Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11797. Wien, Sonntag, den 27. Juni 1897

[1]

Johannes Brahms.

(Erinnerungen und Briefe.) I.


0003Ed. H. Wiederholt mahnen mich Freunde und Ver-
0004ehrer unseres theuren Meisters, ich möchte eine Auswahl
0005seiner Briefe dem allgemeinen Interesse und dem liebevollen
0006Antheil Näherstehender nicht vorenthalten. Dabei wird gerne
0007auf die Sammlung der Billroth-Briefe hingewiesen, deren nicht
0008blos für seine Freunde unschätzbare Bedeutung sich auch
0009äußerlich in dem außerordentlichen Erfolge einer dritten
0010Auflage kundgegeben hat. Die darin veröffentlichten Brief
0011Billroth’s an Brahms mußten das Verlangen nach den
0012Antworten des Letzteren noch steigern. Leider steht die Partie
0013nicht gleich auf beiden Seiten. In herzlicher Freundschaft
0014und gegenseitiger Hochschätzung einig, waren die beiden
0015Männer doch in vielen Dingen grundverschieden, darunter
0016speciell in ihrer Correspondenz. Billroth’s offenem, mit-
0017theilsamem Wesen war das Briefschreiben ein Bedürfniß,
0018für Brahms war es eine Last. Wenn Billroth nach einem
0019arbeitsvollen oder gesellig bewegten Tage spät Abends nach
0020Hause kam, zündete er seine Lampe an und schrieb bis
0021nach Mitternacht vertrauliche, oft recht umfangreiche Briefe
0022über die Eindrücke, die ihm das eben gehörte Concert oder
0023Theaterstück, das neueste Buch oder die neueste Bekannt-
0024schaft zurückgelassen. So schien er das Genossene noch ein-
0025mal zu genießen, und wie die Freude, so theilte er mit
0026uns auch willig das Leid. Ganz anders Brahms. Oft, wenn
0027ich eintretend ihn am Schreibtisch fand, schlug er mit einem
0028kräftigen Seufzer oder launigen Fluch auf ein Häuflein
0029Briefe: Das Alles soll ich beantworten! Mitunter war das
0030verwünschte Häuflein recht bedrohlich angeschwollen: Geschäfts-
0031briefe von Verlegern, Concert-Directoren, Festcomités,
0032dazwischen Einladungen von Wiener Freunden und Be-
0033kannten, Huldigungen und Autographenbettel von Auswär-
0034tigen. Das Alles that Brahms so kurz als möglich ab; die
0035Kunst stark comprimirten Antwortens hatte er zur Virtuosität
0036ausgebildet. Wo es nicht geradezu gegen die Etikette verstieß,
0037benützte er Correspondenz-Karten, deren Format ihm
0038jede Möglichkeit ausführlicher Darstellung liebevoll abschnitt.
0039Er schrieb sehr schnell und benützte, um nicht durch eine
0040harte Stahlfeder in diesem Eilzug aufgehalten zu werden,
0041stets Gänsekiele. Ort und Datum fehlen fast auf allen
0042seinen Briefen; als Unterschrift genügte ihm die Abkürzung
0043J. Br. Seine Abneigung, den vollen Namen zu unter-
0044zeichnen, wuchs noch mit der Besorgniß, es könnten seine
0045Briefe von Autographensammlern gekapert und verkauft
0046werden. Brahms hatte eine üble Erfahrung gemacht. In
0047einem Berliner Auctions-Katalog stand unter anderen zum
0048Verkauf ausgebotenen Autographen auch ein „Ausführlicher
0049Brief von Johannes Brahms an seinen Vater“. Ganz
0050erschrocken, seine intimsten Familienverhältnisse und kind-
0051lichen Herzensäußerungen fremder Neugier ausgeliefert zu
0052sehen, schrieb er sofort an die betreffende Buchhandlung;
0053aber ein Freund war ihm bereits zuvorgekommen, hatte
0054den Brief für Brahms erworben und ihm zugeschickt. Seit-
0055dem verhielt sich dieser in seinen Briefen noch vorsichtiger
0056und knapper. Vertrauliche Mittheilungen über seine persön-
0057lichen Verhältnisse, insbesondere aus der Jugendzeit vermied
0058er auch im mündlichen Verkehr, noch strenger im schrift-
0059lichen. Urtheile über moderne musikalische Richtungen oder
0060lebende Componisten wird man in Brahms’ Briefen höchst
0061selten und nur andeutungsweise finden, also gerade das,
0062was uns am interessantesten wäre. Daß Autographenjäger
0063ihn mit jedem Jahr lästiger heimsuchten, läßt sich denken.
0064Brahms erledigte auch dieses Geschäft „alla breve“: fünf
0065Notenlinien keck und ungleich hingeworfen, darauf ein
0066Motiv von zwei, höchstens drei Tacten und die Unterschrift.
0067Punctum.


