Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11898. Wien, Mittwoch, den 6. October 1897

[1]

Hofoperntheater.

(„Dalibor“, Oper in drei Acten von Joseph Wenzig; deutsche Bearbeitung von Max Kalbeck, Musik von Friedrich Smetana.)


0003Ed. H. Wer einmal in Prag gewesen, der kennt auch
0004den runden alten Thurm „Daliborka“, welcher vom Hrad-
0005schin so trotzig in den tiefen Burggraben hinabblickt. Dort
0006soll der als Hochverräther eingekerkerte Dalibor sich eine
0007Geige ausgebeten und darauf meisterhaft zu spielen gelernt
0008haben. Die Sage erzählt, sein wundervolles Violinspiel habe
0009stets lauschende Zuhörer herangelockt, welche dem Gefangenen
0010durch die Gitterstäbe Münzen hinabwarfen. In der Sage,
0011im Bilde, im Bewußtsein des Volkes bleibt der gefangene
0012Dalibor untrennbar verwachsen mit seinem Geigenspiel. Ist
0013es nicht unbegreiflich, daß der Textdichter und sein Componist
0014dieses poetische, die Musik geradezu herausfordernde Moment
0015sich konnten entgehen lassen? Die verkleidete Milada bringt
0016doch eigens dem Dalibor eine Geige in den Kerker! Er
0017dankt entzückt, legt aber das Instrument unberührt beiseite.
0018Die Beiden verlieren sich in einem langen Liebesduett; von
0019der Geige ist nicht mehr die Rede. Hingegen schildert
0020Dalibor in jedem der drei Acte gar schwärmerisch, wie einst
0021sein Freund Zdenko so herrlich auf der Geige gespielt
0022habe, was uns sehr wenig interessirt, da Zdenko in dem
0023Stücke gar nicht vorkommt.


0024Professor Wenzig’s Libretto ist fast durchaus freie Er-
0025findung und, wie man sieht, keine von den besten. Das
0026Historische daran beschränkt sich etwa auf Folgendes. Der
0027böhmische Ritter Dalibor hat sich (1497) der Burg Plosch-
0028kowitz zu bemächtigen versucht, indem er die Bauern gegen
0029ihren Gutsherrn Wenzel Adam v. Drahenitz aufwiegelte.
0030Die mit Letzterem befreundeten Bürger von Leitmeritz zogen
0031gegen Dalibor zu Felde, nahmen ihn gefangen und lieferten
0032ihn zur Bestrafung an den König Wladislav aus. Dieser
0033ließ den Landfriedensbrecher nach längerer Gefangenschaft
0034im „Weißen Thurm“ des Prager Schlosses enthaupten.


0035In Smetana’s Oper hat Dalibor den Burggrafen
0036von Ploschkowitz getödtet, um die Ermordung seines Freundes
0037Zdenko zu rächen. Aus dieser Vorhandlung entwickelt sich
0038das Drama. Wir sehen den König Wladislav Gericht halten
0039und Milada, die Schwester des erschlagenen Grafen, Klage
0040führen gegen Dalibor. Dieser gesteht freimüthig die That,
0041mit welcher er seinen Freund gerächt. Die Richter ver-
0042urtheilen ihn zu ewigem Kerker. Vergebens fleht jetzt Mi-
0043lada, deren Haß sich schnell in Liebe verwandelt hat, um
0044Gnade für Dalibor. Ein unverhoffter Trost wird ihr nur
0045in dem muthigen Zuspruch eines Landmädchens Jutta,
0046welches, durch Dankbarkeit an Dalibor gefesselt, seine Be-
0047freiung plant. Im zweiten Acte sehen wir Milada als
0048Jüngling verkleidet in der Behausung des Kerker-
0049meisters Benesch, dessen Vertrauen und Zuneigung sie
0050allmälig gewonnen hat. Ganz wie Fidelio. Sie schmeichelt
0051dem Alten sogar die Erlaubniß ab, zu Dalibor in den
0052Kerker hinabzusteigen und ihm die Geige zu überbringen.
0053Die Neue und aufopfernde Liebe Milada’s wecken vollen
0054Widerklang im Herzen Dalibor’s; über Beider Umarmung
0055fällt der Vorhang. Den dritten Act eröffnet wieder eine
0056feierliche Gerichtsscene unter dem Vorsitz des Königs. Der
0057Fluchtversuch Dalibor’s soll noch am nämlichen Tage mit
0058dessen Hinrichtung gesühnt werden. Milada, in Helm und
0059Rüstung, wagt, von Dalibor’s Anhängern unterstützt, einen
0060gewaltsamen Versuch zu seiner Rettung. Sie wird tödtlich
0061verwundet und stirbt in Dalibor’s Armen.


