Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11926. Wien, Donnerstag, den 4. November 1897

[1]

Zur Erinnerung an Felix Mendelssohn-Bartholdy.


0002Ed. H. Genau ein halbes Jahrhundert schließt sich
0003heute nach Mendelssohn’s Tod. Nach ganz kurzer, anfangs
0004nicht gefahrdrohender Krankheit war Mendelssohn am Abend
0005des 4. November 1847 in Leipzig gestorben. Auf der Höhe
0006seiner Schaffenskraft und seines Ruhmes, erst 38 Jahre
0007alt. Unvergeßlich bleibt mir der Tag, welcher die Trauer-
0008kunde nach Wien brachte. Wie ein Blitzschlag traf sie hier
0009alle Freunde ernster Musik. Diese Gemeinde war damals
0010beiweitem kleiner als heute, aber sie hing, wie fast alle
0011Minoritäten, um so fester zusammen in ihren idealen Be-
0012strebungen. Musiker und Musikfreunde, die einander kaum
0013kannten, theilten auf der Straße sich die Unglücksbotschaft
0014mit, um den eigenen Schmerz an dem Mitgefühle Gleich-
0015gestimmter zu mildern. Es gab keinen Streit darüber: die
0016musikalische Kirche hatte ihr sichtbares Oberhaupt verloren.
0017Privatbriefe aus Leipzig über Mendelssohn’s Krankheit und
0018Sterben gingen von Hand zu Hand. Ich entsinne mich
0019namentlich eines Briefes von Moscheles, der am Todtenbette
0020des Freundes gestanden und in ergreifenden Worten dessen
0021letzte Augenblicke schilderte. Er hat, so hieß es darin, einen
0022ganz sanften Tod gehabt. Man war schon Tags vorher auf
0023die Katastrophe gefaßt. Straße, Hausflur, Treppe und Vor-
0024saal standen voll Menschen, die laut weinten; in seinem
0025Zimmer viele Aerzte und Freunde, sein Bruder und seine
0026Frau, die fortwährend ruhig an seinem Bett gekniet hat,
0027ihm die Stirne küssend. Nachdem er den letzten Athemzug
0028gethan, hat die Frau gebetet und ist gefaßt hinausgegangen
0029zu ihren fünf Kindern. Man kannte keine glücklichere Ehe,
0030als die Mendelssohn’s, und keine vortrefflichere Frau. Am
00314. November sollte das Abonnements-Concert im Gewand-
0032haus stattfinden. Die Musiker erklärten schon Tags vorher,
0033daß sie nicht spielen könnten, um keinen Preis der Welt.
0034Sie standen alle unten im Hof. Am 7. November beging
0035Leipzig eine würdige Todtenfeier in der Paulinerkirche.
0036Dem pomphaften Begräbniß folgten alle Behörden und 
0037Honoratioren sowie Tausende von Leidtragenden. Das Leichen-
0038tuch trugen Robert Schumann, Gade, Moscheles, Ferdinand
0039David, Moriz Hauptmann und Rietz. Sie Alle sind dem
0040Meister bereits nachgefolgt.