0068Einmal jedoch handelte es sich um ein über dieses be-
0069queme Modell weit hinausreichendes Autograph; einen für
0070den Druck bestimmten förmlichen Brief. Die Musikschrift-
0071stellerin La Mara (Fräulein Marie Lipsius in Leipzig),
0072der wir zahlreiche interessante Publicationen verdanken, er-
0073suchte Brahms um die Erlaubniß, einige in ihren Besitz
0074gelangte Briefe von ihm in ihrem Band „Künstlerbriefe“ ab-
0075drucken zu dürfen. Das artige Ersuchschreiben der von ihm
0076persönlich geschätzten Dame schien ihn lebhaft zu beunruhigen,
0077wie nachfolgender an mich gerichteter Brief vom Mai 1885 
0078verräth:


0079„Liebster Freund! Inliegende zwei Briefe machen dir
0080die Situation klar. Unpraktisch wie stets, habe ich neulich
0081deine Karte nicht abgewartet, sondern dem Dr. Fellinger,
0082der mich besuchte, einen Brief an dich und den offenen an die
0083Lipsius mitgegeben — mit der Ordre, letzteren auf die Post
0084zu geben, wenn er dich in Wien nicht anträfe! Frau
0085Fellinger aber hat den Brief copirt. So kann ich ihn dir
0086nachträglich schicken und meine Bitte anbringen. Lies ihn
0087doch und sage mir, ob er an sich eine Dummheit ist oder
0088ob er deren enthält. Ich traue mir alles Mögliche darin
0089zu — ich würde ja aber auch gerne das Maul halten!
0090Recht wohl kann ich nachträglich noch einen andern schreiben,
0091oder in diesem ändern, also: ich bitte um ein Wort!


0092Grüße Simrock schönstens, und ich schreibe ihm wol
0093gestern oder morgen! Aber der Teufel, wenn man mit
0094Briefen von und an Fräulein Lipsius so geplagt wird, da
0095geht doch gewiß die ohnehin geringe Lust am Briefschreiben
0096zum Kukuk.


0097Und so verzeih’ auch du die verdrießlichen Buchstaben
0098— aber mich ärgert die Geschichte. Sei von Herzen gegrüßt
0099und lebe so gut, vergnügt und froh, wie du es verdienst.
0100Herzlichst dein J. Brahms.“


0101Zum besseren Verständniß erlaube ich mir, Brahms’
0102Brief an Fräulein Lipsius aus den von ihr herausgegebenen
0103Künstlerbriefen“ hier folgen zu lassen:


