werken zusammenzustellen, ist nicht ganz so leicht. Es
0059fehlt da an einer hinreichenden Zahl groß aufgebauter und
0060mächtig wirkender Tonschöpfungen von classischer Vollendung,
0061wie sie für ein Bach- und Händel-Jubiläum, ein Mozart- 
0062oder Beethoven-Fest sich darbieten. Monumentale Werke wie
0063die C-dur-Symphonie stehen ziemlich vereinzelt in der langen
0064Reihe Schubert’scher Werke, deren Bestes (Lied und
0065Kammermusik) überwiegend intimen Charakter trägt.
0066Schubert ist bei aller Genialität eine behagliche,
0067bequeme Natur, die sich gerne gehen läßt und
0068unbefangen wiederholt. Ein ausschließlich Schubert’sches
0069Musikfest ist unmöglich ohne starkes Uebergewicht des rein
0070Lyrischen, Liedmäßigen, des melodisch-homophonen Satzes.
0071Die Wirkung Schubert’scher Musik wird durch anhaltende
0072Alleinherrschaft nicht größer, sondern kleiner. Einzeln be-
0073zaubern seine Stücke durch ihren echt Schubert’schen Duft;
0074in Reih’ und Glied gestellt, schaden sie einander durch ihre
0075starke Familienähnlichkeit. Breitet sich gar diese ausschließ-
0076liche Schubert-Herrschaft, wie es der Festgedanke erheischte,
0077über volle zehn Tage aus, so werden wir aufmerksamer
0078und empfindlicher für gewisse Schwächen Schubert’s —
0079obwol oder gerade weil sie so enge mit seinen bezaubernden
0080Vorzügen verwachsen sind. Zehn Tage reichen hin, um uns 
0081für die Reize eines ewig blauen Melodienhimmels über
0082breiter grüner Ebene ein wenig abzustumpfen.


0083Gleich Mozart hat Schubert sich in allen musikalischen
0084Kunstgattungen bethätigt. Er besaß dieselbe Vielseitigkeit,
0085dieselbe wunderbar leichte und rasche Production wie
0086Mozart, mit welchem er überhaupt mehr persönliche Eigen-
0087schaften gemein hat, als mit Beethoven. Die Wiener Feste
0088haben Schubert in allen Musikgattungen repräsentirt. Am
0089knappsten natürlich in der Oper, wo mit voller Beruhi-
0090gung doch nur den „Verschworenen“ ein wirklicher Erfolg
0091zu versprechen war. Der Symphoniker glänzte durch
0092die große C-dur-Symphonie und die unvollendete in
0093H-moll, deren Schönheiten durch die Philharmoniker unter
0094Hanns Richter’s Leitung zu entzückender Wirkung ge-
0095langten. So anhaltend jubelnden Beifall haben diese
0096Stücke noch nie erlebt. Die Aufführung strahlte wirklich in
0097solcher Vollendung, daß man die unleugbaren Längen beider
0098Werke kaum zu empfinden schien. „Länge“ in der Musik ist
0099ein relativer Begriff: ein Beethoven’sches Adagio oder
0100Finale, das genau so viele Minuten dauert wie das
0101Adagio oder das C-dur-Finale von Schubert, erscheint
0102uns nicht zu lang; denn auch die melodiösesten
0103Symphoniensätze Beethoven’s entbehren niemals einer kräf-
0104tigen polyphonen Musculatur, eines festen contrapunktischen
0105Rückgrates; auch vergessen sie nie auf contrastirende Epi-
0106soden, wo die Gefahr lyrischer Monotonie eintritt. Schu-
0107mann’s Entzücken über die „himmlische Länge“ der C-dur-
0108Symphonie möchten wir als einen liebenswürdigen Charakter-
0109zug im Bilde Schumann’s nicht missen; in der Sym-
0110phonie selbst finden wir Alles himmlisch, nur gerade die
0111Länge nicht. Dieses schwelgerische Ausgenießen einer Melodie,
0112dieses unersättliche Wiederholen derselben Themen wird noch
0113auffallender in Schubert’s Kammermusik, weil hier die
0114Mannigfalt der Klangfarben entfällt.