0041In Wien war die Bestürzung um so größer, als
0042man unmittelbar vor der ersten Aufführung des Oratoriums
0043Elias“ stand, welche am 7. November Mendelssohn diri-
0044giren sollte. Wie lange hatten seine Verehrer sich darauf
0045gefreut, dem Meister einen glänzenden Triumph zu bereiten!
0046Die Aufführung des „Elias“ fand am 14. November, Mittags,
0047in der kaiserlichen Winterreitschule unter Mitwirkung von
00481000 Musikern statt. Alle Solosänger — die Damen
0049Aigner, Mayer, Betty Bury, E. Schwarz, die Herren
0050Staudigl, Lutz, Ausim und Salamon — erschienen in tiefe
0051Trauer gekleidet; die Chorsängerinnen weiß mit schwarzer
0052Schleife an den Schultern. Das Pult, an welchem Mendels-
0053sohn sein Werk dirigiren sollte, war mit schwarzem Tuch
0054behangen, darauf eine Notenrolle und ein Lorbeerkranz;
0055den Tactstab führte J. B. Schmiedl an einem andern Pult.
0056Die Tragödin Amalie Weißbach sprach einen von L. A. Frankl 
0057gedichteten Prolog, in welchem die allgemeine Trauer be-
0058redten Ausdruck fand. Das Werk machte unter so außer-
0059ordentlichen Verhältnissen natürlich einen tiefen Eindruck
0060auf die Hörer. Von nachhaltiger Wirkung war es jedoch
0061nicht; „Elias“ mußte elf Jahre warten bis zu seiner
0062zweiten vollständigen Aufführung in Wien. Immerhin
0063bleibt Wien der Ruhm, die erste Aufführung
0064des „Elias“ auf dem Continent ins Werk gesetzt
0065zu haben. Nur England war, auf dem Musikfest
0066zu Birmingham, um einige Monate vorangegangen. So
0067erschien denn halbwegs getilgt, was die Wiener Concert-
0068institute vordem an Mendelssohn verschuldet hatten. War
0069doch die erste vollständige Aufführung des „Paulus“ in
0070Wien erst im Jahre 1839 durchgesetzt worden, nachdem
0071dieses Meisterwerk bereits in England und Amerika, ja in
0072vielen kleinen deutschen Städten einen epochemachenden Er-
0073folg errungen hatte. Die bequeme Indolenz unserer Dilet-
0074tantenvereine, ihre Abneigung gegen norddeutsche Com-
0075ponisten, endlich die Scheu vor größeren Auslagen trugen
0076die Schuld, daß Mendelssohn’s bedeutendste Schöpfun-
0077gen so spät den Wienern bekannt geworden.*) 
0081Drei Wiener Musikfreunden, dem Hofrathe Vesque
0082v. Püttlingen, Dr. Leopold v. Sonnleithner 
0083und F. Klemm, sei es unvergessen, daß sie die erste Auf-
0084führung des „Paulus“ auf eigene Kosten veranlaßt
0085haben — freilich nur im kleinen Saal und mit sehr
0086mäßiger Besetzung. Durch Mendelssohn’s Freund, den Hof-
0087opernsänger Franz Hauser in Wien, suchte damals die
0088„Gesellschaft der Musikfreunde“ den Componisten zur persön-
0089lichen Leitung des „Paulus“ zu bewegen. Mendelssohn war
0090anfangs geneigt, zu kommen, fühlte sich aber durch das
0091wenig rücksichtsvolle Benehmen der „Gesellschaft“ bald zum
0092entgegengesetzten Entschluß veranlaßt. So ist das Wiener
0093Publicum leider nie dazu gelangt, persönliche Fühlung mit
0094Mendelssohn zu gewinnen. Trotzdem blieb dieser nicht ganz
0095ohne Beziehungen zu Wien. Sein Briefwechsel mit zwei
0096Wiener Freunden — Franz Hauser und Alois Fuchs —
0097den theilweise zu veröffentlichen mir vergönnt war, gibt
0098interessante Aufschlüsse darüber.**)