0104Wien, 27. Mai 1885.
0105Sehr geehrtes Fräulein!
0106Allerdings habe ich den Muth, Sie zu bitten, die frag-
0107lichen Briefe ungedruckt zu lassen. Ich weiß und bekenne,
0108daß ich niemals anders als unlustig, eilig und flüchtig
0109schreibe, aber ich schäme mich, wenn mir ein Beispiel vor
0110Augen kommt, wie das Ihre. Es gehört eine Art Muth
0111dazu, einem unbekannten, gebildeten und wohlwollenden
0112Manne so nachlässig zu schreiben, wie ich in diesem Falle.
0113Zugegeben aber, daß solche Briefe gedruckt werden, aus-
0114drücklich Ja dazu sagen — das wäre etwas Anderes als
0115Muth! Wenn Sie mir erlauben, an dieser Stelle aus-
0116drücklich zu sagen, daß mir Niemand einen schlechteren Ge[2]-
0117fallen thun kann, als wenn er Briefe von mir drucken
0118läßt — so will ich gern mit diesem selbst eine Ausnahme
0119machen. Sie können ihn auch um so leichter in Ihr Buch
0120aufnehmen, als Ihre Leser durch ihn erfahren, daß nicht
0121Sie, sondern ich mich gehütet habe, aus der beabsichtigten
0122Aufnahme meiner Briefe einen Schluß zu ziehen auf den
0123sonstigen Inhalt und Werth Ihres Buches.


0124Es gibt, wie ich nicht blos aus „Schiller und Goethe“,
0125sondern auch aus angenehmster persönlicher Erfahrung weiß,
0126genug Menschen, die gern und gute Briefe schreiben. Aber
0127es gibt eben auch von meiner Sorte, und deren Briefe
0128sollte man, wenn die Schreiber es sonst verdienen, nach-
0129sichtig und vorsichtig lesen und deuten. Ich bewahre mir
0130z. B. gern einen Brief von Beethoven als Reliquie; ent-
0131setzen aber muß ich mich, wenn ich bedenke, was so ein
0132Brief Alles bedeuten und erklären soll!


0133Aehnlich geht es mir mit den nachgelassenen Werken
0134eines Musikers. Wie eifrig bin ich allezeit solchen Spuren
0135nachgegangen, habe sie studirt und vielfach copirt. Wie
0136theuer waren mir z. B. bei Haydn und Franz Schubert 
0137diese ungezählten, überschüssigen Beweise ihres Fleißes und
0138Genies. Immer hatte ich den Wunsch, man möchte so werth-
0139volle und lehrreiche Schätze für größere Bibliotheken copiren,
0140damit sie den sich ernstlich dafür Interessirenden zugänglich
0141seien. Ich will nicht ausführen, mit welch anderen Empfin-
0142dungen ich die geliebten Schätze dann gedruckt sehe — oder
0143selbst noch dafür sorge, daß dies wenigstens ordentlich ge-
0144schehe! Mißverstanden, mißgedeutet wird hier wie dort ganz
0145unglaublich, und ob solche Veröffentlichung nöthig, gut oder
0146überflüssig und gar schädlich ist — weiß ich nicht!


0147Auf die Gefahr hin, daß Sie den Anfang dieser
0148Epistel für eitel Heuchelei halten, zeichne ich Ihr hoch-
0149achtungsvoll ergebener J. Brahms.“