0115Durch den künstlerischen Wetteifer unserer Quartett-
0116vereine bekamen wir die köstlichsten Früchte Schubert’scher
0117Kammermusik zu genießen: bei Hellmesberger das
0118D-moll-Quartett, das C-dur-Quintett und das Octett; bei
0119Rosé das (jüngst von Joachim aufgeführte) G-dur-
0120Quartett, das B-dur-Trio und abermals das Octett. Den
0121Clavierpart des B-dur-Trios spielte Fräulein Caroline
0122Geißler-Schubert
, eine Enkelin Ferdinand Schu[2]-
0123bert’s. Das Erscheinen der bescheidenen, lebenswürdigen
0124jungen Dame, die als Clavierlehrerin in London 
0125ansässig und angesehen ist, brachte in den allgemeinen
0126Schubert-Enthusiasmus noch einen persönlichen gemüthlichen
0127Familienzug. Franz Schubert hatte vierzehn Geschwister,
0128sein Bruder Ferdinand nicht weniger als 28 Kinder —
0129seltsam genug, daß von dieser so ausgebreiteten Familie ein
0130einziges Glied, nämlich Caroline Geißler-Schubert, musika-
0131lisches Talent gezeigt und sich künstlerischem Beruf gewidmet
0132hat. Wieder ein Beitrag zu den Streitschriften für und
0133gegen die Erblichkeitstheorie. Fräulein Geißler erwies sich
0134im Vortrag des B-dur-Trios und der sogenannten
0135Phantasie-Sonate“ in G-dur, op. 78, als eine correcte
0136und feine Pianistin. Hinreißend wirkte ihr Spiel keineswegs
0137und hätte das, selbst bei schärfer ausgeprägter Individualität,
0138kaum vermocht in unserem großen Musikvereinssaal. Zarte,
0139intime Musik zerflattert, zerstäubt ja machtlos in diesen
0140Räumen. Schon das Trio erreichte nicht die Hälfte seiner
0141in kleinerem Raume sicheren Wirkung, geschweige denn die
0142Claviersonate mit ihrer zierlichen Anmuth und idyllischen
0143Vergnügtheit. Wer Tags zuvor im Operntheater die „Ver-
0144schworenen“ gehört, der wird die Melodie „Ich möchte so
0145gerne sie kosen und herzen“ Note für Note in der G-dur-
0146Sonate wiedergefunden haben.


0147Uebergehen wir zur Vocalmusik, so begegnen wir
0148Schubert zuerst auf dem von ihm so reich und glücklich be-
0149dachten Gebiete des Chorgesanges. In den officiellen
0150Festconcerten wetteiferten darin der Wiener Männergesang-
0151Verein mit dem Schubertbund. Ersterer sang unter
0152Kremser’s Leitung drei der bekanntesten Chöre („Nur
0153wer die Sehnsucht kennt“, „Gondelfahrer“ und „Gesang
0154der Geister über den Wassern“) mit gewohnter Vollendung.
0155Der von Herrn Kirchl dirigirte Schubertbund hatte
0156gleichfalls den „Gesang der Geister“ gewählt, dann die
0157Nachthelle“, „Der Entfernten“ und den „Nachtgesang im
0158Walde“. Gerne hätten wir eines dieser schönen, aber sehr
0159bekannten Stücke hingegeben für die kraftvollen, selten ge-
0160hörten Maurenchöre aus „Fierrabras“, deren unsere Ver-
0161eine sich gar nicht mehr zu erinnern scheinen. Wie lange
0162ist’s her, daß Herbeck mit Gesangstücken aus „Fierrabras“
0163das Publicum entzückt hat. Auch die Damen haben tapfer und
0164rühmlich mitgewirkt als Solistinnen und im Ensemble. Ihr 
0165Verdienst war unter Anderm: der Genienchor aus der
0166Zauberharfe“ (Wiener Sing-Akademie und Lehrerinnenchor),
0167das Grillparzer’sche Ständchen mit Alt-Solo (Fräulein
0168Walker und der Singverein), endlich der gemischte Chor
0169Gott in der Natur“, dirigirt von Herrn R. v. Perger.