0101Franz Hauser, der nachmalige Director des Münchener
0102Conservatoriums (geboren 1794 in Krassowitz bei Prag), war
0103in den Dreißiger-Jahren einer der hervorragendsten Sänger
0104am Kärntnerthor-Theater, wo er erste Baritonpartien sowol
0105in den deutschen als auch in den italienischen Vorstellungen
0106sang. Sein Bündniß mit Mendelssohn gehört zu den an-
0107ziehendsten, rührendsten Freundschaftsverhältnissen zwischen
0108Künstlern. Auf der Reise nach Italien 1830 verweilt
0109Mendelssohn eine zeitlang in Wien und wohnt bei Hauser,
0110in der „Bärenmühle“ auf der Neuen Wieden. Der Auf-
0111enthalt ist ihm unvergeßlich und er kommt in vielen Briefen
0112voll Dankbarkeit darauf zurück. Aus Rom erinnert er ihn
0113daran, wie er an Hauser’s Clavier eine Stelle aus Goethe’s
0114Erster Walpurgisnacht componirt habe, woraus sich ihm
0115allmälig die ganze herrliche Cantate entwickelte. Gegen
0116Preisausschreibungen hegte Mendelssohn einen eingefleischten [2]
0117Widerwillen. „In Wien,“ schreibt er 1835 an Hauser,
0118„haben sie für die beste Symphonie einen Preis von
011950 Ducaten ausgesetzt, und Seyfried, Umlauf, Kreutzer 
0120und Consorten sollen’s entscheiden, lauter Kerls, die
0121keine Symphonie zusammenbringen können, und wenn sie
0122sich drei Jahre kasteiten. Wäre es ein Comité von
0123den besten Componisten der Welt, so möcht’ ich doch auch
0124um keinen Preis concurriren; der bloße Gedanke, daß ich
0125eine Preismusik componirte, machte mich so unmusikalisch,
0126wie Umlauf und Seyfried zusammengenommen.“ In seinen
0127letzten Briefen tritt Mendelssohn’s Wunsch, die Kaiserstadt
0128wieder zu sehen, immer bestimmter auf. „Wahrhaftig, ich
0129muß einmal nach Wien,“ schreibt er im Mai 1846 an
0130Hauser, „ich höre doch gar zu viel rechts und links davon
0131erzählen, und ihr Alle sagt mir so viel Freundliches über
0132meine Musik und so viel Außerordentliches über ihre Aus-
0133führung dort, daß mir der Mund sehr wässerig wird.
0134Vielleicht bring’ ich den „Elias“, wenn er ganz neu ist, so
0135gegen den Winter, oder ich warte, bis ich einen Opern-
0136stoff gefunden und componirt habe und bis die Jenny
0137Lind wieder einmal da ist — und das Letztere wäre mir das
0138Liebste — aber auf irgend eine Art hoffe ich mir doch
0139eure Kaiserstadt einmal selbst anzusehen, und dann gehe ich
0140zuerst nicht nach dem Stephansthurm, auch nicht zum
0141Sperl, sondern in die Bärenmühle.“ Es war ihm, war
0142uns nicht beschieden. —