0150Wie charakteristisch, wie inhaltreich bei aller Kürze ist dieser
0151Brief. Er beweist, daß Brahms nur die Lust, nicht das
0152Talent zu schreiben abging. Wo er sich einmal genöthigt
0153sah, statt seiner geliebten Correspondenzkarte einen sauberen
0154Briefbogen hervorzuholen und einige Sorgfalt an Styl und
0155Ausdruck zu wenden, da konnte er meisterhaft schreiben —
0156klar, kernig, um kein scharf bezeichnendes Wort verlegen.
0157Weil ihm nun einmal die Gedanken dazu da waren, sie zu 
0158verschweigen oder in Tönen zu äußern, so mißtraute er
0159seiner Fähigkeit, sie in fester literarischer Form auszuprägen.
0160Und doch galt es bald, für einen hohen Orden, bald für
0161die Aufnahme in eine Akademie schriftlichen Dank abzu-
0162statten — nichts Unangenehmeres für Brahms! Er pflegte
0163mir in solchen Fällen brummend sein Concept zur Durchsicht
0164zu bringen. Ich mochte nicht blos kein Wort ändern, son-
0165dern mußte manchen Satz ob seines präcisen Ausdruckes
0166und seiner plastischen Form bewundern. Und immer fand
0167Brahms instinctiv den rechten Ton zwischen allzu demüthiger
0168Bescheidenheit und stolzem Selbstbewußtsein. Einmal wollte
0169er die verdrießliche Aufgabe sich wenigstens durch einen Spaß
0170versüßen. Er trat mit ganz ungewohnter, geheimnißvoll ver-
0171gnügter Miene bei mir ein und flüsterte, er habe etwas
0172ganz Neues geschrieben und wolle es mir zeigen — kein
0173Mensch habe es noch gesehen. Nachdem er mich eine Weile in
0174freudigster Erwartung hatte zappeln lassen, zog er behutsam
0175sein Concept eines Dankschreibens (wenn ich nicht irre, für
0176den Maximilians-Orden) hervor und ergötzte sich an meiner
0177Enttäuschung.


0178Man darf es als einen Verlust beklagen, daß Brahms 
0179höchst selten und ungern sich entschloß, musikalische Fragen
0180brieflich zu erörtern. Seine tiefen musikhistorischen und
0181technischen Kenntnisse, verbunden mit so klarem, scharfem
0182Urtheil, hätten da einen Schatz von Belehrung niederlegen
0183können, sei es, daß er über eigene Projecte und Composi-
0184tionen oder über fremde das Wort ergriff. Brahms konnte
0185doch in vertraulicher Unterhaltung so fließend und lebhaft
0186musikalische Dinge, insbesondere von actuellem Interesse,
0187besprechen, Angelegenheiten des Musikvereins, Programme
0188unserer großen Concerte u. dgl. Mit der Feder in der
0189Hand wurde er einsylbig. Von seinen eigenen Compositio-
0190nen oder Plänen zu sprechen, davon hielt ihn zeitlebens die
0191ihm eigene Schamhaftigkeit zurück. Ebenso empfindlich re-
0192agirte seine Bescheidenheit gegen fremdes Lob. Sein Wider-
0193streben, an ihn gerichtete schmeichelhafte Briefe aus der
0194Hand zu geben, war schwer zu besiegen. Das Ersuchen der
0195Witwe Hanns v. Bülow’s, ihr einige Briefe ihres Mannes
0196zur Veröffentlichung anzuvertrauen, setzte Brahms in große
0197Unruhe, denn Bülow’s Briefe überströmten von Enthusias-
0198mus und Hingebung. Eine abschlägige Antwort konnte 
0199Brahms der Frau Marie v. Bülow trotzdem nicht geben.
0200Er suchte also aus seiner großen Bülow-Correspondenz fünf
0201bis sechs unbedeutende kurze Billette heraus, in denen nur
0202von Concertprogrammen, Wohnungsbestellung und anderen
0203praktischen Vorbereitungen die Rede war, und brachte sie
0204mir. Ich erklärte es für ein Unrecht gegen Bülow, wenn
0205man ihn, diesen glänzenden Virtuosen auch im Brief-
0206schreiben, lediglich durch so nichtssagende und uninteressante
0207Zettel in einer gedruckten Sammlung repräsentiren wollte.
0208Brahms dankte mir aufrichtig für mein ungeschminktes
0209Veto und entschloß sich, wenn auch nicht leichten Herzens,
0210ausführlichere und inhaltreichere Briefe Bülow’s an dessen
0211Witwe auszufolgen.