0062Das Textbuch, im Geschmack verstaubter Ritterstücke,
0063ist von dürftiger Erfindung und leidet überdies an auf-
0064fallendem technischen Ungeschick, zumal im scenischen Auf-
0065bau. Einheitlich entwickelt sich nur die Exposition, ähnlich
0066wie im ersten Acte von „Lohengrin“, nach Art eines zu-
0067sammenhängenden Finales. Die Musik wirkt hier durchaus
0068schön und bedeutend. Von den pianissimo einsetzenden Trom-
0069petenstößen steigert sich die gemessen vorschreitende Intro-
0070duction zu großer Kraft in dem Chorsatze: „Heut’ hält der
0071König selbst Gericht.“ Nach einem anfangs zarten, dann
0072hell aufjauchzenden Gesang der Jutta, die auch den jetzt
0073verpönten Schmuck einer Schlußcadenz nicht scheut, folgt
0074der Einzug des Königs: eine von Trompeten auf der
0075Bühne unterstützte feierliche Musik in langsamem Dreiviertel-
0076tact. Hier frappirt uns eine schon in Smetana’s früheren
0077Opern bemerkte Eigenthümlichkeit; ich meine sein langes,
0078allzu langes Verweilen bei ein und demselben Motiv. Durch
0079etwa fünfzig Andante-Tacte hören wir, unverändert in
0080den Bässen wie in der Melodie, dasselbe kurze Motiv, das
0081nur dynamisch gesteigert wird durch allmälige Anschwellung
0082und Abnahme. Echt dramatisch ist Milada’s Erzählung von
0083dem nächtlichen Ueberfall; ritterlich kraftvoll Dalibor’s Ent-
0084gegnung. Da erklingt auch seine zarte, von einem Violinsolo
0085anmuthig umspielte As-dur-Cantilene, welche als Erinne-
0086rungsmotiv an Zdenko später mehrfach wiederkehrt. Den zweiten
0087Act durchschneiden recht ungeschickt drei Verwandlungen:
0088ein Wirthshaus im Freien, dann die Wohnung des Kerker-
0089meisters, endlich Dalibor’s Gefängniß. Der volksthümliche
0090Soldatenchor vor dem Wirthshaus mit dem sich anschließen-
0091den Duett zwischen Jutta und ihrem Liebhaber Veit stehen
0092in äußerst losem Zusammenhange mit der Handlung. Wir
0093heißen sie trotzdem willkommen als die einzigen heiteren
0094Lichtpunkte in der beklemmend düsteren Atmosphäre dieser
0095Oper, die sonst nur zwischen dem Gerichtssaal und
0096dem Kerker sich bewegt. Die nächste Scene bringt
0097einen trübseligen Gesang des sein Los beklagenden Kerker-
0098meisters und einen um so leidenschaftlicheren Gefühlserguß
0099Milada’s, welche in dem Gedanken an Dalibor’s Rettung
0100schweigt. Im Kerker erscheint dem schlafenden Dalibor sein
0101todter Freund Zdenko, auf der Geige spielend; die Orchester-
0102Begleitung ist von wundervoll süßem Klang, die Vision selbst
0103etwas altmodisch; mehr zart empfunden als originell er-
0104funden klingt der ihr nachträumende Gesang Dalibor’s. In
0105der folgenden großen Scene zwischen Dalibor und Milada 
0106gibt der Componist sein Bestes. Trotz seiner großen Länge
0107wirkt dieses Liebesduett mächtig ergreifend auf den Zuhörer.
0108Den dritten Act spaltet wieder ein Zwischenvorhang in zwei
0109Theile: zuerst die feierliche Gerichtssitzung, die, mit Dalibor’s
0110Verurtheilung schließend, zu dem ersten Act ein unwill-
0111kommenes Duplicat bildet, sodann der Angriff auf die Burg
0112und Milada’s Tod. Die Schlußscene hat durch Director
0113Mahler eine ungemein glückliche Abänderung und Verbesse-
0114rung erfahren. In Smetana’s Original stürzen nach dem
0115rührenden Frauenchor an Milada’s Leiche plötzlich Bewaffnete
0116auf Dalibor los, welcher mit verblüffender Schnelligkeit
0117sich rechtzeitig ersticht. Dieser ganze plumpe Spectakel dauert
0118kaum drei Minuten, welche jedoch auf allen Bühnen hin-
0119reichten, das Publicum aus der Stimmung zu reißen und
0120den Erfolg der Oper zu gefährden. Mahler läßt hier nach
0121dem sanften Trauergesang an Milada’s Leiche, dessen Nach-
0122spiel er um ein Weniges weiterführt, den Vorhang langsam
0123fallen. So scheidet der Zuhörer von dem Werke im Nach-
0124gefühl sanfter Rührung, ohne durch den so derb übers
0125Knie gebrochenen Schluß an gefährliche Trauerspiel-Parodien
0126erinnert zu werden.