0170Es lag in dem Charakter der Jubiläums-Concerte, daß
0171Schubert als Liedercomponist nur spärlich vertreten
0172war, also numerisch am schwächsten in dem Zweige, der
0173sein Genie am stärksten, originellsten und fruchtbringendsten
0174zeigt. Ueber die Kurzsichtigkeit, welche in Schubert nur 
0175den großen Liedercomponisten erblicken wollte, ist unsere
0176Zeit längst hinaus. Wahr bleibt aber, daß Schubert im
0177Liede alle seine Vorgänger und Zeitgenossen übertroffen, in
0178der Musikgeschichte ohne Nebenbuhler emporragt. Das Lied
0179ist die einzige Musikgattung, die erst nach Beethoven zu
0180voller Entfaltung und hohem Range gelangte, und das
0181war die That Franz Schubert’s. ... Mit dem Vortrage
0182Schubert’scher Lieder hat Frau v. Türk-Rohn lebhaften
0183Beifall geerntet. Sie kann dessen stets sicher sein, wenn
0184sie ihrer Individualität gemäße Lieder wählt. Ihre liebliche,
0185aber kleine, einfärbig helle Stimme und ihre im Zierlichen
0186reizende, aber starker Leidenschaft unzugängliche Vortrags-
0187weise sind an ziemlich enge Grenzen gebunden. „Mirjam’s
0188Siegesgesang“ (einst eine Glanznummer der Wilt) ver-
0189langt eine umfangreiche, kraftvolle Stimme, die in jubeln-
0190dem Aufschwunge Chor und Orchester durchdringt; gegen
0191solche Aufgaben reagirt das Organ und die ganze Persön-
0192lichkeit der graziösen Frau. Nebst Frau v. Türk haben
0193sich die Herren Winkelmann und Reichmann 
0194höchst erfolgreich an der Schubert-Feier betheiligt. Opern-
0195sänger von eminent dramatischer Richtung sind selten gute
0196Liedersänger; sie glänzen auf diesem Gebiete nur aus-
0197nahmsweise und innerhalb streng gezogener Grenzen, von
0198denen freilich der Künstler selbst meistens nichts wissen will.
0199Herrn Winkelmann, welcher „Die Allmacht“ sang, habe ich
0200leider versäumt, hingegen dem Triumph des Herrn Reich-
0201mann im großen Musikvereinssaale beigewohnt. Mit drei
0202Liedern voll düsterer Schwermuth — „Doppelgänger“,
0203Wanderer“, „Am Meere“ — hatte er eine richtige Wahl
0204getroffen; sie fanden im Klang seiner Stimme und seinem
0205schweren Pathos den überzeugendsten Widerhall. Nur das Lied
0206An die Musik“ schien uns zu tief in Melancholie getaucht, 
0207zu oft von Seufzern unterbrochen. Ueber Schubert’s Dank
0208an die „holde Kunst“ schwebt keine tragische Gewitterwolke,
0209vielmehr ein Goldglanz von Zufriedenheit und Herzlichkeit.
0210Mit unbeschreiblichem Jubel wurde am nächsten Abend
0211Gustav Walter empfangen. Seit einiger Zeit der
0212Oeffentlichkeit entfremdet, hat er uns wieder mit einigen
0213von den Liedern erfreut, die ihm Keiner nachsingt. („Sei
0214mir gegrüßt“, „Ungeduld“, „Liebesbotschaft“, „Wohin?“)
0215Ja, wenn Einer nicht fehlen durfte beim Schubert-Jubi-
0216läum, so ist es unser Walter. Die „Schöne Müllerin“,
0217Die Winterreise“, die zartesten Lieder aus Goethe und
0218Heine, sie erwecken in uns sofort die Erinnerung an
0219Walter’s Gesang. Seit 25 Jahren hat er sie uns ins Herz
0220gesungen, und Keiner hat sie oder ihn daraus verdrängt.
0221Walter’s Liederabende behaupten bereits einen ehrenvollen
0222Platz in der Wiener Musikgeschichte. Wie sehr aber dieser
0223Sänger noch der Gegenwart angehört, noch heute durch
0224seine Gesangsbildung und warme Empfindung entzückend,
0225das hat er in dem Schubert-Festconcerte vom 4. Februar
0226aufs schönste gezeigt.