0143Mendelssohn’s Correspondenz mit dem Hofkriegsraths-
0144Beamten Alois Fuchs beruhte nicht sowol auf innigem
0145Freundschaftsbedürfnisse, als auf einem äußeren Motiv.
0146Fuchs († 1853) war bekanntlich ein kenntnißreicher, un-
0147ermüdlicher Sammler von musikalischen Autographen und
0148Porträts. Während seines Wiener Aufenthaltes im Sommer
01491830 hatte Mendelssohn mit lebhaftestem Interesse die
0150Fuchs’sche Sammlung besichtigt und sich erboten, dafür nach
0151Kräften thätig zu sein. Er sendet ihm auf seinen Reisen
0152werthvolle Handschriften und Porträts aus Italien, Frank-
0153reich und Deutschland; jeder Brief ein Document von
0154Mendelssohn’s unerschöpflicher Liebenswürdigkeit. Die Fuchs’sche
0155Autographen-Sammlung bleibt das oberste Leitmotiv dieser 
0156durch vierzehn Jahre fortlaufenden Correspondenz. Aber
0157nicht das einzige. Mit lebhaftestem Eifer erkundigt sich Mendels-
0158sohn, was an den neuen Beethoven’schen Sachen, von denen
0159man so viel spricht, Wahres oder Unwahres ist? Er hat von einer
0160nachgelassenen zehnten Symphonie gehört, dann von einer dritten
0161Ouvertüre zu „Fidelio“; Fuchs möchte um irgend einen
0162Preis ihm womöglich eine Abschrift davon besorgen. Daß
0163man noch im Jahre 1835 an eine nachgelassene zehnte Sym-
0164phonie von Beethoven geglaubt hat, klingt heute seltsam
0165genug. Von den Ouvertüren zu „Leonore“ (Fidelio) kannte
0166Mendelssohn zur Zeit nur zwei: die in C-dur mit dem
0167Trompetensolo (jetzt als Nr. 3 bekannt) und die vierte in
0168E-dur. Mit seiner Verehrung der Classiker geht bei Mendels-
0169sohn stets Hand in Hand das lebhafteste Interesse für neue
0170Schöpfungen. Er wünscht durch Fuchs die Orchesterstimmen
0171zu Lachner’s in Wien preisgekrönter E-moll-Symphonie 
0172noch im Laufe der Leipziger Concertsaison zu erhalten. Da hatte
0173sie auch das Glück, von Mendelssohn dirigirt — und
0174das Mißgeschick, von Schumann unbarmherzig kritisirt zu
0175werden. Endlich kommt auch einmal die Reihe an Mendels-
0176sohn „als Supplicant mit aufgehobenen Händen“ zu er-
0177scheinen. Fuchs möge ihm einen neuen Flügel von Conrad
0178Graf aussuchen und nach Berlin schicken. Das Instrument
0179— „eines der besten“ — soll Alles in Allem nicht über
0180300 Gulden kosten! Wie sind seitdem die Preise der besten
0181Wiener Pianos in die Höhe gegangen! Noch einen zweiten
0182Graf’schen Flügel bestellt er für sich nach Düsseldorf und
0183einen dritten als Hochzeitsgeschenk für seinen Bruder.


0184In seinen zahlreichen Briefen an Moscheles, F. David,
0185Hiller und Andere erhebt Mendelssohn häufig die Selbst-
0186anklage, er sei ein nachlässiger, fauler Briefschreiber. Wir
0187staunen im Gegentheil über die große Menge von ausführ-
0188lichen inhaltreichen Briefen, die von ihm gedruckt vorliegen.
0189Unbegreiflich wie die Fülle von Tondichtungen, welche
0190Mendelssohn in so kurzer Lebensdauer schuf, ist uns neben
0191seiner angestrengten Thätigkeit als Componist, Dirigent,
0192Lehrer, Virtuose, Organisator die Reichhaltigkeit seiner
0193Correspondenz. Und in all den zahlreichen Briefen von ihm
0194an die verschiedensten Menschen, aus den wechselndsten Lebens-
0195lagen — immer dieselbe unzerstörbare Liebenswürdigkeit,
0196dieselbe goldene Natürlichkeit und Anmuth, derselbe von dem
0197blühendsten Humor umrankte Ernst!


0198Heute, da zum fünfzigstenmale sein Todestag sich jährt,
0199kehrt unser Denken und Empfinden mit erhöhter Kraft zu
0200Mendelssohn zurück. Nur diesem Gefühle und persönlicher
0201Erinnerung gilt dieses Blatt; für eine kritische Würdigung
0202seiner Werke bietet es weder Raum noch Anlaß. Manche
0203Blumen und Sträucher aus seinem üppigen Garten mögen
0204an den Spitzen zu welken beginnen — welcher Componist
0205entginge nach so langen Jahren diesem Schicksal? Das ehe-
0206dem heißhungrige Genießen Mendelssohn’scher Musik hat
0207im Laufe von 70 Jahren Zeit gehabt, sich zu beruhigen,
0208seit der 16jährige Felix seine wundervolle Ouvertüre zum
0209Sommernachtstraum“ schrieb. Auch sind andere jüngere Com-
0210ponisten von glänzendem Talent ihm nachgefolgt und haben ihn
0211theilweise aus dem öffentlichen Musikleben zurückgedrängt.
0212Seine „Walpurgisnacht“, seine Symphonien in A-dur und
0213A-moll (Werke eines zweiundzwanzigjährigen Jünglings!),
0214seine Concert-Ouvertüren, endlich sein „Paulus“ und „Elias“
0215wirken trotzdem noch mit unversehrter Frische und Macht.
0216„Ewig“ ist ein leeres Wort für musikalische Schöpfungen
0217— aber auf sehr, sehr lange hinaus werden sie alle Freunde
0218edler, ernster Kunst erquicken und erheben. In neuerer Zeit
0219haben auch Elemente von Außen her sich gegen Mendelssohn 
0220gekehrt: die in Haß und Ueberhebung vereinigten Wagnerianer
0221und Antisemiten. Gönnen wir ihnen das traurige Geschäft.