0127Die Bereicherung unseres Opern-Repertoires mit Sme-
0128tana’s „Dalibor“ verdient den aufrichtigen Dank aller
0129Musikfreunde. Das Wiener Publicum kannte dieses Werk [2]
0130nur aus der Theater- und Musikausstellung vom Jahre
01311892; in Kalbeck’s wohlklingender deutscher Uebersetzung ist
0132es neu für uns und neben der „Verkauften Braut“, dem
0133Geheimniß“ und dem „Kuß“ die vierte Oper Smetana’s
0134im Besitzstande des Hofoperntheaters. Hoffentlich fügt man
0135auch eines Tages „Die beiden Witwen“ dazu, eine kleinere
0136komische Oper, deren Besetzung und Studium wenig Mühe
0137verursacht. Gegenüber diesen heiteren, idyllischen Stücken
0138legte Smetana selbst weit größeren Werth auf seinen heroi-
0139schen „Dalibor“; er pflegte ganz speciell von der „Verkauften
0140Braut“ sehr geringschätzig, als von einer Spielerei zu
0141sprechen, zu welcher nicht Ehrgeiz, sondern Trotz gegen
0142seine Gegner ihn veranlaßt habe. Diese hätten nach seinem
0143Erstlingswerke „Die Brandenburger“ ihm vorgeworfen, er sei
0144ein Nachahmer Wagner’s und werde niemals eine leichte natio-
0145nale Oper zu Stande bringen. Nicht immer unfehlbar richtet
0146der Autor in eigener Sache; von seinen Kindern ist das eine
0147nun einmal sein Liebling, ein anderes das Aschenbrödel. Das
0148Maß des daran gewendeten Eifers und Ehrgeizes bestimmt
0149häufig sein Urtheil. Uns gilt trotzdem die „Verkaufte Braut“
0150als das Beste, Originellste, was Smetana an Opernmusik
0151geschrieben. Das national-czechische Element, das uns ja in
0152seiner Musik am lebhaftesten anspricht, ist in keiner seiner
0153übrigen Opern so rein und schön ausgeprägt, wie in der
0154Verkauften Braut“. Hier hatte der volksthümliche Inhalt
0155überaus günstig der Musik vorgearbeitet. „Dalibor“ be-
0156handelt zwar auch einen national-böhmischen Stoff; die
0157Musik hat jedoch nichts von dem köstlichen unverkennbaren
0158Erdgeruch der „Prodaná nevesta“ oder „Hubička“. Kaum
0159daß in der von Violinfiguren umspielten As-dur-Melodie
0160Dalibor’s im ersten Acte ein slavisches Lüftchen weht.
0161Als Kunstwerk höheren Styles und gereifter Technik
0162durfte Smetana immerhin den „Dalibor“ höher stellen;
0163aber die Erfindung fließt darin nicht so leicht, so reiz-
0164voll und ursprünglich, wie in der kleineren Oper.
0165Die bereits oben erwähnte Eigenheit Smetana’s, ein kurzes
0166Motiv durch eine lange Reihe von Tacten unerbittlich zu
0167wiederholen, drückt auf mehr als Einem Musikstücke in
0168Dalibor“. Er kann sich oft von einem bestimmten Rhythmus,
0169einer einmal angefaßten Figur nicht losmachen und ladet
0170dadurch auf ganze Scenen eine Wolke von Monotonie.
0171Dalibor’s Gesang im Kerker „Mein Zdenko“ wird in
0172sehr langsamem Tempo durch volle fünfzig Tacte ununter-
0173brochen mit derselben Staccatofigur in Sechzehnteln be-
0174gleitet — wer sollte da nicht ermüden! Wie denn über-
0175haupt Dalibor bei jeder Erinnerung an Zdenko in eine
0176lang anhaltende rhythmische Eintönigkeit verfällt. Wie
0177solche eigensinnig festgehaltene Monotonie den musi-
0178kalischen Reiz abschwächt, so wird andererseits die
0179dramatische Wirkung vieler Scenen durch zu reichlich
0180eingeschobene Orchester-Zwischenspiele gehemmt. In der Er-
0181zählung Milada’s vor Gericht erwartet das Gefühl des
0182Zuhörers ein rascheres Fortschreiten, desgleichen in der
0183langen Vertheidigung Dalibor’s — die Wirkung beider
0184wird unterbunden durch das so häufig dazwischenredende
0185Orchester. Das sind unter Anderm die Ursachen, warum wir
0186in „Dalibor“ zwar durch ungemeine Schönheiten uns er-
0187hoben und gefesselt, aber am Ende doch ermüdet fühlen
0188und schließlich der Natur in der „Verkauften
0189Braut“ den Vorzug geben vor der Kunst im
0190Dalibor“. Den hochbegabten, seine Kunst vollkommen
0191meisternden Musiker verräth allerdings jede Nummer.
0192Strenge und doch zwanglos schmiegt die Musik sich der
0193Scene an, charakterisirt die Personen, trägt und färbt die
0194Stimmung durch den Zauber des Orchesters. Dabei maßt
0195die Instrumental-Begleitung sich keine Vorherrschaft über die
0196Singstimmen an; nirgends wird der Gesang zu nebenher-
0197laufendem Schatten einer unendlichen Orchester-Melodie ver-
0198kümmert. Daß man ehedem in Prag den „Dalibor“ als
0199einen Abklatsch Wagner’s bezeichnen und ablehnen konnte,
0200ist uns heute kaum mehr begreiflich. Als „Dalibor“ ent-
0201stand (zwischen 1866 und 1868), beherrschten „Tannhäuser“
0202und „Lohengrin“ alle Bühnen; kein Wunder, wenn Smetana,
0203ein aufrichtiger Verehrer Wagner’s und Liszt’s, unbewußt
0204etwas von dem berauschenden Geist dieser Werke
0205mit einsog. Das für den eigentlichen Wagnerstyl ent-
0206scheidende Werk, „Tristan“, von Wagner selbst als das erste
0207bezeichnet, welches seinen „strengsten Anforderungen ent-
0208spricht“ — den „Tristan“ hat Smetana damals schwerlich ge-
0209kannt, ebensowenig wie die „Nibelungen“. Ich finde im
0210Dalibor“ mehr Anklänge an Weber und Beethoven, als
0211an Wagner. Was zumeist an diesen erinnert, ist der Auf-
0212bau des ersten Actes, der vom Textbuche aus ein ebenso
0213unverhülltes Seitenstück zu „Lohengrin“ bildet, wie der
0214zweite Act zum „Fidelio“. Daß Smetana’s „Dalibor“
0215weder das eine, noch das andere jener Vorbilder erreicht 
0216hat, unterliegt keinem Zweifel. In seinen dramatischen
0217Grundsätzen trifft Smetana vielfach mit Wagner zu-
0218sammen; hingegen ist die musikalische Erfindung im
0219Dalibor“ vollkommen selbstständig und frei von jeder
0220Anleihe bei Wagner. Somit haben nach dieser Richtung
0221vom „Dalibor“ weder die Wagnerianer viel zu hoffen, noch
0222deren Gegner etwas zu fürchten.