0212Einige Briefe von bedeutenderem musikalischen Inhalt
0213hat Brahms gelegentlich seiner Bearbeitung deutscher Volks-
0214lieder an Professor Spitta in Berlin gerichtet. Zu einem
0215andern ausführlichen und gehaltvollen Schreiben veranlaßte
0216ihn eine Jugend-Composition Beethoven’s, welche er
0217durch mich kennen gelernt hatte: die Trauercantate auf den
0218Tod Kaiser Joseph’s II. und die Cantate auf die Thron-
0219besteigung Kaiser Leopold’s II. Beide Compositionen waren nie
0220gedruckt und galten für verschollen. Ein musikalisch gebildeter
0221Kaufmann, Herr Friedmann, hatte die von deutlicher
0222Copistenhand geschriebenen Partituren bei einem Leipziger
0223Antiquar gekauft und mir zur Ansicht mitgetheilt. Im Be-
0224griff nach Karlsbad abzureisen, schickte ich die Cantaten, nur
0225flüchtig durchgeblättert, an Brahms, der mir im Mai 1884 
0226darüber nachstehenden Brief schrieb:


0227„Lieber Freund! Du bist abgereist und hast mir einen
0228Schatz zurückgelassen, ohne ihn selbst noch angesehen zu
0229haben. Da muß ich doch zum Danke ein paar Worte
0230schreiben, damit du erfährst, was ungefähr der Schatz be-
0231deutet. Es ist wol ganz zweifellos, daß damit die beiden
0232Cantaten gefunden sind, die Beethoven auf den Tod Joseph II. 
0233und die Thronbesteigung Leopold II. in Bonn geschrieben
0234hat. Also zwei größere Werke für Chor und Orchester aus
0235einer Zeit, in die wir bis dahin keine Composition von
0236irgend einer Bedeutung setzen konnten. Wäre nicht das
0237historische Datum (Februar 1790), so würde man jeden-
0238falls auf eine spätere Zeit rathen — aber freilich, weil wir
0239eben von jener Zeit nichts wußten: Stände aber kein Name [3]
0240auf dem Titel, man könnte auf keinen Andern rathen —
0241es ist Alles und durchaus Beethoven! Das schöne edle
0242Pathos, das Großartige in Empfindung und Phantasie, das
0243Gewaltige, auch wol Gewaltsame im Ausdruck, dazu die
0244Stimmführung, die Declamation und in beiden letzteren
0245alle Besonderheiten, die wir bei seinen späteren Werken be-
0246trachten und bedenken mögen.


0247Zunächst interessirt natürlich die Cantate auf Joseph II. 
0248Tod. Darauf gibt’s keine „Gelegenheitsmusik!“ Dürften
0249wir den Unvergessenen und Unersetzten heute feiern, wir
0250wären so warm dabei wie damals Beethoven und Jeder.
0251Es ist auch bei Beethoven keine Gelegenheitsmusik, wenn
0252man nur bedenkt, daß der Künstler nie aufhört, künstlerisch
0253zu bilden und sich zu mühen, und daß man dies beim
0254Jüngeren wol eher merkt als beim Meister. Gleich der erste
0255Klagechor ist ganz Er selbst. Du würdest bei keiner Note
0256und keinem Worte zweifeln. Ungemein lebhaft folgt ein Re-
0257citativ: „Ein Ungeheuer, sein Name Fanatismus, stieg aus
0258den Tiefen der Hölle ...“ (In einer Arie wird er von
0259Joseph zertreten.) Ich kann nicht helfen, es ist mir eine be-
0260sondere Lust, hiebei zurückzudenken an jene Zeit und, was
0261ja die heftigen Worte beweisen, wie alle Welt begriff, was
0262sie an Joseph verloren. Der junge Beethoven aber wußte
0263auch, was er Großes zu sagen hatte, und sagte es laut, wie
0264es sich schickt, gleich in einem kraftvollen Vorspiel. Nun aber
0265erklingt zu den Worten: „Da stiegen die Menschen ans
0266Licht“ etc., der herrliche F-dur-Satz aus dem Finale des
0267Fidelio“. Dort wie hier die rührende, schöne Melodie der
0268Oboë gegeben. (Der Singstimme zwar will sie nicht passen
0269oder nur sehr mühsam.) Wir haben viele Beispiele, wie
0270unsere Meister einen Gedanken das zweitemal und an anderer
0271Stelle benützten. Hier will es mir ganz besonders gefallen.
0272Wie tief muß Beethoven die Melodie in der Cantate (also
0273den Sinn der Worte) empfunden haben — so tief und
0274schön wie später, als er das hohe Lied von der Liebe eines
0275Weibes — und auch einer Befreiung — zu Ende sang.
0276Nach weiterem Recitativ in Arien schließt eine Wiederholung
0277des ersten Chors das Werk ab; aber ich will jetzt nicht
0278weiter beschreiben; die zweite Cantate ohnedies nicht. Inter-
0279essirt doch hier auch mehr nur die Musik und alles Einzelne,
0280das Beethoven angeht.