0222Was uns Mendelssohn so verehrungswürdig und
0223liebenswerth macht, ist, neben seiner Kunst, sein persönlicher
0224Charakter. Ich darf hier ein meines Wissens noch
0225nirgends veröffentlichtes Schriftstück mittheilen, aus welchem
0226eine der schönsten Seiten von Mendelssohn’s Charakter
0227hell hervorleuchtet. Es ist ein Brief Mendelssohn’s an Herrn
0228Hermann Wittgenstein, in dessen Wiener Familie
0229Musikliebe und Musikverständniß fröhlich fortleben. Das
0230Schreiben handelt von dem zwölfjährigen Joseph
0231Joachim. Seine Tante, Frau Wittgenstein, hatte den
0232Knaben nach Leipzig zu Mendelssohn gebracht und seine
0233musikalische Ausbildung liebevoll gefördert. Mendelssohn [3]
0234schreibt aus London, 28. Mai 1844, an Herrn Wittgen-
0235stein folgenden Bericht über das erste dortige Concert des
0236jungen Virtuosen:


0237„Verehrter Herr! Ich kann’s nicht unterlassen, wenig-
0238stens mit einigen Worten Ihnen zu sagen, welch einen
0239unerhörten, beispiellosen Erfolg unser lieber Joseph gestern
0240Abends im Philharmonischen Concert durch seinen Vortrag
0241des Beethoven’schen Violin-Concertes gehabt hat. Ein Jubel
0242des ganzen Publicums, eine einstimmige Liebe und Hoch-
0243achtung aller Musiker, eine herzliche Zuneigung von Allen,
0244die an der Musik aufrichtig theilnehmen und die schönsten
0245Hoffnungen auf solch ein Talent bauen — das Alles sprach
0246sich am gestrigen Abend aus. Haben Sie Dank, daß Sie
0247und Ihre Gemalin die Ursache waren, diesen vortrefflichen
0248Knaben in unsere Gegend zu bringen; haben Sie Dank
0249für alle Freude, die er mir namentlich schon gemacht hat,
0250und erhalte ihn der Himmel nur in fester, guter Gesund-
0251heit, alles Andere, was wir für ihn wünschen, wird dann
0252nicht ausbleiben — oder vielmehr, es kann nicht ausbleiben,
0253denn er braucht nicht mehr ein trefflicher Künstler und ein
0254braver Mensch zu werden, er ist es schon so sicher, wie
0255es je ein Knabe seines Alters sein kann oder gewesen ist.