0223Dalibor“ wurde im Hofoperntheater mit theil-
0224nehmendster Andacht gehört, mit lebhaftestem Beifalle auf-
0225genommen. An diesem Erfolg hat die treffliche Aufführung
0226kaum geringeren Antheil als die Composition selbst. Für
0227die eigentliche Heldin der Oper, Milada, ist Frau Sedl-
0228mair
wie geschaffen. Nicht nur ihre imposante Er-
0229scheinung, auch ihr ausdrucksvolles, in großen, edlen Linien
0230sich bewegendes Spiel, ihre gediegene Gesangstechnik und
0231warme Empfindung verkörpern und beleben diese Gestalt
0232von Anfang bis zu Ende. Milada gehört zu den an-
0233strengendsten Partien. Aber auch die zweite Frauenrolle
0234neben der dramatischen Heldin, das Bauernmädchen Jutta,
0235ist vom Componisten nicht viel schonender behandelt. Fräulein
0236Michalek, das jüngste Mitglied unserer Oper, löste diese
0237neue Aufgabe mit überraschendem Gelingen. Ihre anmuthige
0238Persönlichkeit, gewandte Darstellung und warme Vortrags-
0239weise verbürgen ihre künstlerische Zukunft. In dem ihr zu-
0240sagenden Rollenkreise ist sie jetzt schon ein werthvoller Besitz
0241unserer Oper. Unter den Männerrollen ist einzig der Titel-
0242held, Dalibor, von größerer Bedeutung. Herrn Winkel-
0243mann’s
ritterliche Erscheinung und energischer Vortrag
0244kommen dieser Rolle vortrefflich zu statten. Die kleineren,
0245für das Ensemble im „Dalibor“ höchst wichtigen Rollen
0246finden in Herrn Neidl (König), Dippel (Veit), Hesch 
0247(Kerkermeister) und Felix (Budivoj) durchwegs musterhafte
0248Darsteller. Besonderes Lob verdient das exacte Zusammen-
0249wirken aller Kräfte und die vortreffliche Ausstattung;
0250die Aufzüge in der Königsburg sind prunkvoll, die scenischen
0251Vorgänge in der Schlußscene des dritten Actes durchaus
0252klar und anschaulich. Für erste Vorstellungen ist das Verbot
0253eines mehr als dreimaligen Hervorrufes der Künstler be-
0254kanntlich aufgehoben. Das Publicum, namentlich das jugend-
0255liche auf den Galerien, machte von dieser Freiheit einen
0256verschwenderischen Gebrauch; wie oft die Hauptdarsteller
0257nach jedem Act und vollends am Schluß der Oper dankend
0258erscheinen mußten, spottete jede Controle.