0227Als geistlicher Tondichter war Schubert gleich im ersten
0228Festconcerte durch eine Arie aus der Ostercantate „Lazarus“
0229repräsentirt, für deren edlen Vortrag wir Frau Leonore
0230v. Bach verpflichtet sind. Nun fehlte noch zur Vollständigkeit
0231des Programmes, das eine großartige Rundschau über
0232Schubert’s gesammtes Schaffen darzustellen hatte, die eigent-
0233liche Kirchenmusik. Die Aufführung der Es-dur-
0234Messe
im großen Musikvereinssaale bildete den impo-
0235santen Abschluß der vier officiellen, von der Stadt Wien 
0236veranstalteten Schubert-Concerte. Hofcapellmeister Richter 
0237commandirte ein ganzes Heer von Sängern und Instrumen-
0238talisten, welche in gedrängter Aufstellung das ganze Podium
0239füllten: das Philharmonische Orchester, der Singverein,
0240der Wiener Männergesang-Verein. Ein schöner Einfall
0241Richter’s ließ die Sängerknaben der Hofcapelle im
0242Chor mitwirken; die Erinnerung daran, beim Jubiläum
0243Schubert’s, des so groß gewordenen kleinen Hofcapell-
0244sängers, mitgesungen zu haben, wird sie noch in
0245späten Jahren erfreuen. Frau Baronin Leonore Bach, Frau
0246Gisela Körner, die Herren Gustav Walter, Dippel 
0247und Weiglein sangen die Soli, welche keinem Einzelnen
0248ein dankbares Hervortreten gönnen, mit um so rühm[3]-
0249licherer Hingebung an das Ganze. Die Es-dur-Messe,
0250Schubert’s letzte und größte Kirchen-Composition, war nach
0251ihrer ersten und einzigen Wiener Aufführung in der
0252St. Ulrichskirche (1829) bald nach Schubert’s Tode völlig
0253verschollen; selbst Kreißle (dessen Schubert-Biographie 
02541864 erschien) kannte sie noch nicht. Brahms, der in
0255Wien zuerst zwei Sätze der As-dur-Messe aus dem
0256Manuscripte zur Aufführung gebracht hat, vermittelte auch
0257die Veröffentlichung der Es-dur-Messe bei Rieter-Bieder-
0258mann im Jahre 1865. Wir erlebten Sonntags deren erste
0259vollständige Aufführung — im Concertsaale. Die Ver-
0260pflanzung eines Kunstwerkes an einen Ort und in eine
0261Umgebung, wofür es schlechterdings nicht bestimmt war, hat
0262immer ihre Unzukömmlichkeiten. Der Bruch, der im Begriff
0263einer Kirchenmusik liegt, wird uns kaum in der Kirche,
0264aber recht sehr im Concertsaal bemerkbar. In dem Compromiß
0265zwischen der Kirche und dem musikalischen Kunstwerk wird das
0266größere Opfer stets auf Seite des letzteren sein. Auch dem
0267genialsten Tonkünstler sind durch die kirchlichen Vorschriften
0268die Hände gefesselt, sogar zeitweilig eine Maske vorgebunden,
0269hinter welcher man sein wahres Gesicht nicht erkennt. Die
0270liturgischen Gesetze und die musikalische Tradition bringen
0271nothwendig in alle Messen eine gewisse Familienähnlich-
0272keit, eine allgemein gleichmäßige Färbung, welche dem kirch-
0273lichen Bedürfnisse entspricht, im Concertsaale aber, wo die
0274verstärkende und erklärende Mitwirkung des Gottesdienstes
0275ausbleibt, uns leicht etwas ungeduldig macht. Es
0276mag auf einer Einseitigkeit meinerseits beruhen, daß ein
0277herrliches Lied, ein Symphonie- oder Quartettsatz mir den
0278echten Schubert viel näher bringt, lebendiger offenbart als
0279die große Es-dur-Messe. Das liegt nicht an Schubert, aus
0280dessen kräftigster Zeit sie stammt, sondern an Inhalt und
0281Form des Meßtextes. Man kann Schubert nur bewundern,
0282daß sein Genie diese Hemmnisse in so vielen Theilen dieser
0283Messe siegreich durchbrach und Schönheiten ersten Ranges
0284zu Tage förderte. Da, dem Vernehmen nach, eine Wieder-
0285holung der Es-dur-Messe beabsichtigt ist, wird sich Gelegen-
0286heit zu einer nachträglichen Würdigung dieser Schönheiten
0287bieten. Für heute haben wir schon auf die Geduld unserer
0288Leser gesündigt, ein zu langes Feuilleton ist niemals
0289„himmlisch“.