0256Die Aufregung, in die er schon in der Probe alle
0257Leute versetzt hatte, war so groß, daß ein rasender Applaus
0258anfing, sobald er gestern ins Orchester trat, und es dauerte
0259sehr lange, bis das Stück beginnen konnte. Dann spielte er
0260aber den Anfang so herrlich sicher und rein, und trotzdem
0261daß er ohne Noten spielte, mit solcher untadligen Festigkeit,
0262daß das Publicum ihn noch vor dem ersten großen Tutti
0263dreimal durch Applaudiren unterbrach und dann das
0264halbe Tutti durch applaudirte; ebenso unterbrachen sie ihn
0265einmal mitten in seiner Cadenz, und nach dem ersten Stücke
0266hörte der Lärm eben nur auf, weil er einmal aufhören
0267mußte und weil den Leuten die Hände vom Klatschen und
0268die Kehlen vom Schreien weh thun mußten. Es war eine
0269große Freude, das mit anzusehen, und dabei des Knaben
0270ruhige und feste, durch nichts angefochtene Bescheidenheit.
0271Er sagte mir nach dem ersten Stück leise: „Ich habe doch
0272eigentlich sehr große Augst.“ Der Jubel des Publicums 
0273begleitete jede einzelne Stelle das ganze Concert hindurch; als
0274es aus war und ich ihn schon die Treppe hinuntergebracht
0275hatte, mußte ich ihn noch einmal wieder holen, daß er noch
0276einmal sich bedankte, und auch dann dauerte der donnernde
0277Lärm noch, bis er lange wieder die Treppe herunter und
0278aus dem Saal war. Ein Erfolg, wie der anerkannteste,
0279berühmteste Künstler ihn nie besser wünschen und besser
0280haben kann!


0281Der Hauptzweck, der bei einem ersten englischen Auf-
0282enthalt nach meiner Meinung zu erreichen war, ist hiedurch
0283aufs vollständigste erreicht: Alles, was sich hier für Musik
0284interessirt, ist ihm Freund und wird seiner eingedenk
0285bleiben. Nun wünsche ich, was Sie wissen: daß er bald zu
0286vollkommener Ruhe und gänzlicher Abgeschiedenheit vom
0287äußerlichen Treiben zurückkehre, daß er die nächsten zwei
0288bis drei Jahre nur dazu anwende, sein Inneres in jeder
0289Beziehung zu bilden, sich dabei in allen Fächern seiner Kunst
0290zu üben, in denen es ihm noch fehlt, ohne das zu vernach-
0291lässigen, was er schon erreicht hat, fleißig zu componiren,
0292noch fleißiger spazieren zu gehen und für seine körperliche
0293Entwicklung zu sorgen, um dann in drei Jahren ein so
0294gesunder Jüngling an Körper und Geist zu sein, wie er
0295jetzt ein Knabe ist. Ohne vollkommene Ruhe halte ich das
0296für unmöglich; möge sie ihm vergönnt sein zu allem Guten,
0297was der Himmel ihm schon gab.


0298An Ihre Frau Gemalin ist der Brief mitgerichtet;
0299also nur noch ein kurzes Lebewohl von Ihrem ergebensten
0300Felix Mendelssohn-Bartholdy.“


0301Ist es nicht rührend, daß Mendelssohn, der in London 
0302von Früh bis in die Nacht vollauf Beschäftigte, sich gleich
0303am nächsten Morgen hinsetzt, um die Angehörigen Joachim’s
0304mit diesem Berichte zu erfreuen? Ferdinand Hiller hat
0305Recht, wenn er Mendelssohn „eine Lichtgestalt“ nennt und
0306hinzufügt: „Wäre es denkbar, daß alle seine Werke der
0307Vernichtung anheimfielen, so würde die Erinnerung an seine
0308poetische Gestalt allein hinreichen, um dem deutschen Volke
0309eine hohe Befriedigung zu gewähren in der Anschauung, daß
0310eine solche Persönlichkeit aus seiner Mitte geboren wurde,
0311blühte und reiste.“

Fußnoten
  • *)Die Gesellschaftsconcerte brachten die „Walpurgisnacht“ erst
    1845, „Athalia“ 1849; die A-moll-Symphonie gar erst im Jahre
    1851 und die Musik zum „Sommernachtstraum“ 1852!
  • **)„Suite“, Aufsätze über Musik und Musiker. — „Deutsche
    Rundschau“ 1889. Erstes Heft.