[3]


0259Ganz besonders hat Herr Director Mahler sich um
0260je Aufführung des „Dalibor“ verdient gemacht. Gerne
0261ergreife ich diesen Anlaß, den ausgezeichneten Dirigenten zu
0262begrüßen, der in so hohem Grade die Anerkennung und das
0263Vertrauen unseres schwer zu befriedigenden Brahms ge-
0264nossen hat. Er theilt mit Wilhelm Jahn die werthvolle
0265Eigenschaft, sein Augenmerk nicht blos der Partitur, son-
0266dern auch stets dem Bühnenbilde zuzuwenden, der drama-
0267tischen wie der musikalischen Wirkung überall feinsinnig nach-
0268zuhelfen. Mit eindringendem Verständniß und minutiöser
0269Sorgfalt hat Mahler den „Dalibor“ einstudirt. Wie er
0270jede Feinheit der Partitur hervorhebt, die harmonische Einheit
0271des Ganzen festhält, hie und da mit einer bescheidenen Kürzung
0272oder Verlängerung die Wirkung steigert, wird keinem
0273Kenner des Werkes entgangen sein. Jung, erfahren und
0274ehrgeizig, ist er hoffentlich der Mann, unserer in letzter
0275Zeit müde und schläfrig gewordenen Oper neues Leben
0276einzuhauchen. Ich habe außer dem „Dalibor“ kürzlich auch
0277zwei ältere Opern, „Figaro’s Hochzeit“ und „Czar und
0278Zimmermann“, unter Mahler’s Direction gehört und kann
0279mich nur dem Lobe anschließen, das die gesammte fach-
0280kundige und von lächerlichen Commandoworten unab-
0281hängige Kritik über seine Leistungen ausgesprochen. Ob-
0282gleich Wagnerianer, wie ja fast alle jüngeren Dirigenten,
0283verwechselt er doch nicht seinen Privatgeschmack mit den
0284Bedürfnissen des Publicums und der Sänger. Er nimmt
0285sich einer Mozart’schen oder auch Lortzing’schen Oper mit
0286derselben eingehenden Sorgfalt und Liebe an, wie des
0287Nibelungenringes. Mit vollem Behagen genoß das Publi-
0288cum die jüngsten Aufführungen der genannten zwei Opern,
0289welche in den letzten Jahren unter arger Vernachlässigung
0290litten. Lortzing’s „Czar“ hat heute, sechzig Jahre nach
0291seinem Erscheinen, fast wie eine Novität gewirkt. Das Werk
0292ist eben von Mahler neu studirt, theilweise neu besetzt und
0293in einigen Stellen dem Originale getreu vervollständigt
0294worden. Ich entsinne mich nicht, das Quartett im ersten
0295Acte und das letzte Finale (das bis auf die Abschieds-
0296strophe Czar Peter’s stets wegblieb), je zuvor gehört zu
0297haben. Die Aufführung von Smetana’sDalibor“,
0298mit welcher Hamburg und München uns lange zuvor-
0299gekommen, war ohne Frage eine Ehrenschuld der ersten
0300Opernbühne Oesterreichs. Es wird nicht die letzte sein,
0301deren Tilgung wir Herrn Mahler zu verdanken haben.