0281Nun aber, lieber Freund, höre ich dich schon in
0282Gedanken fragen, wann werden die Cantaten aufgeführt und
0283wann gedruckt?*) Und da hört meine Freude auf. Das
0287Drucken ist jetzt so sehr Mode geworden, namentlich das
0288Drucken von Sachen, die dies gar nicht beanspruchen. Du
0289kennst meinen alten Lieblingswunsch, man möchte die soge-
0290nannten sämmtlichen Werke unserer Meister — der ersten
0291sogar, gewiß aber der zweiten — nicht gar zu sämmtlich
0292drucken, aber, und nun wirklich vollständig, in
0293guten Copien den größeren Bibliotheken einverleiben. Du
0294weißt, wie eifrig ich allezeit suchte, ihre ungedruckten Werke
0295kennen zu lernen. Von manchem geliebtesten Meister aber
0296Alles gedruckt zu besitzen, wünsche ich nicht. Ich kann
0297es auch nicht richtig und gut finden, daß Liebhaber und
0298junge Künstler verführt werden, ihr Zimmer und ihr
0299Gehirn mit allen „Sämmtlichen Werken“ zu überfüllen und
0300ihr Urtheil zu verwirren.


0301Unserm Haydn ist die Ehre einer Gesammtausgabe
0302noch nicht geworden. Eine wirklich vollständige Ausgabe
0303seiner Werke wäre ja auch so unmöglich wie unpraktisch;
0304vielleicht und wie wünschenswerth dagegen eine abschrift-
0305liche
Sammlung derselben, und diese für öffentliche
0306Bibliotheken mehrfach copirt. Wie wenig geschieht dagegen
0307für neue Ausgaben von so mancherlei Werken, deren
0308Studium und deren Verbreitung zu wünschen wäre. So
0309namentlich ältere Gesangmusik jeder Art. Du wirst zwar
0310sagen, die werden auch nicht gebraucht — sie sollten es
0311aber und sie werden es ganz ohne Zweifel immer mehr.
0312Hier wären auch Opfer am Platz und würden sich in
0313jeder Beziehung gewiß sicherer lohnen.


0314Das sind aber weitläufige Themen, ich will dir keine
0315Variationen weiter darüber vorphantasiren; sie gehen auch
0316zu ausschließlich aus Moll, und ich weiß sehr wohl, daß
0317auch welche aus Dur möglich und nöthig sind.


0318Komme aber doch bald und theile die ganz eigene
0319Empfindung und Lust, mit mir der Einzige auf der Welt
0320zu sein, der diese ersten Thaten eines Helden kennt.
0321Herzlichst dein Johannes Brahms.“

Fußnoten
  • *)Auf Brahms’ Anregung erlebte die „Trauercantate auf den
    Tod Joseph II.“ ihre erste Aufführung durch die „Gesellschaft der
    Musikfreunde“ im November 1884.